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Washington D.C.,

United States of America, Sol III

0817 EDI, 11. Oktober 2009

»Mr. President«, sagte Captain Hadcraft, »das ist dumm.«

Der Bradley-Infanterie-Panzer arbeitete sich seitlich die Straßenböschung hinauf. Das Platoon der Einhundertfünften Infanteriedivision hatte sich nur widerstrebend von seinen Fahrzeugen getrennt. Aber eine direkte Anordnung des Präsidenten im Verein mit einem Platoon gepanzerter Kampfanzüge hatte sie schließlich überzeugt. Jetzt verfügten die Anzüge über Transportmittel, die sogar in noch höherem Maße geländefähig waren als die Suburbans, mit denen sie die Reise angetreten hatten.

Aber wenn sie von einem aufgeputschten Mob überrannt wurden, würde ihnen das auch nicht helfen.

Die U.S. 29 und die U.S. 50 im Norden der Hauptstadt wurden rücksichtslos von jeglichem Fahrzeugverkehr geräumt. Alle, die es bis zu diesem Augenblick nicht bis zum Beltway geschafft hatten, erhielten Anweisung, ihre Pkws, Trucks oder Vans zu verlassen, worauf diese von mit Räumeinrichtungen versehenen Panzern zur Seite geschoben wurden. Die Insassen der Fahrzeuge und Flüchtlinge von den Schlachten im Süden wurden mit LKWs in Parks rings um das Veteran’s Hospital gebracht, wo eine Zeltstadt im Entstehen war.

Der Konvoi des Präsidenten war in dieser Gegend unterwegs gewesen, als ihm diese Tatsache zur Kenntnis gebracht worden war. Daraufhin hatte er sofort einen Umweg angeordnet.

Aus der Sicht des Secret Service – und übrigens auch der Marines – brachte das das Problem mit sich, dass die Popularität des Präsidenten sich im Augenblick nicht gerade auf einem Höhepunkt befand. Infolge eines direkten Befehls des Präsidenten hatten die Vereinigten Staaten gerade im Zeitraum von achtundvierzig Stunden mehr Soldaten verloren als während des ganzen letzten Jahrhunderts. Das hatte eine Art formlose Wut erzeugt, wie man bereits in dem immer noch funktionierenden Internet feststellen konnte. Und soweit die Wut doch Formen angenommen hatte, richtete sich diese gegen den Präsidenten. Wenn dann noch die Wut von Menschen dazukam, die man aus ihren Häusern getrieben hatte, war es durchaus nicht von der Hand zu weisen, dass diese Leute auch nicht davor zurückscheuen würden, den Präsidenten zu attackieren.

Der Präsident drehte den Helm in der Hand und schüttelte schließlich den Kopf. »Mag sein. Dass ich besonders gescheit sei, hat von mir noch nie jemand behauptet. Stur, das schon. Lästig, ja, das auch. Aber nicht gescheit.« Er sah zu dem Marine-Offizier hinauf, der zusammengekauert vorne auf einem Mannschaftssitz hockte. Bradleys waren nicht dafür konstruiert, Kampfanzüge aufzunehmen, und das war offenkundig. Die Truppe in diesem Fahrzeug war zusammengequetscht wie Sardinen. Er blickte auf die Stelle in der Gesichtsscheibe des Helms, wo er die Augen des Captain vermutete. »Aber dies sind meine Leute. Das gehört mit zu meinem Job. Ich will es einmal so ausdrücken: Wenn einer Ihrer Soldaten im Lazarett ist, besuchen Sie ihn dann?«

Der Anzug bewegte sich nicht, aber der Präsident bildete sich ein, dass sich die Haltung seiner Arme ein wenig veränderte. »Yeah.«

»Das ist dasselbe. Und manchmal sind die auch wütend auf einen.«

Der Captain hob beide Hände mit den Handflächen nach oben. Dagegen war nichts zu sagen.

Der Präsident drehte den Helm wieder zwischen den Händen und sah zu, wie das bewegliche Gel darin floss und Verdickungen bildete. Es sah aus wie etwas aus einem schlechten Horrorfilm – und das sollte er sich über den Kopf stülpen!? »Ich muss diese Leute besuchen. Wenn ich einfach vorbeirase und zusehe, so schnell wie möglich nach Camp David zu kommen, dann wäre das eine Ohrfeige, von der sich meine Administration vielleicht nie mehr erholt.« Er blickte auf, und seine Züge strafften sich. »Also, sagen Sie dem Fahrer, er soll dort hinüberfahren.«

Die Flüchtlinge waren eine formlose, ständig in Bewegung befindliche Menschenmasse. Tausende von Menschen, einzeln und ganze Familien, waren mit LKWs und Bussen hingekarrt und auf dem Golfplatz abgeladen worden. Eine Kompanie Militärpolizei bemühte sich redlich, aber ohne großen Erfolg, die Leute auseinander zu sortieren und Zelte bauen zu lassen, aber im Großen und Ganzen standen, saßen oder gingen die Flüchtlinge einfach herum, wie es ihnen passte. Der Kompaniechef der MPs hatte ein Platoon als Eingreiftrupp aufgestellt, und sie mussten gelegentlich in die Masse eindringen, um Prügeleien zu schlichten oder zu verhindern, dass größere Unruhen entstanden. Je mehr Zeit verstrich, umso mehr ähnelte das Ganze dem Umgang mit Kriegsgefangenen.

Die Bradleys und Suburbans des Präsidenten-Konvois bogen in den Arnold’s Drive auf das Veteran’s Hospital zu und hielten dann an. Da nicht alle Marines in die Bradleys und Offroader gepasst hatten, hatte sich eine Gruppe außen an den Panzern festgehalten. Diese Soldaten sprangen jetzt herunter, ehe die Ketten ganz zum Stillstand gekommen waren, und sahen sich mit den Gravgewehren im Anschlag um, ob irgendwo etwas die Sicherheit des Präsidenten bedrohte.

Die Flüchtlinge hatten das Herannahen des Konvois mit einer Mischung aus Neugierde und Unbehagen beobachtet. Die Suburbans deuteten daraufhin, dass es sich um eine höher gestellte Persönlichkeit aus der Regierung handeln musste, andererseits fehlte die übliche Stretchlimousine. Die gepanzerten Fahrzeuge andererseits, für die meisten ganz schlicht und einfach Panzer, erinnerten in beängstigender Weise daran, dass die Regierung nicht immer ein Freund war. Da die Umstände ohnehin bereits dazu geführt hatten, dass man sie effektiv wie Gefangene behandelte, stimmte sie der Anblick zusätzlicher militärischer Stärke und insbesondere die gepanzerten Kampfanzüge, die die einen als Heilige und die anderen als Dämonen betrachteten, nicht gerade wohlwollender. Als die Marines dann ihre Waffen senkten und nach äußeren Bedrohungen Ausschau hielten, ohne dabei daran zu denken, wie das auf die Zivilisten wirken würde, strömten sie zurück.

Die Medienvertreter hatten sich auf die Flüchtlingslager gestürzt wie Fliegen auf Marmelade. Aus den Live-Sendungen einiger ihrer Kollegen war offenkundig geworden, dass die Berichterstattung über das Vorrücken der Posleen dem Selbstmord gleichkam. Das nächst beste Thema für die Medien war daher Unfähigkeit der Regierung und Schikanen gegenüber der Bevölkerung. Da die »Regierung« nicht imstande gewesen war, unverzüglich Nahrung und Unterkunft für fünfzehntausend Flüchtlinge bereitzustellen, war sie offensichtlich unfähig. Wenn man die fast hunderttausend gefallenen Soldaten in Nord-Virginia mit dazuzählte, ergab das einen Scoop von geradezu legendären Ausmaßen. So schien es zumindest.

Mit der Zerstörung der Satelliten durch die Posleen waren die meisten Fernsehsender ausgefallen. Obwohl die Kabelgesellschaften sich alle Mühe gaben, ihre Netze mit Hilfe des Internet neu aufzubauen, hatten die meisten Menschen auf die nationalen Breitbandstationen geschaltet und benutzten diese als primäre Informationsquelle.

Die regulären Medien hatten immer noch einen beachtlichen Anteil an diesem Bereich, aber viele Zuschauer waren bereits mit dem immer noch in Entwicklung befindlichen Medium hinreichend gut vertraut, um sich ihre eigenen Informationsquellen zu suchen.

Die meisten »alternativen« Nachrichtenquellen waren so überlastet, dass ständig Server ausfielen. Trotzdem waren genügend Server übrig geblieben, dass die Zuschauer zu Hause sich ein eigenes Bild davon machen konnten, was wirklich »neu« war. Zum ersten Mal wurde deshalb ein großer Krieg praktisch ungehindert in jede Wohnung geschickt.

Die Zuschauer hatten die Wahl zwischen Live-Übertragungen aus dem Inter-Vehicular-Information-System, die klar erkennen ließen, wo Kämpfe stattfanden, oder Live-Videos aus Kampfanzügen, die entweder zu irgendwelchen Gefechten unterwegs waren oder sogar daran aktiv beteiligt. Ein Gefecht zwischen der Fünfhundertachten Mobile Infantry des First Battalion und einer kleinen Landung außerhalb von Richmond, Washington, hatte die höchste Sehbeteiligung in der Geschichte und übertraf sogar die letzten Stunden der Schlacht von Fredericksburg. Die Tatsache, dass die Kämpfe in der besten Sendezeit stattfanden, hatte damit zu tun.

Und die »Show« mit der höchsten Sehbeteiligung, die diese Schlacht betraf, wurde nicht etwa von einem der regulären Sender übertragen. Vielmehr lieferten mehrere große Suchmaschinen eine Website, die eigentlich den Streitkräften vorbehalten war, wenn man »Kämpfe, Nachrichten« eingab. Diese relativ kleine Website hatte während der vollen drei Stunden, die die Schlacht dauerte, beinahe sechzig Millionen Simultanverbindungen. Das ganze Geschehen wurde von Text »Popups«, Beschreibungen der beteiligten Einheiten und erklärenden Grafiken »kommentiert«.

Der »Kommentator« war ein ehemaliger Colonel der Army, der trotz des Verjüngungsprogramms zu alt war, um noch einmal einberufen zu werden. Seine Expertenanalyse wurde von einem Team von Internet-Freaks zusammengetragen und dann allein in den Vereinigten Staaten interaktiv von über hundert Millionen Menschen angeklickt. Er sagte nicht nur das exakte Ergebnis der Schlacht voraus, sondern lieferte auch eine bis auf zwei Anzüge genaue Vorhersage der eigenen Verluste. Das Video wurde mit Audioclips aus der Schlacht und weisen Kommentaren über ähnliche Schlachten bis zurück zu Sargon und Hammurabi ergänzt. Häufig wurde Sun Tzu zitiert, was in den meisten Suchmaschinen, die zu der Site geführt hatten, zu Überlastungen führte. Und der Hauptsponsor, die Herstellerfirma der Barrett-Sturmgewehre, erlebte den höchsten Bestelleingang, den ihre Site je hatte verkraften müssen. Sie und alle die angelinkten Verkaufsaußenstellen waren total überlastet.

Die »großen Medien« ignorierten freilich diese Eingriffe in ihren Marktanteil und konzentrierten sich weiterhin auf jene Taktiken, die sich in der Vergangenheit als für sie erfolgreich erwiesen hatten.

Als daher die Menge vor den Gewehren der Marines zurückwich, drängten die Reporter vor. Die Schreie der hysterischen Flüchtlinge, die der Verlust ihrer Häuser und des ganzen, über Jahrzehnte angesammelten Besitzes bereits an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte, wurden live in die ganze Welt gesendet.

Der Marine Captain legte dem Präsidenten die Hand auf die Brust und hielt ihn zurück, während der Rest der Kompanie Aufstellung nahm. »Erst, wenn es sicher ist«, knurrte er.

Präsident Edwards, der immer noch den verhassten Helm in der Hand hielt, nickte bloß. Der Lärm der Plastahlpanzer, die durch die Ausstiegsluken ins Freie trampelten, und das Dröhnen des Dieselmotors übertönte jedes Geräusch von draußen. Aber einen Augenblick später schob der Leiter der Truppe den Kopf durch die Tür.

»Sir«, sagte er mit angespannter Miene. Er steckte in einer Zwickmühle. In der Menge konnte jeden Augenblick ein Aufruhr ausbrechen, und der Einzige, der dem vielleicht Einhalt gebieten konnte, war der Präsident. Andererseits war das so gefährlich, dass es einem Albtraum gleichkam.

Captain Hadcraft legte die Hand an den Helm und fluchte dann. Da er auf Lautsprecher geschaltet hatte, wurde jede Silbe getreulich übertragen. »Sir«, sagte er und packte den Präsidenten am Arm, »wir haben wieder ein Problem.«

Der Präsident duckte sich, um sich den Kopf nicht an der Tür anzustoßen. Der Anzug versuchte bereits, sich an seine Körperkonturen und Bewegungsgewohnheiten anzupassen, interpretierte aber gelegentlich seine abrupten, präzisen Bewegungen als Sprungbefehl. Glücklicherweise war das nicht geschehen, als er mit dem Helm in der Hand im Mannschaftsabteil gesessen hatte. Jetzt riss ihn der Anzug in die Höhe und schleuderte ihn die Rampe hinunter, dass er beinahe der Länge nach gestürzt wäre.

Als er um den Transportpanzer herum war, war ihm sofort klar, worin das Problem bestand. Er ließ den Blick kurz zwischen den Marines mit ihren schussbereiten Waffen, der Menge und den Reporterkameras hin und her wandern.

»Herrgott«, flüsterte er, »was geht denn noch alles schief?«

Er überlegte kurz, und dann setzte zum Glück seine Fähigkeit schnell und wirksam zu handeln ein, die ihm während seines ganzen Aufstiegs auf der politischen Leiter so zustatten gekommen war.

»AID, der Anzug funktioniert auch als Verstärker, ja? Wie diese Anzugeinheit auf Diess?«

»Ja, Sir.«

»Okay, dann sag den verdammten Marines, sie sollen die Waffen hochnehmen.« Er stemmte sich auf das Dach des Fahrzeugs, konnte die Sprossen nicht finden, von denen er wusste, dass es sie an der Fahrzeugwand gab.

Gerade in dem Augenblick, als die Marines ihre Waffen hochnahmen, erreichte er das Dach des Fahrzeugs, ließ den Helm fallen, hob beide Hände und sagte »Verstärken.«

»Meine amerikanischen Mitbürger!« dröhnte es mit gewaltiger Lautstärke aus jedem Anzug. Das orkanartige Geräusch, die Worte und die vertraute Stimme ließen die Menge erstarren. Der Präsident stemmte die Hände in die Hüften des Anzugs und beugte sich vor. »Ich bin hergekommen, um zu sehen, ob ich irgendwie helfen kann

Der Präsident stand mitten in der Menge und der Secret Service war am Verzweifeln. Sie konnten kaum mit seinem schnell dahinschreitenden Anzug Schritt halten, der Hände schüttelte und Menschen umarmte, dass ihnen die Knochen knackten. Der Geruch der Menge war völlig anders als all die Menschenmengen, die er bisher erlebt hatte. Das lag nicht nur daran, dass sie sich schon eine Weile nicht mehr gewaschen hatten. Da war auch eine Ausdünstung von Angst, die man beinahe greifen konnte, und die Auswirkung der Tatsache, dass sie über keine Latrinen verfügten. Wenn sie das Lager nicht ganz schnell besser unter Kontrolle bekamen, würden hier Seuchen ausbrechen. Die Vorstellung von Cholera und Typhus im modernen Amerika war so erschreckend, dass sich sein Verstand dabei sträubte. Noch dazu auf den Stufen eines Krankenhauses.

»Wir tun alles, was wir können«, sagte er und nickte zu einem weiteren Problem. Als er eine Mutter mit einem schlafenden Kind in den Armen sah, blieb er stehen. Der kleine Junge hatte eine große Platzwunde seitlich am Kopf, die nur teilweise verheilt war.

»Ma’am«, sagte der Präsident vorsichtig. Die Frau stand mit geschlossenen Augen da und schwankte sachte vor und zurück. »Ihr Sohn ist verletzt.« Die Frau antwortete nicht, sondern schwankte nur weiter, und der Präsident sah sich um. Er wusste nicht, was das alles für Anzüge waren, aber die Kompanie verfügte ganz sicherlich über medizinisches Material. »Captain Hadcraft«, rief er, als seine Bewacher schließlich durch die Menge zu ihm aufgeschlossen hatten.

»Sir.«

»Haben wir einen Sanitäter?«

»Einen Sanitäter, Sir? Nein, da steht keiner auf der Liste.«

»Und medizinisches Gerät?«

»Bloß die Anzüge, Sir.«

»Herkommen«, befahl er und ging auf die Frau zu. »Ma’am?«

»Sir«, warnte Agent Rohrbach und streckte die Hand aus, um den Präsidenten aufzuhalten. Der schwergewichtige Mann streckte sanft die Hand aus und berührte die Frau am Arm.

Die Augen der Frau flogen auf, und sie zischte den Secret-Service-Mann an. »Er ist tot!«, herrschte sie ihn an. »Tot! Lasst mich in Frieden! Er ist tot! Tot!«

Der Präsident und der Secret-Service-Mann traten beide zurück, als die Frau jetzt zu weinen anfing.

»AID?«, fragte der Präsident, »kannst du …«

»Das Kind ist nicht tot, Sir«, erklärte das Gerät entschieden. »Seine Lebenszeichen sind nicht einmal schlecht. Aber er hat anscheinend Schädelverletzungen.« Die Sensoren der Anzüge waren auf diese Distanz besser als jeder Kernspintomograph. »Er ist wahrscheinlich bewusstlos und im Koma. Aber nicht tot.«

Die Menge drängte jetzt wieder vor, um besser sehen zu können, was da vor sich ging, und die Reporter verschafften sich gewaltsam Platz, als Captain Hadcraft eintraf. Er stellte nicht einmal eine Frage, sondern trat bloß mit einem Injektor vor und fing die beiden fallenden Körper auf. Er reichte die Mutter einem Angehörigen seiner Gruppe, drückte das Kind an die Brust und eilte zu den Panzern zurück.

»Captain?«, fragte der Präsident. Das alles war so schnell und reibungslos gegangen, dass eine Reaktion gar nicht möglich gewesen war, und der Anzug hatte bereits wieder die halbe Strecke zu den Fahrzeugen zurückgelegt.

»Ich bringe ihn in das Krankenhaus, Sir. Sorgen Sie dafür, dass hier Ruhe eintritt.«

Der Präsident schüttelte den Kopf und lächelte. Gute Untergebene zu haben war ein Geschenk des Himmels. Die Menge drängte immer noch vor, aber für eine kurze Ansprache war genug Platz. Es wäre besser gewesen, erhöht zu stehen, um mehr Leute sehen zu können und gesehen zu werden, aber er musste eben das Beste daraus machen.

Er sah sich um, entdeckte eine Frau, die einigermaßen gefasst erschien. »Was brauchen Sie? Zelte? Die sind bereits hier, und mehr kommen nach. Was sonst?« Sein Blick war wie ein Laserstrahl, auf seine Frage nicht zu antworten war unmöglich.

Einen Augenblick wirkte sie verblüfft, dann antwortete sie. »Zu essen. Die meisten von uns haben fast nichts. Und es hat schon Prügeleien wegen Essen gegeben. Wir brauchen auch mehr Schutz. Hier drinnen ist die Hölle.« Ihre Augen weiteten sich dabei, und sie sah sich um.

»Okay.« Er nickte. »Ich werde sofort etwas unternehmen, aber …« Er sah sich um. Er musste zu der Menge sprechen, aber da war kein Podium, keine Tribüne, nichts. »AID, ich muss höher stehen.«

»Das lässt sich machen. Ich kann Sie einfach mit Antigravitation hochheben. Aber das könnte negativ wirken.«

Der Präsident schüttelte den Kopf. Sich zu erheben wie Christus wäre kein gutes Bild. »Na ja, ich kann ja schließlich nicht gut jemandem auf die Schultern steigen.« Der Anzug wog eine halbe Tonne und war mit Munition voll geladen.

»Wenn Sie es wünschen, kann ich das Effektivgewicht des Anzugs auf beinahe Null reduzieren. Dann könnten Sie auf Agent Rohrbachs Schultern steigen. Ich kann ihn auch stabilisieren, damit Sie nicht herunterfallen.«

»Tu es«, sagte der Präsident und sah Rohrbach an. »Sie haben gehört?«

»Ja«, sagte der vierschrötige ehemalige Footballspieler mit zweifelndem Blick.

Als der Präsident spürte, wie er leichter wurde, kletterte er auf die Schultern des Agenten. Seine Beschützer drängten sich um ihren Schutzbefohlenen, um zu verhindern, dass er von der Menge bedrängt wurde.

Er blickte einen Augenblick lang in die Runde und entschied, dass er mit einem Scherz beginnen musste. »Hallo, Leute, ich komme von der Regierung und bin hier, um euch zu helfen!«

Ein paar der Zuhörer rissen verblüfft Mund und Augen auf, aber einige schmunzelten sogar.

»Ganz ernsthaft«, fuhr er fort, immer noch über Verstärker, aber nicht mehr so laut, weil die Menge sich inzwischen einigermaßen beruhigt hatte. »Hilfe ist unterwegs. Ich selbst werde hier erst dann weggehen, wenn sie eingetroffen ist. Aber Sie müssen auch mithelfen! Dort drüben liegen Zelte, die aufgebaut werden müssen. Ich werde weitere Soldaten herschicken, damit die mithelfen, aber mit ein wenig Organisation hätten Sie die Zelte auch schon längst selbst aufbauen können. Lebensmittel«, fuhr er fort und hielt dann inne. »AID?« Auch das wurde über Lautsprecher übertragen.

»Sir?«

»Gibt es irgendwo eine größere Feldkücheneinheit, die man hierher schicken könnte? Eine in der Nähe?«

»Ja, Sir. Die Versorgungskompanie für die Dreiunddreißigste Division befindet sich weniger als vier Meilen von hier.«

Der Präsident ließ den Blick über die Menge schweifen. »Ich werde die hierher in Bewegung setzen. Und andere Einheiten zu den anderen Camps. Sie haben Ihrem Land Ihr Bestes gegeben, und jetzt bekommen Sie etwas von dem, was Ihnen gehört, zurück.

Aber Sie müssen mithelfen. Zusammenarbeiten! Helfen Sie sich gegenseitig! Dort drüben ist ein Krankenhaus«, sagte er und wies über seine Schulter. »Wenn es hier Verletzte gibt, dann helfen Sie ihnen, dass sie dort hinüberkommen. Die Starken sollen den Schwachen helfen, bis wir unser Leben wieder neu aufgebaut und in Ordnung gebracht haben!«

»Wann können wir nach Hausei«, hallte eine Stimme aus der Menge. Das löste ein ärgerliches Grollen aus.

Das Gesicht des Präsidenten verfinsterte sich. »Ich habe es nicht gewollt, dass die meisten von Ihnen weggehen müssen! Und deshalb habe ich den größten Fehler in der ganzen amerikanischen Geschichte begangen. Das werde ich nie wieder tun! Wenn die Streitkräfte aufgestellt und bereit sind, werden wir nach Hause gehen. Wenn alle Einheiten bereit sind. Wenn wir diesen verdammten Posleen-Mistkerlen in den Hintern getreten haben, gehen wir nach Hause!« Die Jubelrufe, die das auslöste, klangen nicht sehr überzeugend, aber mehr war unter diesen Umständen nicht zu erwarten. Dass die meisten Häuser wahrscheinlich zerstört sein würden, erwähnte er lieber nicht. Diejenigen, die nicht vermint waren, würden von den Posleen zuerst geplündert und dann demoliert.

»Ich habe großen Mist gebaut«, räumte der Politiker ein. »Und sobald einen Augenblick lang Ruhe herrscht, werde ich mich dem Kongress stellen, damit er ein Amtsenthebungsverfahren einleitet.«

Der Schock, den er mit dieser Aussage auslöste, war so groß, dass ein Kameramann tatsächlich die Kamera fallen ließ. Auch ein paar Mikrofone fielen herunter.

»Bis dahin werde ich durchhalten. Ich stehe mit General Horner und General Taylor in Verbindung. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen, aber wir haben die Invasion im Süden völlig zerschlagen, indem wir die Taktik eingesetzt haben, die schon vor der Landung ausgearbeitet war. General Keeton und das Zwölfte Korps haben Großartiges geleistet.

Aber hier in Nord-Virginia ist die Schlacht noch nicht vorbei. Es kommt immer noch zu vereinzelten Landungen, und wir haben in diesem Bereich keine nennenswerten Streitkräfte. Also werde ich hier bleiben, bis weitere Unterstützung eintrifft.«

Als der Chef seines Bewachertrupps, auf dessen Schultern er stand, das hörte, begann er leise und hingebungsvoll zu fluchen.

»Dem Plan nach war ich nach Camp David unterwegs und sollte dort einen Bunker aufsuchen«, gab er zu und schüttelte den Kopf. »Aber wenn ich das hier sehe, dann sehe ich auch, wo man mich wirklich braucht. General Horner und General Taylor können diese Schlacht auch führen, ohne dass ich ihnen dabei dreinrede. Und sobald hier alles in Ordnung ist, werde ich zu den anderen Camps fahren, um sicherzustellen, dass alles in Ordnung geht.«

Er ließ den Blick ein letztes Mal über die Gesichter schweifen, die ihm alle entgegenblickten, und hatte das Gefühl, dass der Mob von ihm geradezu Energie trank. Die Gruppe war völlig gemischt. Vielleicht waren da ein paar schwarze Gesichter mehr als andere, aber da standen weiße Männer in Anzügen neben schwarzen Arbeitern, Latinos neben Orientalen, Hindus Schulter an Schulter mit Pakistanis. In Anbetracht des Entsetzlichen, das die Aliens über die Erde gebracht hatten, waren kleine Unterschiede wie die zwischen Shiva und Allah für den Augenblick vergessen.

Und alle blickten auf ihn, suchten bei ihm die Kraft, um die schweren Zeiten zu überstehen. Was auch immer für Fehler er gemacht haben mochte, wie schlimm auch immer es gewesen war und sein würde, er war ihr Präsident und stand in der Zeit der Not zu ihnen. Das war fast eine warme Mahlzeit wert.

»Und jetzt werde ich meinen Marines sagen, dass sie Ihnen zeigen sollen, wie man Zelte aufstellt und wie man Latrinen gräbt. Alle werden mithelfen müssen, alle werden etwas zu tun bekommen. Und alles, was hier getan wird, ist wichtig. Und ich werde dafür sorgen müssen, dass Proviant herbeigeschafft wird und was sonst noch gebraucht wird.

Wir sind Amerikaner, schwarz, weiß, rot oder gelb, wir sind die Nachkommen von Leuten, die gelernt haben, wie man überlebt! Und wir haben immer wieder bewiesen, dass wir deswegen die zähesten und die härtesten Menschen der ganzen Welt sind! Jetzt ist die Zeit, das erneut zu beweisen.« Unter lauten Jubelrufen sprang er von Rohrbachs Schultern und schüttelte den Kopf.

»Was für eine beschissene Lage«, flüsterte er dem Mann zu.

Rohrbach rieb sich bloß die Schulter und runzelte die Stirn.