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Ravenwood, Virginia,
United States of America, Sol III
1923 EDT, 10. Oktober 2009
»Mörser, ich hätte gern ein paar Schuss auf die andere Seite dieser Brücke, die wir gerade passiert haben.«
So viel zum Thema Protokoll, dachte Keren, der auf dem Rücksitz des beschlagnahmten Suburban hin und her geschüttelt wurde.
Militärgerät führt sein eigenes Leben. Die Truppe gibt jedes Jahr Milliarden von Dollar aus, nicht etwa um neues Gerät einzukaufen, sondern um bereits in ihrem Besitz befindliches Gerät instand zu halten. Am schlimmsten muss das, abgesehen von Hubschraubern, bei gepanzerten Kampffahrzeugen sein. Sie bestehen aus Tausenden von beweglichen Teilen, von denen, wie es scheint, keines über gekapselte Lager verfügt. Die Ketten eines Kampfpanzers halten bloß ein paar hundert Meilen, den Bruchteil der Lebensdauer eines Reifens, dafür sind sie tausend Mal so teuer. Wartung ist da nicht etwa zufällig erforderlich, sondern wirklich lebensnotwendig.
Unglücklicherweise hatten sich die für die Verteidigung des nördlichen Virginia eingesetzten Divisionen erst bei der Landung der Posleen zusammengefunden. Von Ausbildung konnte da in einem so kurzen Zeitraum kaum die Rede sein. Und das Thema Wartung war schlicht unbekannt.
Von den vier gepanzerten Mörserträgern, die das Platoon zu Anfang der Kampfhandlungen besessen hatte, waren nur noch zwei übrig. Zuerst hatte das Fahrzeug mit dem Feuerleitstand den Geist aufgegeben, ein ausgefallenes Kettenlager, als sie noch keine fünf Meilen zurückgelegt hatten. Kurz darauf war das Fahrzeug des Dreier-Mörsers zerstört worden, ein Opfer ihrer eigenen kurzen Begegnung mit den Posleen.
Die Feuerleitstelle hatte man auf das Fahrzeug von Mörser Zwei gepackt, das nicht zuletzt dank Kerens Bemühungen vor dem Gefecht noch recht gut gelaufen war, bis sie dann am Prince William Parkway den Diesel Suburban gefunden hatten. Der Offroader war nur wegen Treibstoffmangels ausgefallen, und das ließ sich mit ein paar Kanistern Militärdieseltreibstoff leicht beheben.
Aber Hunderte anderer Kettenfahrzeuge hatten nicht überlebt, und die Soldaten dieser Bradleys und M-113 marschierten jetzt so schnell sie konnten an der Straße entlang und gaben sich alle Mühe, der heranrückenden Posleen-Horde zu entkommen. Beide Fahrzeuge waren mit Soldaten beladen, und in dem Suburban waren um Keren herum Verwundete untergebracht.
Aber seit er das letzte Mal Feuer angefordert hatte, ging ihm das Problem mit eigenem Feuer nicht aus dem Kopf. Er sah zum Fenster hinaus. Wenn schon hier so viele Soldaten zu Fuß unterwegs waren, wie mussten da erst die Straßen weiter hinten aussehen!
»Boss, sind irgendwelche von den Unseren in der Gegend, Ende?«
Der Führer ihres Mörserplatoons war der letzte Offizier des Bataillons und hatte den Befehl über sämtliche Fahrzeuge, die er finden konnte, an sich gezogen. Ein paar davon waren ausgefallen, andere hatten mechanische Probleme gehabt und waren liegen geblieben, aber sieben und etwa die Hälfte ihrer Mannschaften waren noch übrig, und der Lieutenant hatte unterwegs Ersatzpersonal aufgenommen. Das ging einfach so: Wenn du bereit bist zu kämpfen, nehmen wir dich mit. Wenn nicht, dann kannst du auch zu Fuß gehen. Nachdem die letzte Einheit der Neunzehnten Division vernichtet war, führte die zusammengekratzte Einheit den ganzen Nachmittag praktisch alleine ein Rückzugsgefecht und füllte gleichzeitig seine sämtlichen Ausfälle aus. An »Hündchen« Leper hatte sich eine grundlegende Änderung vollzogen.
»Nicht mehr. Die Pioniere haben gerade die Brücke mit den letzten Nachzüglern in die Luft gejagt. Die Gäule drängen sich auf der anderen Seite zusammen. Gib Ihnen Zunder, Keren, zehn Schuss pro Rohr, und dann zurück.«
»Roger.« Er hielt an, kletterte auf den Sitz und winkte durch das Schiebedach den Panzern auf beiden Seiten zu. »Feuereinsatz, aus der Hüfte schießen!« Dabei entdeckte er im Wald, ein Stückchen zurück, einen Humvee mit einem Soldaten, der an der Motorhaube lehnte. Na schön, wenn der Blödmann nicht weiß, wie man davonrennt, dann ist das sein Problem.
Arkady Simosin sah stumm zu, wie die letzte Einheit die Davis Ford-Brücke überquerte. Wer auch immer die Leute waren, sie hatten ein klasse Rückzugsgefecht geliefert, nachdem der Rest der Nineteenth Armored erledigt gewesen war. »Der letzte Angriff« würde wahrscheinlich in dem Durcheinander vergessen werden, aber die letzte Kompanie der Panzereinheit hatte eine Flankenbewegung der Posleen zerschlagen, die sonst wahrscheinlich die Hälfte der Überlebenden des Korps abgeschnitten hätte. Es war ein heroischer und am Ende selbstmörderischer Kampf gewesen.
Er war zu dem Schluss gelangt, dass militärische Katastrophen nach gewissen vorbereiteten Drehbüchern verlaufen. Es gibt immer reichlich Warnung vor der Gefahr. Es gibt auch kritische Augenblicke, selbst nachdem die Katastrophe klar erkannt ist, wo man die Lage mit den richtigen Befehlen und Maßnahmen noch retten kann. Und im Nachhinein gibt es immer eine reaktionäre politische Reaktion.
In Anbetracht der Geschwindigkeit, mit der Informationen verbreitet und Entscheidungen getroffen wurden, sah es so aus, als würde diese Reaktion nicht einmal mehr abwarten, bis die Schlacht zu Ende war. Er blickte erneut auf die dürren Worte der Anweisung, den Befehl an seinen Stabschef zu übergeben und sich im Hauptquartier der First Army in New York zu melden. Anschließend war in der E-Mail noch zu lesen, dass Ersatz unterwegs war. Er kannte den General, ein alter Kumpel von General Olds; Olds hätte besser daran getan, das Kommando wenigstens seinem Stellvertreter zu lassen.
So endet also eine Karriere von dreißig Jahren, dachte er. Aber immerhin besser als die armen Schweine, die den Hexenjagden in den neunziger Jahren zum Opfer fielen, als Political Correctness das Gebot der Stunde war.
Er zerknüllte das Papier und ließ es zu Boden fallen, das Schlachtfeld war ohnehin schon mit genügend Unrat übersät. Dann drehte er sich um und kletterte in den Humvee, als die ersten Mörserschüsse dröhnten.