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Pentagon, Virginia,

United States of America, Sol III

1024 EDI, 10. Oktober 2009

»Hier spricht Bob Argent aus dem Hauptquartier der Kontinentalarmee. Nach dem nicht genehmigten Artilleriebeschuss durch Einheiten der Neunundzwanzigsten Infanteriedivision strömen die Posleen jetzt aus ihren Positionen um Fredericksburg wie Ameisen aus einem Ameisenhaufen, in dem einer herumgestochert hat.« Der Reporter sah ziemlich mitgenommen aus. Unter dem Make-up, das man ihm in der Maske angelegt hatte, konnte man deutlich sehen, dass er ebenso wenig Schlaf bekommen hatte wie die Soldaten, über die er berichtete. Unter normalen Umständen hätte man jemanden als Ersatz geschickt, damit er sich etwas ausruhen konnte. Aber das war mit diesem Veteranen seines Berufs nicht zu machen; dies war das Ereignis des Jahrhunderts, und er befand sich im Zentrum des Geschehens.

»Bei mir ist Lieutenant General Guy Tremont, Adjutant von General Hörnen dem Kommandeur der Kontinentalarmee. Colonel, wie beurteilen Sie die Chancen der Streitkräfte des Zehnten Korps, also konkret, können sie den Posleen standhalten?«

»Nun ja, Bob«, sagte der Colonel und lächelte melancholisch, »das Zehnte Korps ist ein sehr starkes Korps, und wenn es überhaupt fünf Divisionen gibt, die das schaffen, dann die. Wir haben hier bei CONARC großes Vertrauen in General Simosin. Wenn es einen General gibt, der eine Verteidigungsaktion wie diese befehligen kann, dann ist das General Simosin, davon sind wir hier alle einhellig überzeugt.«

»Was war das für ein Durcheinander in der Nacht? Soweit wir erfahren haben, sind eine ganze Menge Einheiten einfach verschwunden.«

»Dazu müssten Sie definieren, was Sie unter ›verschwunden‹ verstehen«, wandte der Colonel ein und zuckte die Achseln. »Es handelt sich schließlich um Zentral-Virginia, und die wussten immer, wo sie gerade waren. In vielen Fällen bestand dieses ›Durcheinander‹, wie Sie es nennen, darin, dass die nicht recht wussten, wo sie eigentlich hin sollten, aber das ist immer so, wenn Pläne plötzlich umgestoßen werden. Aber inzwischen hat das Zehnte Korps diese Probleme überwunden und Stellungen bezogen, die es ihm erlauben, sich mit dem Feind auseinander zu setzen.«

»Wollen Sie damit Kritik am Präsidenten andeuten, ich meine, daran, dass er plötzlich seine Entscheidung geändert und befohlen hat, das Terrain vor dem Potomac zu verteidigen?«

»Ganz eindeutig nein. Der Präsident ist der Oberste Befehlshaber; sein Wort ist für das Militär Gesetz. Wenn er möchte, dass wir uns auf engem Raum verteidigen, verteidigen wir uns auf engem Raum; wenn er möchte, dass wir uns in Pennsylvania verteidigen, verteidigen wir uns in Pennsylvania.«

»Sie glauben also, dass das Zehnte Korps imstande sein wird, die Posleen aufzuhalten?«

»Im Krieg gibt es keine sicheren Voraussagen, und ganz bestimmt nicht in einer so chaotischen Situation wie dieser, wenn der Feind nämlich früher als erwartet und völlig überraschend eintrifft. Das Zehnte wird sein Bestes geben, und wenn sie es schaffen, dann umso besser. Wenn nicht, wenn sie sich zurückziehen müssen, dann haben wir noch eine weitere Kugel im Lauf. Die Posleen haben es dann immer noch mit dem Neunten Korps zu tun, das gerade im oberen Bereich des Occoquan-Staubeckens in Stellung geht. Entweder das Neunte oder das Zehnte wird sie aufhalten.

Nach dem, was das IVIS zeigt, sind sie bereits dabei, die Flanke der Kavallerie aufzubrechen …«

Jack Horner nickte bedächtig, als er die korrekte Feststellung hörte.

»Sie sind also immer noch dafür, das IVIS über TV zu übertragen?«, fragte General Taylor. Die beiden Generäle diskutierten darüber, welche Einheiten zusätzlich wann und wo eingesetzt werden sollten, hatten sich aber die Zeit genommen, sich das nur kurz vorbereitete Interview anzusehen.

»Ja, und wenn die GKA hier eintreffen, werde ich über die vierzig Kanäle der Sendenetze Videos verteilen, die die dann redigieren und weiterverteilen können; eines von jedem Platoon-Führer. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass die Posleen operative Nachrichtendienste einsetzen. So wie die Dinge stehen, bin ich der Ansicht, dass die amerikanische Zivilbevölkerung ein Recht darauf hat zu erfahren, was im Gange ist.«

»Da ist der Präsident mit Ihnen einer Meinung«, meinte Taylor und nickte.

»Ich wünschte, ich hätte ihn auch hinsichtlich der zu verteidigenden Positionen zu meiner Ansicht bewegen können«, meinte Horner mit einem verkniffenen Lächeln. »Wenn wir wenigstens auf die Positionen gegangen wären, wo das Neunte sich jetzt eingräbt, dann hätte man das beinahe überleben können. Besonders mit dem Zehnten vorne und dem Neunten in einer Auffangstellung dahinter. So wie es jetzt aussieht, fürchte ich, dass die Posleen das Zehnte auffressen und sich dann beim Neunten einen Nachschlag holen. Im Augenblick flattert die rechte Flanke des Zehnten ja praktisch im Wind.«

»Er hätte seine Front mit Reserve verstärken sollen.«

»Nein, passen Sie mal auf, wie Arkady die Reserve einsetzt; ich denke, damit rettet er vielleicht sein Korps. Irgendwann hätten die Posleen die Flanke aufgerollt. Wenn er nicht aufpasst, sogar die Flanke des ganzen Korps. Aber die Neunzehnte rückt bereits vor, um sie daran zu hindern.«

»Okay, das ist schließlich Arkadys Schlacht, also überlassen wir es auch ihm, wie er sie führt. Was gibt es Neues aus Richmond?«

Die Kundschafterkompanien der Posleen rückten unermüdlich in einer Art Laufschritt auf der breiten Fernstraße auf die Skyline der Stadt in der Ferne zu, auf beiden Seiten des Mittelstreifens in dicht gestaffelten Schlachtreihen und ständig die Köpfe in Bewegung, um nach möglichen Gefahrenstellen Ausschau zu halten. Eine Einheit der Thresh hatten sie entdeckt, aber sie waren noch zu weit entfernt, als dass es sich gelohnt hätte, sie anzugreifen, auch wegen ihrer auf Ketten fahrenden Tenar, die ihnen in den letzten paar Stunden so viel Ärger bereitet hatten. Die Gottkönige an der Spitze hatten schon überlegt, das Feuer zu eröffnen, sich dann aber dazu entschlossen, damit noch abzuwarten, bis ihre Kompanien in Schussweite waren.

Von den Militärtechnikern mit den Doppeltürmen war bis jetzt noch nichts zu sehen gewesen, und das veranlasste die Anführer der Spähtrupps, halblaut ihre Erleichterung zu flüstern. Schlimm genug, gegen einen schnellen und schlüpfrigen Feind zu kämpfen, der aus dem Hinterhalt feuerte, immer wieder im Unterholz verschwand und jedes Mal zahllose Oolt’os mitnahm, aber wenigstens waren das für kurze Zeit Ziele, auf die man schießen, und ein Feind, mit dem man kämpfen konnte. Gegen die Militärtechniker und die Sprengladungen, die auf ballistischen Bahnen durch die Luft flogen, dagegen konnte man nicht kämpfen. Solange die nicht auftauchten, gab es keinen Zweifel, wie die Schlacht ausgehen würde.

Und dann waren sie schließlich in Reichweite der Thresh, nahe genug, um ihre verhassten Tenar mit massiertem Feuer erfassen zu können, und der westliche Gottkönig gab den Feuerbefehl.

Als ein Hagel von Railgun-Geschossen und anderen Kalibern Funken sprühend von der Brücke abprallte, gab der Führer des Kavallerie-Platoons Mueller mit hochgerecktem Daumen ein Zeichen und ließ sich in seinen Kommando-Bradley fallen. Der Lukendeckel knallte unmittelbar darauf zu.

Nachdem er die Darstellung auf seinem Monitor gemustert hatte, beschloss Mueller, den Posleen noch ein wenig länger die Chance zu geben, in ihr Verderben zu rennen. Die Kompanien an der Spitze, aus seiner Sicht Freiwild für die Kavallerie, waren noch nicht weit genug vorgerückt. Sollten doch ruhig noch ein paar Posleen mehr den eigentlichen Hinterhalt hinter sich lassen, damit sich dort die schwerer bewaffneten Kompanien versammeln konnten. Hinter ihm ließ der Fahrer des Humvee, den man ihm zugeteilt hatte, den Motor an, um sich möglichst schnell in Sicherheit bringen zu können.

Mueller nickte, als der erste Gottkönig den Hinterhalt völlig passiert hatte. Ihre Kompanien hatten bereits Gefechtsberührung mit der Kavallerie, sie rückten in einer Gangart vor, die man bei Pferden als Kanter bezeichnete, und waren offenbar überzeugt, dass sie dieses Gefecht bereits gewonnen hatten. Irrtum. Er fletschte die Zähne und legte den Feuerschalter um.

Mit Lichtgeschwindigkeit schoss der Strom zur anderen Seite des einen halben Kilometer durchmessenden Areals ihres Hinterhalts, und dann setzte schlichte Chemie ein.

Da Amanda Hunt und der Leiter des Pionier-Platoons, der bei der Vorbereitung geholfen hatte, Pessimisten waren, hatten sie für die Claymores drei weitgehend voneinander unabhängige Zündungsmethoden vorgesehen. Das war einer der Gründe, weshalb die Vorbereitungsarbeiten so zeitraubend gewesen waren. Zum Ersten waren sämtliche Claymores in Reihe geschaltet. Jede Claymore verfügte über zwei Anschlüsse für Sprengkapseln. Die erste Claymore hatte beiderseits je eine Sprengkapsel, eine für den Signalempfang über Draht, die andere für Funk, und war mit Sprengschnur, so genanntem Detcord, umwickelt. Eine Leitung aus Detcord wurde mit einer anderen Funkfrequenz gesteuert, eine weitere Leitung sah eine sekundäre Sprengfrequenz über Leitung vor, die dritte Leitung führte zu der nächsten Claymore in der Reihe und die vierte und letzte schließlich zur dritten Claymore. In den aufeinander folgenden Claymores war dieselbe Folge vorgegeben, nur mit der Ausnahme, dass die Claymores dahinter auf einer Seite den Drahtanschluss und auf der anderen das »einwärts« führende Detcord hatten. Zum Zweiten waren die mit Draht verbundenen Hilfskapseln sämtlicher Claymore auf Zeitverzögerung geschaltet, damit die Detonation im idealfall von der primären Kettensequenz ausgelöst werden konnte.

Wie sich sogleich herausstellte, waren sämtliche Hilfsschaltungen und Redundanzen, mit Ausnahme eines einzigen Punkts an der Ostseite, überflüssig, wo ein verirrtes 25-mm-Geschoss die Sprengschnur zerfetzt, aber überraschenderweise nicht die ganze Folge von Detonationen ausgelöst hatte. Ansonsten lief die ganze Sequenz wie eine Schweizer Präzisionsuhr, ein Tribut an die erstklassige Professionalität von Miss Hunt.

Als die erste Claymore detonierte, entzündete sie das Detcord, mit dem sie umwickelt war und das die Explosion ähnlich einer explodierenden Zündschnur die paar Meter zur nächsten Claymore weitertrug, die ihrerseits explodierte und den Impuls weitergab. Mit einer Folge gewaltiger Explosionen, die so klangen, als würde das gewaltigste Maschinengewehr der Welt abgefeuert, blitzten fünfhundert Meter Straße weiß auf, und die Luft füllte sich mit Rauch und Staub.

Als der Staub sich legte, konnte man sehen, dass beide Fahrbahnen mit toten und sterbenden Posleen bedeckt waren, ein gewaltiger Schlachthof aus zerfetztem, gelbem Fleisch. In weniger als einer Sekunde waren über sechstausendvierhundert Posleen, Normale und Gottkönige, ein komplettes K-Dek-Kommando vom Angesicht der Erde weggewischt.

Die weiter vorgerückten Kompanien blieben stehen, entsetzt angesichts der Zerstörung hinter ihnen, und kämpften gegen die berechtigte Angst an, was wohl ihnen und den sie bewegenden Bindungen zu ihrem Gottkönig geschehen würde. Und während sie noch überlegten, gingen die ersten Granaten der Artillerie auf sie nieder.

Die Posleen in den Schlachtreihen hinter den ausgelöschten Kompanien blieben ebenfalls stehen – geschockt und entsetzt von dem Anblick, der sich ihnen bot –, aber nur einen Augenblick lang. Dann begannen sie, während andere Einheiten bereits um die organische Straßensperre herumströmten, die Toten einzusammeln und sie zur Verarbeitung zu den nächstgelegenen Landungsfahrzeugen zu schleppen.

Die Kompanien an der Spitze nahmen ihren Kanter wieder auf und versuchten quer durch das unter Artilleriebeschuss liegende Gebiet zum Feind vorzurücken, aber diesmal sollte ihnen das nicht gelingen. General Keeton und sein Stab hatten die Zeit, die die Posleen mit Fredericksburg vergeudet hatten, gut genutzt. Der größte Teil der Divisionsartillerie und sämtliche mobilen Artillerieeinheiten des Korps waren vorgezogen worden, um die Hinterhalte zu unterstützen, während auf dem Libby Hill und dem Mosby Hill die Schutzwälle vorbereitet wurden. Über hundert 150-mm-Geschütze feuerten in einen Bereich, der nur hundert Meter breit und fünfhundert Meter tief war.

Das exakte Feuer der Bradleys und der massierten Artillerie löschte die Posleen-Kompanien binnen Sekunden aus, noch ehe sie sich den Kundschaftern der Kavallerie auf fünfhundert Meter genähert hatten.

Die Kavallerie hatte das Gemetzel nicht völlig heil überstanden. Die Plasmakanone des westlichen Gottkönigs hatte zwei Bradleys vernichtet und ein Glückstreffer des massierten HVM-Feuers einen weiteren. Aber dafür hatten das verstärkte Platoon, die Artillerie und die im Hinterhalt versteckten Soldaten in weniger als fünf Minuten über siebentausend Posleen vernichtet. Die zerstörten Panzer wurden sofort durch Fahrzeuge aus der Reserve ersetzt, während die Sanitäter bereits um die Verwundeten bemüht waren.

Ein Posleen braucht etwa drei Minuten, um einen Kilometer zu galoppieren. Der vordere Rand des Hinterhalts befand sich eineinhalb Kilometer vor der Kavallerieeinheit, während die überlebenden Posleen-Verbände einen weiteren halben Kilometer zurück lagen. Der Kommandeur der Kavalleriekompanie ließ das Artilleriefeuer ein Stück nach außen verlegen, als die nachfolgenden Posleen-Kompanien zum Angriff ansetzten.

Die ersten fünfhundert Meter rutschten und schlitterten die Zentauren in dem mit Blut und Eingeweideresten ihrer toten Kameraden bedeckten Boden und kamen daher nur sehr langsam vorwärts, hielten sich also länger in der Feuerzone auf. Doch binnen weniger Minuten hatten die Posleen-Verbände die eigentliche Interstate erreicht und preschten jetzt nach vorn, auf die Kavallerieeinheit zu.

Trotz des langen Galopps und des massierten Artilleriefeuers war offenkundig, dass die Flut von Posleen am Ende durchbrechen würde. Während die Elemente an der Spitze nach vorn strebten – wobei sie dahinschmolzen wie ein Stück Zucker im Wasser –, drängten weitere Einheiten vor. Es war ein endloser Strom von Zentauren.

Der Kompaniechef beorderte seine Reserve an die Front und setzte zum Rückzug an, als die Bradleys und die Artillerie ihren Granatenhagel auf die Posleen absetzten.

Mueller warf unterdessen einen letzten Blick auf die vorstürmende Zentaurenarmee und entschied, dass dies jetzt eine Art von Kampf war, für die die Kavallerie besser geeignet war. Er nahm das Zielbrett – wie die Posleen, so huldigte auch er der Doktrin, Kampf dem Verderb – und eilte dann im Laufschritt zu dem wartenden Humvee. Der Fahrer seufzte erleichtert und setzte das Fahrzeug in Bewegung, kaum dass Mueller an Bord war.