55
Pentagon, Virginia,
United States of America, Sol III
0424 EDT, 11. Oktober 2009
Jack Homer starrte die Landkarte auf dem großen Bildschirm an und fragte sich, was er jetzt eigentlich machen sollte. Die Straßen, die aus dem Kessel von Arlington herausführten, waren mit Flüchtlingen voll gestopft. Das Wendemanöver des Korps hatte den ganzen Evakuierungsplan durcheinander gebracht, und es würde noch eine Weile dauern, bis alles wieder richtig lief. Obwohl die Fernstraßen inzwischen von allen liegen gebliebenen Fahrzeugen geräumt worden waren, hatte sich auf den Nebenstraßen alles so ineinander verkeilt, dass praktisch niemand mehr vorankam.
Die meisten zu Evakuierenden waren in Panik geraten, als das Zehnte Korps vernichtet worden war. Sie begriffen nicht, dass die Posleen viele Stunden brauchen würden, um den Occoquan-Stausee zu umgehen, und dass da auch noch das Neunte Korps war, um sie daran zu hindern. Quantico – das dem Korps, das dort einmal zu Hause gewesen war, zur Grabstätte geworden war – war keine halbe Stunde von Arlington entfernt. Der zum Erliegen gekommene Verkehr hatte viele dazu veranlasst, einfach aus ihren Fahrzeugen zu steigen und zu Fuß weiter zu gehen.
Und diese Fahrzeuge stellten jetzt ein unbewegliches Hindernis dar. Die meisten Flüchtlinge hatten zu Fuß die Interstates erreicht, wo Busse sie aufgenommen hatten. Aber viele waren ziel- und planlos auf Nebenstraßen in nördlicher Richtung unterwegs und nahmen an, die Posleen seien ihnen auf den Fersen. Jene Verirrten würden schließlich die Potomac-Brücken und damit eine sichere Zuflucht erreichen. Aber viele würden auf der falschen Seite festsitzen. Zu viele. Im Augenblick rechnete man mit Hunderttausenden.
Normalerweise – wenn dies ein Manöver gewesen wäre – hätte er jetzt fliegende Panzerkolonnen hineingeschickt, mit dem Ziel, den Vormarsch der Posleen zu verlangsamen und sie in die Irre zu führen, und unterdessen hätte Militärpolizei, unterstützt von leichten Panzerverbänden, die Flüchtlinge zusammengeholt und teilweise aufgenommen.
Unglücklicherweise wäre diese Aufgabe entweder dem Zehnten Korps zugefallen, das es nicht mehr gab, oder dem Neunten, das schnell dahinschmolz.
Ein Teil des Achten Korps, die Einhundertfünfte Infanteriedivision, war im Norden der Hauptstadt eingetroffen, aber weit verstreut. Sie würden eine Weile brauchen – eine ganze Weile sogar, falls man aus der unmittelbaren Vergangenheit Lehren ziehen konnte –, bis sie sämtliche Panzer von ihren Transportfahrzeugen heruntergeholt und die Einheiten in Formation gebracht hatten. Und der Gedanke, diese Truppen als fliegende Kolonnen einzusetzen, war ein Witz. Vor drei Monaten hatte er eine ganze MP-Brigade aus Fort Bragg nach Fort Dix geschickt, um eine Meuterei ebendieser Einheit zu ersticken. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie einfach nach New Jersey zurückkehrten, war etwa ebenso groß wie die, dass sie sich zwischen die Posleen und die Zivilisten warfen.
Und dann waren da die Landungen. In den letzten vierundzwanzig Stunden waren vierzehn G-Deks aus dem Hyperraum ausgetreten. Vier waren von den noch verbliebenen Fregatten und Jägern total vernichtet worden. Aber der Preis dafür waren drei Fregatten gewesen.
Die planetarischen Verteidigungszentren steckten immer noch in der Klemme. Ihre Aufgabe bestand darin, die Landungsoperationen zu verhindern, aber diese Funktion konnten sie nicht erfüllen und wurden deshalb in Reserve gehalten, um stattdessen Starts der Landungsschiffe zu verhindern. Trotzdem hatte Europa zwölf seiner insgesamt zwanzig PVZ verloren. China acht. Und Amerika vier.
Aber die Landungen erfolgten überall. Eine hatte sogar in Phoenix stattgefunden, man stelle sich vor! Und da ständig mehr Posleen auftauchten, weiß der Himmel woher, konnte er aus keiner Region die örtlichen Verteidigungsstreitkräfte abziehen. Aber von irgendwoher brauchte er Truppen. Er wusste, dass Landkarten und Grafiken nicht die ganze Wirklichkeit waren, aber etwas anderes stand ihm nicht zur Verfügung. Die Grafik, die die Kampfstärke des Neunten Korps anzeigte, ging herunter wie ein Wasserfall, als immer mehr Posleen in die Lücke zwischen Lake Jackson und dem Occoquan stürmten. Das Icon der Zweiten von der Fünffünfundfünfzig stand fast unmittelbar über dem Sammelgebiet hinter Lake Jackson, aber in diesem Stadium waren die Posleen nicht einmal mit einem Flankenangriff aufzuhalten. Zum Teufel, ein solcher Angriff würde sie vielleicht sogar in die falsche Richtung locken. Bis jetzt hatten sie das noch nicht versucht.
In Indiantown Gap war nur eine einzige mobile Einheit übrig, und das war der Arlington am nächsten liegende Stützpunkt, der noch nicht geräumt worden war. Harrisburg verfügte über eine Brigade der Achtundzwanzigsten Motorisierten zur Verteidigung des Areals. Also. Zeit, ganz unten in der Schublade zu kramen und ein paar Leute aus ihren Verstecken zu holen.
Das sanfte Schaukeln des Fünftonners im dichten Verkehr auf der Interstate ging einem auf die Nerven, lullte einen aber zugleich auch ein. Aber Michael strebte dem fernen Geschützdonner zu, so schnell er konnte.
Jedes Mal, wenn eine Einheit anhielt, um Rast zu machen oder der Truck, auf dem er sich befand, einen Defekt hatte, nahm er sich ein anderes Fahrzeug. Gewöhnlich sorgte allein schon die Flottenuniform dafür, dass man ihn mitnahm. Einmal hatte sein Name ihm geholfen. Ein anderes Mal hatte er eine höhere Befehlsebene einschalten müssen. Aber es ging recht langsam. Er machte sich keine Sorgen, dass die Posleen nicht mehr da sein würden; die würden zumindest noch wochenlang das Land unsicher machen. Seine Sorge war vielmehr, dass man die Kompanie unter der Führung Nightingales ins Gefecht schicken würde. Und das war für ihn ein Albtraum.
So kam es, dass er fast eingeschlafen war, als sein AID zirpte.
»Anruf von General Horner.«
Mike seufzte und machte sich nicht die Mühe, die Augen zu öffnen. »Annehmen.«
»Mike?«
»General.«
Eine kurze Pause. »Wir haben es versucht.«
»Ich weiß.«
Wieder eine Pause. »Wir haben ein Problem …«
»Flüchtlinge.«
»Ja«, seufzte der General.
Jetzt schlug Mike die Augen auf. Inzwischen konnte das AID praktisch seine Gedanken lesen, und deshalb erschien plötzlich auf der Ladebrücke des Lasters ein Hologramm der Gefechtszone. Diejenigen Soldaten, die wach waren, sahen einander voll Unbehagen an. Plötzlich, ohne einen Befehl des Offiziers von Fleet Strike, schwebte auf der abgedunkelten Ladebrücke des LKWs ein Hologramm der Gefechtslage in den östlichen Vereinigten Staaten. Die Lichter des hinter ihnen dahin rollenden LKWs überlagerten es teilweise, aber das AID polarisierte die Fläche sofort und erzeugte eine Schattenzone.
Das AID war für die meisten immer noch etwa ebenso geheimnisvoll wie ein Radio für einen Aborigine und auch ebenso fremdartig. Und so gut die Soldaten auch oberflächlich ausgebildet waren – die Technik war für sie immer noch verblüffend.
Das AID skizzierte wahrscheinliche Bewegungsgeschwindigkeiten für die verstreuten Flüchtlinge in Arlington und anschließend die Zeit, die die Posleen brauchen würden, um sie zu erreichen, vorausgesetzt, das Neunte Korps hielt so lange durch wie erwartet. Dann skizzierte es die bestmögliche Verlegungszeit für das MI-Bataillon. Die drei Farbsäulen schnitten sich nicht.
»Wir werden zu spät kommen«, sagte Mike leise. Alle rechneten damit, dass im letzten Augenblick die Kavallerie mit flatternden, gelben Wimpeln angeprescht kam. Nun, diesmal war die Kavallerie einfach zu weit entfernt und in alle vier Himmelsrichtungen verstreut. Nach all seinen sorgfältigen Vorbereitungen – zu spät, zu wenig!
»Ich befehle trotzdem die Verlegung. Mein Gefühl sagt mir, dass der schlimmste Punkt in der Gegend der Brücke die Fourteen’th Street sein wird.«
»Mhm«, nickte Mike, »Das macht Sinn. Das ist fast die letzte auf der Reihe, die nach Osten führt, dazu ein Engpunkt und alle wissen, wo sie ist.« Man konnte die Brücke vom Arlingtoner Friedhof aus sehen, sie führte direkt zum Lincoln Memorial.
»Ja. Ich rechne damit, dass es dort, sobald die Flüchtlinge Feindkontakt haben, zur größten Stauung kommt. Und die Dritte Infanterie hat vor, die Südseite so lange es geht zu halten.«
»Lassen Sie mich raten.«
»Ja, richtig, der CO hat mehr oder weniger gesagt, dass die Posleen Arlington Heights nur über seine Leiche kriegen.«
»Und das hat er wörtlich gemeint.« Die alte Garde war, wenn es um Arlington ging, fanatisch. Viel mehr, als wenn es um irgendeinen Präsidenten ging, dem ja immer wieder ein anderer folgte, oder um Denkmäler von geringerem Rang. Doch die Einheit hatte hauptsächlich zeremonielle Aufgaben und verfügte praktisch über keinerlei schwere Waffen.
»Na ja, ich denke, ein weiterer dummer, symbolischer Einsatz wird auch nicht mehr schaden als alle anderen.«
»Er ist unser Präsident, Captain O’Neal«, sagte der General leise. Die Zurechtweisung war eindeutig, aber Mike spürte auch, dass sie nicht von Herzen kam.
»Ihr Präsident«, sagte Mike ebenso leise. »Beim Eintritt in die Flotte geben wir unsere Staatsbürgerschaft auf. Erinnern Sie sich daran? Sir?«
Schweigen.
»Haben Sie dem Bataillon schon gesagt, dass sie in Marsch gesetzt werden?«, fragte Mike, auch um das Thema zu wechseln.
»Nein, ich werde jetzt dann gleich Major Givens anrufen, wenn wir fertig sind.«
»Ich muss dort sein, General.« Mike schnippte das Hologramm mit einer Handbewegung weg und atmete aus. Es war so kalt, dass sein Atem im Scheinwerferstrahl des hinter ihnen rollenden LKWs wie weißer Nebel in der Luft hing.
»Also, ich wüsste nicht, wie wir das schaffen können, Captain.«
»Hubschrauber.«
»Sind Sie wahnsinnig? Den holen die Posleen herunter, ehe Sie die Hälfte des Weges nach Indiantown Gap zurückgelegt haben! Verdammt, schauen Sie sich doch an, was mit dem Zweiten Bataillon passiert ist!«
»Zufall«, konterte Mike und rief die Karte wieder auf. Diesmal griff er in die Darstellung ein, tippte Vektoren an und teilte Gefahrenstufen zu. »Shelly, Querverbindung zu General Horner.«
Erst jetzt wurde den Soldaten auf der Ladebrücke des LKWs bewusst, mit wem der Fleet Captain gesprochen hatte. Sie zogen die Köpfe ein, als ob sie jeden Augenblick der Blitz treffen würde. Mike achtete nicht auf sie.
»Wir sind beinahe in Winchester. Sorgen Sie dafür, dass mich dort ein Vogel abholt. Blackhawk, Kiowa, egal. Wir bleiben ganz unten und schlüpfen bei Harper’s Ferry durch die Lücke. Auf die Weise treffe ich die Einheit irgendwo auf der Interstate 83.«
Am anderen Ende herrschte Schweigen, als Horner die Karte studierte. Das Hologramm zeigte die Posleen-Standorte und wahrscheinliche Reichweiten ihrer Waffen. Wenn ein Flugzeug unter hundert Fuß blieb, endeten sämtliche Linien vor der Route, die Mike skizziert hatte. »Sie gehen von zwei Voraussetzungen aus, die nicht zutreffen. Erstens: dass die Posleen nicht starten. Wenn ein Lander aufsteigt, ist alles im Eimer. Zweitens: es kommen keine weiteren Lander herein. Aber im Laufe der letzten Stunde hat es drei Landungen gegeben.«
»Und wenn einer reinkommt oder aufsteigt, ändert sich die Darstellung. Shelly wird sie ständig auf aktuellem Stand halten. Dazu ist sie da. Wenn wir müssen, landen wir eben, bis die Gefahr vorbei ist.«
»Mir gefällt das nicht, Mike. Ich habe das Gefühl, das ist ein unnötiges Risiko für einen taktisch wichtigen Aktivposten.«
Mike schluckte einen Kloß hinunter, der ihm in der Kehle saß. Horner war für ihn so etwas wie ein Ersatzvater, aber er war sich nie ganz sicher, was der General wirklich empfand. Ein besseres Kompliment konnte ein Sohn sich nicht wünschen. »Gilt das für mich oder den Helikopter?«, witzelte er. »Schon gut, ich bin nicht wichtig, Sir. Aber ich bin trotzdem der Meinung, dass es ganz gut wäre, wenn ich an dieser Operation beteiligt bin.«
Wieder langes Schweigen. »Ich besorge den Hubschrauber. Wir haben tatsächlich nicht viel Zeit.«