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Fredericksburg, Virginia,
United States of America, Sol III
0524 EDT, 10. Oktober 2009
»Major, die haben die Hindernisse an der Sunken Road hinter sich gebracht«, sagte der zivile Meldeläufer, ein kräftig gebauter Footballtyp mit Blasen an den Händen, dem das Blut aus einer Kopfwunde über das schweißüberströmte Gesicht rann.
Major Witherspoon sah auf die Toten und Verwundeten, die überall in der presbyterianischen Kirche aufgestapelt waren. Die Toten kühlten im ungeheizten Vorraum schnell ab, während die Sanitäter noch sinnlos bemüht waren, die Verwundeten zusammenzuflicken. Dann blickte er durch die zerbrochenen Fenster nach Westen hinaus. Man konnte dort die unaufhaltsame Flut der Zentauren sehen, die sich durch demolierte Trucks und Personenwagen an der Williams und Washington vorarbeiteten. Ein umgekippter Benzintransporter – von seinem Fahrer in eine Selbstmordbombe umfunktioniert – tauchte das Bild in bösartiges, rötliches Licht.
»Herrgott«, schmunzelte er, »macht wirklich Spaß, wenn alles nach Plan läuft. Okay«, fuhr er dann fort und wandte sich dem Meldeläufer zu, der inzwischen zum erprobten Veteranen geworden war, »sagen Sie dem Ersten Platoon und der Miliz, sie sollen sich Richtung Süden zurückziehen. Wir wollen nicht, dass die ihr Feuer auf das Sicherheitsamt richten. Sagen Sie denen, dass ich es ihnen freistelle, was sie machen wollen, sie sollen bloß nicht zwischen die Posleen und den Verwaltungsbau kommen. Dieselbe allgemeine Anweisung an das Zweite und Dritte, aber sagen Sie ihnen auch, dass sie sich unbedingt zurückziehen sollen.«
»Yes, Sir.« Im Gesicht des Meldeläufers mischten sich jetzt Blut und Tränen. »Ich wünschte, wir könnten mehr tun.«
»Nein, wenn man sein Bestes gibt, kann man einfach nicht mehr tun, Junge. Wir haben die Gäule die ganze Nacht durch aufgehalten; länger als die Expedition auf Diess. Bedauern sollte man nur dann, wenn man nicht sein Bestes gegeben hat.«
»Yes, Sir.«
»Viel Glück.«
»Yes, Sir.« Dann hob Ted Kendall sein AIW auf und trottete in die Finsternis davon.
»Ma’am«, sagte Colonel Robertson und reichte der letzten Mutter, die den Bunker betrat, ein Bündel. »Ich möchte Sie bitten, das hier mitzunehmen. Wenn Sie an Ihren Platz kommen, legen Sie es einfach hin und hantieren Sie nicht daran herum. Das Bündel enthält eine Sprengladung für den Fall, dass die Posleen versuchen es zu öffnen, aber wenn die losgeht, passiert niemandem etwas, bloß der Inhalt wird zerstört.«
Shari musterte das Bündel mit fragendem Blick und überlegte, wie sie damit zurande kommen sollte, wo sie doch auch Kelly tragen musste.
»Ich trage es mit ihr hinein, Sir«, sagte der Feuerwehrmann, der Billy trug. »Und sorge dafür, dass es an einen sicheren Ort kommt.«
»Es ist ein Bericht über unseren Verteidigungskampf und die Farben der Einheit. Sie wissen schon, die Fahne.«
Der Feuerwehrmann nickte, und seine Augen wurden feucht. »Yes, Sir.«
Shari nickte ebenfalls und zitierte eine Textstelle aus der Nationalhymne: »›At the twilight’s last gleaming‹, stimmt’s?«
»…›Im letzten Schein des Zwielichts‹… Das klingt seltsam …«
»Nein, das tut es nicht.« Sie deutete mit einer Kinnbewegung auf die Schlange, die sich in den Bunker hineinschob. »Wo sonst könnte das hier geschehen?«
»Nun«, sagte Colonel Robertson und griff nach seiner Waffe, »Sie sollten da jetzt besser reingehen.« Er sah sich über die Schulter um, wo im Westen plötzlich ein heller Feuerschein aufflammte. »Jetzt dauert es nicht mehr lange.«
Shari hastete so gut es ging die steile Treppe hinunter. Die Stufen waren aus geripptem Stahl, aber so viele Füße waren darüber gegangen, dass sie jetzt mit Schmutz und Schlamm bedeckt und deshalb glitschig waren.
Sie passierte die erste Etage, wo die Pioniere und ihre zivilen Helfer dabei waren, die letzten Stahlplatten anzuschweißen, und erreichte schließlich die schlammige untere Etage. Die Betonwände des Bunkerraums waren mit Kondenswasser vom Atem der dicht gedrängten Menschen bedeckt, die Tropfen funkelten hell im Schein der Bogenlampen.
Eine Feuerwehrfrau nahm ihr das schlafende Baby weg und duckte sich durch eine niedrige Öffnung. Auf beiden Seiten arbeiteten die Pioniere in fieberhafter Eile, um die über der Öffnung angebrachten Abdeckungen zu verstärken. Shari folgte der Feuerwehrfrau aus dem lärmerfüllten Raum in das Gewölbe dahinter.
An der linken Wand hatte man eine Reihe von Öffnungen geschlossen, vermutlich die Auslässe der Pumpen. Der Betonkeller wirkte wie eine Grabkammer, und die Frauen und Kinder, die bereits ihre Hiberzine-Injektionen erhalten hatten, sahen im grellen Licht der Kopfscheinwerfer der Sanitäter aus wie Leichen. Sie waren überall in dem langen, niedrigen Raum aufgestapelt, die Kinder so gut es ging oben, aber sonst ohne besondere Ordnung. Die schlaffen Glieder, die herunterhängenden Kinnladen und die glasig starrenden Augen ließen Shari kurz zurückzucken, aber der Feuerwehrmann an der Tür war bereits mit dieser Reaktion vertraut und zog sie sanft, aber entschieden herein.
»Die schlafen bloß, ich verspreche es«, sagte er mit einer automatenhaften Grimasse, die er vermutlich für ein Lächeln hielt. »Die sehen wegen dieses Hiberzine so aus.«
Shari wich zur Seite aus, zog Susie zu sich heran und sah sich mit geweiteten Augen in dem an eine Grabkammer erinnernden Raum um.
»Sie können ihnen ja den Puls fühlen, wenn Sie wollen«, sagte der Feuerwehrmann, der Billy getragen hatte.
Sie beugte sich vor und betastete den Hals der Frau neben ihr, diese war um die vierzig und gut gekleidet, so als würde sie in einer Bank arbeiten. Nach einem langen, angsterfüllten Augenblick, in dem die Halsvene der Frau schlaff blieb, war ein einziger, langsamer Puls zu spüren, dann wieder nichts.
»Es funktioniert schon«, sagte die Feuerwehrfrau, die ihr voranging. Sie zog mit sanfter Hand die sich wehrende Susie weg und versetzte sie mit einer eleganten Bewegung in Schlaf; inzwischen ging das so automatisch wie das Atmen. »Seien Sie froh.«
»Carrie«, sagte der Feuerwehrmann an der Tür und breitete die Arme aus.
Die Feuerwehrfrau schlang die Arme um ihn und schlug ihm auf den Rücken. »Tut mir Leid, Mann.«
»Hey, sieh zu, dass du noch viele gute Babys machst, okay?«
»Yeah. Mach’s gut.«
Der Feuerwehrmann schob sich geduckt durch die niedrige Öffnung nach draußen und war verschwunden.
Carrie wiederholte ihre Pantomime mit dem zweiten Feuerwehrmann, dann stemmte ein Zivilist, der einen Schutzhelm trug, eine Stahlplatte hoch und fixierte sie mit einem letzten bösartigen Strahl aus seinem Schweißbrenner: Danach waren die beiden Frauen inmitten der aufgestapelten Körper allein.
»Nun«, meinte die Feuerwehrfrau, »sieht so aus, als ob Sie das große Los gezogen hätten.«
»Was?«, sagte Shari und suchte eine Stelle, um sich hinzulegen, wo nicht schon irgendein Körperteil lag.
»Die haben entschieden, dass auf jeder Etage ein paar Leute wach bleiben müssen. Sie sind die Letzte, die reingekommen ist, und ich habe irgendwo dort hinten eine Zehnjährige.« Sie deutete auf den hinteren Bereich des Körperstapels. »Also werden wir beide das Vergnügen haben, zu sehen, wer uns als Erster findet.« Auf der anderen Seite der Wand kündigte ein Geräusch, so wie wenn Regen auf ein Dach prasselt, an, dass die erste Ladung Erde und Bauschutt, die sie lebendig begraben würde, herunterkam.
Als von hinter dem Hügel mit der Befehlsstellung der Pioniere ein Feuerstoß kam, wurde Wendy bewusst, was Tommy da halblaut pfiff. Sie erkannte die Melodie eines der aktuellen Pophits. Die Sängerin erlebte angeblich gerade eine Midlife-Krise, und in dem Lied ging es um ihre Beziehung mit einem Mann, der jung genug war, um ihr Sohn zu sein.
Die Sängerin gehörte nicht zu den vielen exhibitionistischen Vertreterinnen ihrer Gruppe, und deshalb war der Text subtil und mehrdeutig. Aber der Inhalt des Liedes war trotzdem klar.
»Denkt ihr Jungs eigentlich nie an was anderes?«, fragte sie der Verzweiflung nahe.
»Vor endlosen Zeiten hat man darüber einmal eine Studie verfasst«, antwortete Tommy ruhig und blickte immer noch zu dem Hügel hinüber, »und da haben die Psychologen festgestellt, dass ein sechzehnjähriger Junge im Durchschnitt alle fünfzehn Sekunden an Sex denkt. Und dann gibt es da einen alten Witz über zwei Jungs, die das hören und sich fragen, woran er eigentlich die anderen vierzehn Sekunden denken soll.«
Wendys einzige Reaktion war ein leicht angewidertes Schnauben.
»Außerdem«, fuhr er fort, »gibt es eine ganz enge Verbindung zwischen Gewalt und Sex, zumindest bei Männern. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen werden ähnliche Endorphine und Hormone wie beim Sex ausgeschüttet, beide benutzen dieselben Gehirnzonen, und gewöhnlich löst eines das andere aus. Jetzt sag bloß, dass du heute nicht mehr als normal an Sex denkst.«
»Okay.« Sie überlegte, »Du hast Recht. Warum also?«
»Ich weiß nicht, wahrscheinlich gibt es eine Menge Theorien darüber. Die Darwinisten sagen, das sei eine Überlebensreaktion, die Philosophen nennen es eine Gegenreaktion auf den Tod. Ein Witz von Mutter Natur. Kannst es dir aussuchen.« Eine weitere Salve polterte über sie hinweg. »Scheiße, ich wollte, wir könnten Verbindung mit diesem Schlachtschiff aufnehmen.«
»Warum?«
»Dann könnten wir ihr Feuer näher heranlenken und wirklich dafür sorgen, dass die Posleen langsamer vorankommen.« Plötzlich waren in schneller Folge mehrere gewaltige Überschallknalle zu hören. Der ganze Raum zitterte, und Verputz fiel von der beschädigten Decke, als in der Ferne Knallfrösche detonierten, während sich der Himmel von den unter gewaltigen Explosionen detonierenden Flugzeugen rot färbte.
»Ich glaube, die Jäger sind wieder da«, sagte Wendy und wischte sich Verputzstücke aus dem Haar.
»Peregrine-Staffel, Peregrine-Staffel, hier Tango Fünf, Uniform Acht-Zwei, Ende.«
»Tigershark Fünf, Uniform, bitte kommen«, keuchte Captain Jones, als sein Jäger im Endanflug über den Rappahanock schoss. »Bodenkontrolle hört zu.«
»Peregrine Staffel. Werft alles, was ihr habt, auf die Kreuzung Williams Street/Kenmore ab, wiederhole, Williams und Kenmore, Ende.«
»Roger, verstanden, Uniform.« Jones riskierte einen schnellen Blick auf seine Terrainkarte, konnte aber die genannte Kreuzung nicht finden. »Das muss für Showboat sein, wir sind heiß auf die Kreuzung.«
»Roger, Peregrine, viel Glück …«
»Shark Fünf.«
Glück würde bei diesem Einsatz keine Rolle spielen, wenn Jefferson Washington Jones etwas dazu zu sagen hatte. Er mochte ja mit der High School erst fertig geworden sein, als die meisten anderen Piloten bereits das College absolvierten, dafür hatte er ihnen aber Jahre der Erfahrung in den schlimmsten Höllenkesseln der Welt voraus. Und in der Zeit hatte er gelernt, dass es nur selten so etwas wie eine aussichtslose Lage gab. Manchmal musste man sich wirklich anstrengen, aber er war noch nie in einer Situation gewesen, aus der er sich nicht irgendwie einen Ausweg hatte ausdenken können. Und die hier war da keine Ausnahme.
Die Flugbahnen, die man in die Computer der Peregrines geladen hatte, hatten alle die Kreuzung der I-95/VA 3 gemeinsam, setzten sich von dort aber zu verschiedenen anderen Positionen fort, so als ob alle in der Staffel überleben würden. Als der Einsatz geändert und ein Download der Flugbahnen vorgenommen worden war, hatte er sich sofort darangemacht, sie neu zu programmieren.
Seine Flugbahn führte ihn zwar immer noch über die Posleen-Positionen an der Interstate, aber anschließend hatte er die Terrainverfolgung deaktiviert und folgte stattdessen einem manuellen Profil, das viel näher an dem auf der Karte verzeichneten Terrain verlief. Solange es keine unerwarteten Hindernisse gab, würde das Flugzeug wahrscheinlich nicht gegen den Boden prallen, und der neue Flugpfad hatte wesentlich weniger Sichtwinkel als der Standardkurs.
Dem Computer passte das freilich überhaupt nicht.
»Finale Flugbahn eingeschaltet«, zirpte die Stimme aus dem Cockpit. Die sexy klingende Altstimme war auf sämtlichen Maschinen der Rapier-Reihe Standard. »Endkurs erfordert Kommandoeingriff.«
»Eingriff.« Für den Computer mochte es wie Selbstmord aussehen, aber aus genau diesem Grund saß ja ein Mensch im Cockpit.
»Bestätige Flugbahndaten. Dreimal SET drücken.«
Das tat er.
»Letzte Warnung, finale Flugbahn eingegeben. Selbstmord ist eine permanente Lösung für eine temporäre Situation. Sind Sie sicher, dass Sie diese Flugbahn wollen? Drücken Sie dreimal SET wenn ja, andernfalls drücken Sie CANCEL.«
Er drückte wiederholt dreimal die SET-Taste. Da das Cockpitsystem so programmiert war, dass ihm das letzte Wort blieb, ließ es ihm seine Entscheidung durchgehen.
»Als ob das nicht ohnehin schon ein Selbstmordeinsatz wäre.«
Er überflog das Gelände mit den alten Papierfabriken und drückte auf seinem Joystick den Knopf für Bombenabwurf. Das System war so eingestellt, dass es seine Bomben am Abwurfpunkt abwarf, solange der Finger auf dem Drücker blieb, er brauchte also nur festzuhalten und zu beten. Sein Peregrine donnerte über das Mary-Washington-Krankenhaus, und ein kurzer Gedanke galt den Patienten dort, während Laser und Plasmakanonen zu beiden Seiten nach ihm suchten und sich erst abschütteln ließen, als er in Tiefflug ging. Als er die Kreuzung erreichte, fiel ihm plötzlich ein, dass er vergessen hatte, für die Bäume zu kompensieren.
Der massiv gebaute Tarnkappenjäger überlebte den Ruck, als er mit der Rumpfunterseite die letzten paar Eichenwipfel kappte, die die Kreuzung umgaben, und sackte dann in freies Gelände durch. Rings um ihn, so weit er in der seltsamen Mischung aus Mondlicht und den überall flackernden Feuern sehen konnte, wogte das Land von verwundeten und toten Posleen.
Die Zentaurenleiber waren ein Teppich aus Toten und Sterbenden und tränkten den Boden mit ihrem Blut. Tausende, Zehntausende Zentauren hatten Lichtjahre zurückgelegt, nur um eine letzte Ruhestätte unter dem Hammer von 16-Zoll-Ge-schützen zu finden.
»HOOOOOWAH!«, schrie Kerman über die Staffelfrequenz, als die anderen Piloten den Anblick des Gemetzels bejubelten, das die Kanonen des Schlachtschiffs angerichtet hatten.
Jones’ Jäger kippte sofort, so wie sein Pilot das einprogrammiert hatte, nach Norden ab. Als seine Flügelspitze nur wenige Zoll über Massen von Zentaurenfleisch hinfegte, klappte sein Waffenschacht auf und setzte eine völlig unnötige CBU-52 ab. Die Clusterbombe öffnete sich beinahe unmittelbar und verstreute weitere zweihundert Bomblets über die dezimierten Posleen.
Als seine Maschine eine programmierte Folge von Ausweichmanövern vollführte, konnte Jones im Süden weitere Blitze sehen, die ihm verrieten, dass einige Staffelkollegen weniger glücklich als er waren. Endlich passierte er den Baumbestand an der Nordostseite der Kreuzung – verfolgt von einem letzten bösartigen Feuerstoß einer Laserkanone – und kehrte wieder in Terrainfolgemodus zurück. Jetzt brauchte er bloß noch die unbekannten Gefahren zu überleben, die zwischen hier und Manassas drohten, dann hatte er es geschafft. Bis zum nächsten Einsatz.