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Pentagon, Virginia,
United States of America, Sol III
1749 EDT, 9. Oktober 2009
»Guten Abend, ich bin Bob Argent im Pentagon.« Das vertraute Gesicht des Reporters wirkte finster. Er stand in einem hell erleuchteten Flur, im Hintergrund konnte man Gestalten in grünen, blauen und schwarzen Uniformen herumwuseln sehen. »Wenn ich sagen würde, die bevorstehende Landung der Posleen habe das Militär der Vereinigten Staaten unvorbereitet angetroffen, wäre das nicht ganz richtig, wohl aber trifft zu, dass die Posleen definitiv früher und auch in größerer Zahl eingetroffen sind, als man das erwartet hatte. Wir werden Sie im Laufe des weiteren Geschehens mit Live-Berichten vom Continental Army Command hier im Pentagon auf dem Laufenden halten, wo ein GalTech-Computer neuesten Standes intensiv damit befasst ist, wahrscheinliche Landungsgebiete zu bestimmen. Nach augenblicklicher Einschätzung wird die endgültige Landezone vermutlich erst eine halbe Stunde vor der tatsächlichen Landung ermittelt werden können, und so lange bleiben wir hier auf Live-Schaltung und warten auf neueste Erkenntnisse. Es wird damit gerechnet, dass der Kommandeur der Kontinental-Armee im Laufe der nächsten Stunde eine kurze Pressekonferenz abhalten und sich zu den Verteidigungsplänen und zu bis dahin bekannt gewordenen Verlusten innerhalb und außerhalb Amerikas äußern wird, die durch das Bombardement eingetreten sind. Bob Argent, live im Pentagon.«
Als die Nachricht über das Radio kam, nahm Shari Reilly ihre Schürze ab, reichte sie wortlos dem Geschäftsführer und verließ das Waffle House, ohne sich umzusehen. Wenn es ihm nicht passte, konnte er ihr ja ihren Lohn überweisen. Die meisten Gäste verließen das Lokal ebenfalls, und nur wenige von ihnen bezahlten. Sie hatte darauf vorbereitet sein wollen, aber nachdem der Kinderhort und die Miete und die Lebensmittel sowie die Raten bezahlt waren, blieb nicht viel übrig. Sie hatte ganze dreißig Dollar in ihrer Handtasche und würde, wenn nötig, zunächst ungedeckte Schecks ausstellen, aber zuallererst musste sie ihre Babys holen.
Wo auch immer die Posleens landeten, es würde Chaos geben, und deshalb musste sie ihr bares Geld so lange wie möglich festhalten. Aber wenn sie die Stadt verlassen musste, brauchte sie vorher einige Dinge. Das Baby – Susie war eigentlich gar kein Baby mehr, eigentlich war sie mit ihren zwei Jahren schon ein richtiges großes Mädchen, fast so groß wie Kelly, aber sie brauchte immer noch Windeln – und der kleine Billy waren krank und brauchten Medikamente. Dann brauchten sie Essen für unterwegs, etwas Haltbares, und Batterien. Wasser in Flaschen. Sobald sie die Kinder abgeholt hatte, würde sie zu WalMarkt oder zu Target fahren müssen, wie alle anderen in Fredericksburg.
Sie ging zu ihrem zerbeulten, grauen GrandAm, Baujahr 1995, eine verblichene Schönheit in ausgebleichten Kleidern, der das dünne Haar unter dem Haarnetz heraushing, stieg ein und trat ein paar Mal das Gaspedal durch. Nach einigen Fehlzündungen sprang der Motor schließlich an. Sie bog auf die Hauptstraße ein und überlegte, ob sie vielleicht zuerst in die Geschäfte fahren und erst dann die Babys abholen sollte, aber etwas drängte sie, sie jetzt, wo die Gefahr da war, möglichst schnell bei sich zu haben,.
Ihr Babysitter war ziemlich aufgeregt, wollte die Kleinen behalten, während Shari einkaufte, aber schließlich überredete sie sie und fuhr zu den Shopping Mails. Als sie wieder auf der Hauptstraße war, staute sich der Verkehr bereits.
Sie wendete, fuhr um die Schlange aus Autos und Pick-up-Trucks herum, die sich vor dem Waffenlager der Garde stauten, und fand schließlich eine Tankstelle. Nachdem sie schließlich bis zur Zapfsäule vorgedrungen war, tankte sie mit Normal voll und ging in den 7-Eleven-Shop. Als sie vorne an der Schlange angelangt war, zog sie ihr Scheckheft heraus und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Sie kaufte jetzt seit über drei Jahren in diesem Laden bei Mr. Ramani ein und wusste, dass er nein sagen würde.
»Nehmen Sie einen Scheck?«, fragte sie und zeigte ihm ihr Scheckheft.
Mr. Ramani musterte sie ohne jeden Ausdruck in seinem kohlschwarzen Gesicht und nickte dann. »Datieren Sie ihn vor.«
»Was?«
»Sie sollen ihn vordatieren. Und mich anrufen und mir sagen, ob ich ihn einreichen kann.« Er zog seine Karte heraus und drückte sie ihr in die Hand.
Sie war den Tränen nahe, aber dann riss sie sich zusammen und schrieb den Scheck so schnell aus, dass ihre Hand sich dabei fast verkrampfte.
»Und passen Sie gut auf sich auf, ja«, redete ihr der Hindu zu, als er den Scheck entgegennahm.
»Okay«, antwortete sie, und dann platzte es aus ihr heraus, »Sie auch. Gott segne Sie.«
»Danke, und möge Ihr Gott Sie segnen, Sie und Ihre Kinder«, sagte er und deutete auf den Mann hinter ihr. »Sie zahlen entweder bar oder mit Kreditkarte!«
»Warum?«, fragte der verblüfft und steckte sein Scheckheft weg.
»Sie haben Geld.«
Shari ging hinaus und kämpfte immer noch mit den Tränen, als sie sich in den Verkehr einreihte.
Lieutenant Colonel Frank Robertson, Bataillonschef des 229th Pioneer Battalion der United States Ground Forces stand in Habachthaltung am Kopfende des Konferenztisches. Als er am Nachmittag in Fredericksburg in der Befehlszentrale eingetroffen war, hatte er zuallererst Anweisung erteilt, die Stühle zu entfernen, schließlich »würde niemand Zeit haben, sich hinzusetzen.«
»Also, Gentlemen«, sagte er zu seinen Kompaniechefs und den Angehörigen seines Stabes, »wir haben das ja oft genug durchgespielt. Die Posleen sind früher als erwartet und in größerer Zahl als erwartet hier eingetroffen, aber das hat eigentlich nichts zu besagen. Wir haben unser komplettes Gerät und sämtliche Munition, einschließlich aller notwendigen Sprengladungen, in dem neuen Lager, und bis man uns die wahrscheinliche Landezone bekannt gibt, sollte die überwiegende Mehrzahl unseres Personals eingetroffen sein.« Den Chef der Alpha-Kompanie, die für das Gerät verantwortlich war, und seinen Stellvertreter würde das nicht mit einschließen, beide waren dienstlich unterwegs und würden mit Sicherheit nicht mehr vor der Landung zurückkehren.
»Es gibt effektiv zwei Möglichkeiten. Entweder sind wir in der Landezone oder wir sind nicht in der Landezone. Wenn wir nicht in der Landezone sind, reagieren wir befehlsgemäß und versuchen zu verhindern, dass die Posleen ausschwärmen, und halten sie fest, bis hinreichende Einheiten eingetroffen sind, um die gelandeten Streitkräfte zu vernichten. Da dies die wahrscheinliche Situation sein wird, möchte ich, dass sämtliche Kompanien beladen und bereit zum Ausrollen sind, sobald ich den Befehl dazu erteile. Die Sprengpläne für jede einzelne Brücke in Virginia und eine Liste unserer primären, sekundären und tertiären Ziele liegen Ihnen vor.
Falls eine Landung in unserem Zuständigkeitsbereich, also Zentral-Virginia, erfolgt, werden wir weisungsgemäß sämtliche Brücken, die aus dem vom Feind besetzten Bereich herausführen, zur Sprengung vorbereiten. Ohne ausdrücklichen Befehl werden Sie keine, ich wiederhole, keine Brücken zerstören, sofern die Posleen nicht in nahem Kontakt sind, und das heißt im Umkreis von tausend Metern oder weniger.«
Er hielt einen Augenblick lang inne und suchte offenbar nach einer passenden Formulierung. »Ich denke, wenn Sie darüber noch nicht gesprochen haben, haben Sie zumindest darüber nachgedacht. Es ist möglich, genauer gesagt, es ist wahrscheinlich, dass auf einigen dieser Brücken … Flüchtlinge sein werden, wenn es zu Nahkontakt mit den Posleen kommt.
Wir haben alle die Nachrichten und die offiziellen Berichte von Barwhon und Diess gesehen, also wissen Sie, was Flüchtlinge von den Posleen zu erwarten haben. Sie könnten versucht sein, die Flüchtlinge über die Brücken zu lassen und sie erst dann zu sprengen, wenn die Posleen darauf sind. Meine Herren, ich werde jeden, der das tut, vor ein Kriegsgericht bringen. Sie haben in diesem Punkt keinerlei Ermessensspielraum. Sie werden die Brücke sprengen, wenn die Posleen sich ihnen auf fünfhundert Meter genähert haben. Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, dass die Posleen in den Besitz einer intakten Brücke kommen. Ist das klar?« Aus den ernst blickenden Gesichtern um ihn herum war ein gedämpftes, zustimmendes Murmeln zu vernehmen. »Gut, gibt es dann noch irgendwelche Fragen?«
Nur eine Hand hob sich, sie gehörte dem amtierenden Chefingenieur der Division, der noch schrecklich jung war und erst im vergangenen Jahr die University of Virginia absolviert hatte. Er kam von der vom Staat geförderten Offizierskandidatenschule, die die meisten Offiziere Virginias lieferte.
»Ja, Lieutenant Young?«
»Und wenn wir uns selbst in der Fünfhundert-Meter-Zone befinden, Sir?«
Robertson antwortete nicht gleich und blickte in die Runde, sah lauter ernste ältere Gesichter. Die meisten von ihnen kannten sich bereits seit Jahren, und er fragte sich, wie lange er wohl noch die gleiche Gruppe vor sich sehen würde. »Nun, Lieutenant, in dem Fall werden wir sterben, und all diejenigen, die wir lieben, mit uns. Wir haben dann lediglich die Chance, möglichst viele Posleen mit uns in die Hölle zu nehmen.«
Mueller hatte den schweigsamen Ingenieur seit kurz nach Sonnenaufgang in der Stadt herumgefahren. Sie hatten sich am Morgen das Universitätsviertel angesehen, der Südteil von Richmond – mit seiner eigentümlichen Mischung aus Gerüchen von Papierfabriken und Tabakverarbeitung – war am Nachmittag an der Reihe gewesen. Anschließend, als allmählich die Abenddämmerung einsetzte, war Mueller nach Schockoe Bottom gefahren. Nach einer kurzen Tour am Grunde der Senke hatte er vor, nach Libby Hill hinaufzufahren, wo es den besten Ausblick auf Richmond gab.
Doch dazu kam es nicht, denn sein Fahrgast erteilte, zum ersten Mal an diesem Tag, einen Befehl und wies ihn an, in die Twelfth Street einzubiegen und ihr bis zur Byrd zu folgen. Nach einer Schwindel erregenden Folge von Abbiegemanövern und nachdem sie dreimal angehalten hatten, um sich auf der Karte des Staatlichen Geologischen Dienstes zurechtzufinden, die sie mitgebracht hatten, hielten sie schließlich unter der Unterführung von Schockoe Slip an, einer steinernen Bogenbrücke, die früher einmal die eigentliche Stadt mit dem Kanawaha-Kanal verbunden hatte. Jetzt verband sie zwei moderne Bürokomplexe, die man unter teilweiser Erhaltung der Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert errichtet hatte.
»Sie denken doch an etwas«, erklärte Mueller, als der Ingenieur wieder seine Karte zu Rate zog und abwechselnd den Stadtplan betrachtete. Detailliertere Karten, die die Stadtverwaltung zur Verfügung gestellt hatte, übersäten den Rücksitz des Dienstwagens.
»Mhm«, antwortete Keene abwesend. Er stieg aus und ging die grauen Steintreppen von der Canal Street zum Schockoe Slip hinauf. Oben blieb er stehen und sah nach Schockoe Bottom hinunter. Mueller betrachtete dieselbe Szenerie und konnte ein paar gute Positionen sehen, wo sich eine kleine Einheit einnisten konnte, aber nichts, was seiner Ansicht nach einen landesweit berühmten Fachmann für Pionierwesen interessieren konnte.
Keiner der städtischen Beamten oder Techniker hatte offiziell für eine »Besichtigungstour der Sehenswürdigkeiten« zur Verfügung gestanden. Die strategische Planung für die Verteidigung von Richmond hing noch völlig in der Luft, das war einer der Gründe, weshalb Continental Army Command John Keene geschickt hatte. Keenes Vorschläge für die Nutzung des Terrains bei der Planung der Verteidigungsanlagen des Tennessee River hatten ihm die Aufmerksamkeit des Chefingenieurs der Third Army eingetragen. Als dann die Planung in Richmond ins Stocken geraten war, hatte der Chefingenieur der First Army angeboten, ihm Keenes Dienste zur Verfügung zu stellen.
Aber obwohl Keene vom Chef des Twelfth Korps, dem man die Verteidigung von Richmond und des südlichen Virginia übertragen hatte, begeistert empfangen worden war, hielt sich die Begeisterung bei den anderen Technikern in engen Grenzen. Jeder von ihnen verfolgte sein eigenes Lieblingsprojekt, und die Streitereien zwischen den Fachleuten waren der eigentliche Grund dafür, dass die Arbeiten nicht vorangingen.
Colonel Bob Braggly, der Chef der Pionierbrigade des Korps, zog es vor, auf Libby Hill ebenso wie auf Mosby Hill gewaltige Batterien zu errichten und das Zentrum von Richmond den Posleen preiszugeben. Der Chef der städtischen Ingenieurabteilung, dem im Rahmen der neuen »Fortress Forward«-Verteidigungsdoktrin quasi militärischer Status zugewachsen war, weigerte sich entschieden, auch nur einen Zollbreit Boden preiszugeben und setzte sich entschieden für den Bau eines Walls um die Stadt ein.
Man hatte mehrere örtliche Baufirmen eingeschaltet, um auf die Weise das Patt aufzulösen, aber das hatte lediglich zur Folge gehabt, dass diese ihrerseits eigene Lösungen in Vorschlag brachten oder sich dadurch gegenseitig lähmten, dass sie sich auf die eine oder andere Seite schlugen. Jedes der beiden Projekte würde mit Leichtigkeit der größte Bauauftrag sein, den Richmond in den letzten hundert Jahren erteilt hatte, zehn- oder zwanzigmal größer als der Bau des Flutwalls.
Der Korpskommandeur hatte mit Entschiedenheit erklärt, dass nicht die geringste Chance bestand, unter Einsatz der zur Verfügung stehenden Truppen einen so langen Befestigungswall zu verteidigen. Daraufhin hatte ihn einer seiner Untergebenen, der Chef der 29th Infantry Division, in der Befehlskette übergangen und Studien, die den Bau des Befestigungswalls unterstützten, an die First Army geschickt. John Keene als desinteressierter Außenseiter, der vom Nationalen Befehlsstab empfohlen war, bot eine Chance, das Patt endgültig zu lösen.
Keene betrachtete erneut die Karte und ging am Gebäude der Martin Agency entlang in den Zirkel auf 100 Schockoe Slip. Mueller war noch nie dort gewesen und hatte ein wenig die Orientierung verloren, aber als er die Rich-Brauerei sah, wusste er wieder Bescheid. Der Tag war lang gewesen, und er überlegte gerade, wie er subtil den Vorschlag anbringen könnte, dass vielleicht die Zeit für eine kleine Erfrischung gekommen sei, als Keene schließlich seine Frage beantwortete: »Ich denke an Diess.«
»Ich auch«, bemerkte Mueller, ohne dabei seine eigene Zielsetzung aus den Augen zu verlieren, »für Oktober ist es wirklich warm.« Tatsächlich war es sogar für die Jahreszeit ausgesprochen kühl, aber er wollte gerade fortfahren, dass ein kühles Bier jetzt gut tun würde, als ihm klar wurde, dass Keene wie erstarrt wirkte. Er wartete einen Augenblick, dass der Ingenieur fortfuhr. »Soll ich jetzt weiter fragen?«, meinte er schließlich, »oder soll ich besser den Mund halten und warten?«
Keene musterte immer noch den Springbrunnen mitten auf dem Platz ohne zu antworten und murmelte: »Captain Morgan, tut mir wirklich Leid, was wir Ihnen jetzt antun werden.« Dann drehte er sich zu Mueller herum und deutete mit dem Daumen über die Straße. »Zeit für ein kühles Bier, Sergeant.«
Als sie im Halbdunkel der Gaststube Platz genommen hatten, schien Keene plötzlich aufzutauen.
»Okay«, sagte er, nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas und deutete mit dem Zeigefinger auf die Landkarte, »wie tötet man Posleen?«
»Na ja, die haben ja allem Anschein nach beschlossen, kein Giftgas einzusetzen«, witzelte Mueller, »damit bleibt ja nur die Artillerie.«
»Richtig, und wo liegt das Problem, wenn man sie mit Artillerie erledigen will?«
»Ich weiß nicht.« Mueller wartete darauf, dass Keene fortfuhr, bis ihm schließlich klar wurde, dass sein Gegenüber ihn auf die Probe stellte. »Vorgeschobene Beobachter, nehme ich an. Um sie zu sehen und dabei selbst am Leben zu bleiben«, antwortete er schließlich ein wenig unwirsch. Er hatte schließlich am eigenen Leibe erlebt, wie schwer es war, Posleen umzubringen.
»Teilweise. Und dass sie, wenn man sie nicht bindet, auf engem Raum meine ich, sowohl mehr Schaden anrichten als auch Gelegenheit bekommen, ihrerseits anzugreifen. Das Beste ist, wenn man sie auf Armeslänge hält, und wenn das nicht möglich ist, sie an einem Ort festhält, wo man selbst vom Terrain aus im Vorteil ist, sei es nun natürliches Terrain oder eine Befestigungsanlage. So weit noch einverstanden?«
»Ja.«
»Okay. Auf Diess haben die Menschen die Boulevards benutzt und sie in gewaltige Schlachthäuser umfunktioniert. In Tennessee haben wir versucht, das mit Wällen und sogar einigen Tunnels nachzuempfinden. Man muss sie hineinlocken und dann dicht machen und sie mit Maschinengewehren und Artillerie niedermähen.«
»Das funktioniert hier nie«, wandte Mueller ein. Er war mit der Operation auf Diess vertraut, wo der Kommandeur des Third Korps entlang der Boulevards Mauern errichtet und die Posleen hingeschlachtet hatte. Aber der Unterschied zwischen den Städten auf Diess und denen hier in Virginia war gewaltig. »Die Hochhäuser sind zu zerbrechlich, die Entfernungen kürzer und die Leute vom Städtischen Bauamt würden einen Tobsuchtsanfall bekommen. Anschließend würde der Gouverneur, der mit dem Chef des Bauamts gut befreundet ist, und der Chef der Neunundzwanzigsten und darüber hinaus sogar noch der Präsident einen Tobsuchtsanfall kriegen.«
»Nun, das mag sein«, pflichtete Keene ihm bei. »Aber würden die dann Schockoe Bottom aufgeben?«
Mueller überlegte. »Möglicherweise«, erwiderte er schließlich. »Ja, ich muss wohl sagen, wahrscheinlich.« Das Viertel war halb verlassen, und es gab dort nur wenige Firmen und ein paar Bars, die die örtlichen Streitkräfte mit Getränken versorgten.
»Auf jedem anderen Planeten, den die Posleen in den letzten einhundertfünfzig Jahren überfallen und erobert haben, steckt der ganze Reichtum, der aus Produktion erwachsende Reichtum, in den Megascrapers«, gab Keene zu bedenken. »Die Galakter haben ihre Fabriken in diesen Bauten errichtet.
Also wird damit gerechnet, dass die Posleen sich unsere Wolkenkratzer vornehmen. Je niedriger ein Bau ist, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass die Gäule ihn sich als Ziel aussuchen.«
»Wenn sie also nahe bei Richmond landen – und zwar aus welcher Richtung auch immer kommend –, werden sie Kurs auf das Stadtzentrum nehmen. Nun sollte Richmond bis dahin evakuiert sein. Die Städtische Baubehörde und ihr Chef können schimpfen so viel sie wollen, CONARC hat nun einmal die Innenstädte zu Verteidigungszonen erklärt, und zum Teufel mit den Vororten.
Also werden wir die Posleen mit bis jetzt noch nicht endgültig festgelegten Mitteln aus allen Richtungen nach vorne locken, aber alle Straßen werden nach Schockoe Bottom führen und keine wieder heraus. Das eigentliche Problem wird sein, wie wir sicherstellen, dass sie zum einen nur nach Schockoe Bottom kommen können und zum anderen nicht wieder heraus.«
»Posleen rein …«, sagte Mueller, und sein Lächeln wurde breiter.
»… aber nicht wieder raus. Sie haben’s erfasst. Ich möchte mir jetzt diese Anhöhen auf der anderen Seite ansehen …«
»Das ist Libby Hill. Das steht als Nächstes auf unserem Programm.«
»Aber zuerst möchte ich mir die Senke noch näher ansehen, denn das heißt Bottom doch. Es wäre gut, wenn wir ein paar Stellungen für direkten Beschuss in diese Senke hinein bauen könnten. Ich hatte daran gedacht, von der anderen Flussseite her zu schießen, aber vielleicht könnten wir auch eine Berme errichten, eine künstliche Böschung.«
»Was haben Sie denn gegen einen Wall?«, fragte Mueller verdutzt. »Davon abgesehen, dass man dafür Straßen aufreißen muss. Können wir den nicht einfach aufschütten?«
»Welchen Wall?«, fragte der Ingenieur seinerseits verdutzt.
John Keene blickte an der zehn Meter hohen Betonmauer empor, die den eine Meile langen Flutwall von Richmond bildete, und grinste wie ein Teenager. »O Mann«, sagte er und deutete auf das Symbol des Army Korps of Engineers, eine Burg mit zwei Türmen, das die Mauer zierte, »dieses Symbol werden die Posties noch hassen.«
Die nächsten zwei Stunden schlenderten er und Mueller um den Flutwall, Schockoe Bottom und das umgebende Terrain herum und benutzten gelegentlich auch ihren Wagen, wenn ihnen in der Ferne etwas Auffälliges ins Auge stach. Schließlich standen sie im Mosby Park auf Mosby Hill, wo unter Aufsicht von ein paar älteren Lehrern eine Gruppe Kinder aus einem Kindergarten in der Nähe spielten. Als Keene den Kindern beim Spielen zusah, gingen ihm Visionen von Feuer durch den Kopf.
»Wir können die Hinterseite dieses Hügels einfach mit diesen Artilleriedingern mit den kurzen Rohren voll packen …«
»Mörser, meinen Sie?«, fragte Mueller und schmunzelte.
»Ja, genau. Wissen Sie, dass man damit mehr Schaden anrichten kann als mit viel größerer Artillerie?«, fuhr Keene eifrig fort.
»Mhm, ja. Das habe ich gewusst.«
»Weil sie keine so schweren Hülsen brauchen«
»Ist mir bekannt, Sir.«
»Gut. Wie auch immer. Wir blockieren den Ausgang aus dem Kessel auf dieser Seite, indem wir die verlassenen Fabriken dort drunten sprengen und den Kesselausgang mit dem Bauschutt auffüllen.«
»Kapiert«, sagte Mueller und kritzelte eine Skizze auf sein AID.
»Auf der anderen Seite sieht es nicht ganz so gut aus, aber wir haben ja genügend Zeit und Beton. Wir werden einen Wall vom Hügel der Ethyl Corporation bis zum Flutwall bauen. Und dann um das Terrain der Stadt herum, im Grunde genommen die Canal Street hinunter bis zur Twelfth, dann hinüber zur Thirteenth und schließlich an den Seitenstraßen entlang bis zur 95.«
»Gut«, nickte Mueller.
»Wieso gut?«
»Weil dann die Rich-Brauerei auf der Innenseite bleibt.«
»Ja.« Keene lachte. »Daran hatte ich gar nicht gedacht.«
»Na ja, sonst hätten wir eben die Mauer ein bisschen weiter nach draußen verlegen müssen.«
»Richtig.« Keene lachte erneut, doch dann verdüsterte sich sein Blick.
»Hey, weshalb sind wir hier auf der Crowne Plaza statt vor dem Berkley Hotel? Das liegt doch unmittelbar neben der Brauerei.«
»Hardy Boys.«
»Was?«
»Cyberpunks. Die waren zuerst da. Eine der Grundregeln für Special Operations: nie Cybers und SF miteinander mischen, das funktioniert einfach nicht.«
»Was zum Teufel haben Cyberpunks in Richmond verloren?«
»… und Cybers nie fragen, was sie irgendwo verloren haben.«
»Oh.« Keene schüttelte verständnislos den Kopf und kam wieder zur Sache. »Der Wall wird folgendermaßen verlaufen: Interstate 95 bis zur Ausfahrt Franklin. Alle Zugänge zur Stadt blockieren. Alle Gebäude für direkten Beschuss des Kessels einsetzen. Dann die Thirteenth hinauf und quer bis zur Twelfth bei Cary und hinunter zur Byrd. Das alte Elektrizitätswerk liegt außerhalb, das Gebäude von Federal Reserve und Riverfront Plaza innerhalb. Verteidigungsanlagen bis zur Belvedere Street, von dort hinunter zum Fluss, wo wir die einzige Mauer haben werden, die wir erst noch bauen müssen.
Aus welcher Richtung die Posleen auch kommen, alle Straßen, die nach Schockoe Bottom führen, sind offen, und alle Straßen, die irgendwohin sonst führen, sind geschlossen. Packen Sie die Hinterseite der Mauer und sämtliche Hochhäuser mit Soldaten voll, die alle in den Kessel hinunterschießen. Artillerie und Mörser auf den Anhöhen. Wenn sie nur auf der Nordseite sind, können wir Artillerie auf der Südseite des James River postieren und die Gäule den ganzen Tag lang bepflastern.
Gut«, meinte er schließlich und hielt einen Augenblick lang inne. Seine Augen strahlten förmlich, »das wird grandios werden.«
»Vergessen Sie bloß nicht«, warnte Mueller, »dass kein Plan je die Berührung mit dem Feind überlebt.«
»Was?«, fragte Keene sichtlich verwirrt.
»Haben die Ihnen das in Tennessee nicht gesagt?«
»Nein. Warum ist das so?«
»Das ist so etwas wie ein militärisches Axiom«, erklärte Mueller und sah zu, wie der nachmittägliche Verkehr allmählich dichter wurde. »Die andere Seite will auch gewinnen, und deshalb überlegen die, wie sie den gegnerischen Plan zunichte machen können. Obwohl das bei den Posleen kein so großes Problem wie bei Menschen ist. Und dann sind da all die Kleinigkeiten, an die man nicht denkt. Befehlsänderungen, die die wirkliche Lage nicht genügend berücksichtigen, oder schlechte Kommunikation. Nicht zu vergessen die ›Nebel des Krieges‹, also Entscheidungen, die auf Grund von etwas getroffen werden, das man für die Wirklichkeit hält, obwohl die Wirklichkeit eigentlich eine andere ist.
Jedenfalls, man entwickelt einen Plan und verinnerlicht ihn, aber man muss zugleich auch Alternativpläne entwickeln, für den Fall, dass der Hauptplan scheitert. Wenn der erste Plan verinnerlicht ist, aber man nicht damit rechnet, dass er perfekt verwirklicht wird, kann man aus dem Stegreif Änderungen entwickeln. Und dann entwickelt man seinen GZH-Plan.«
»Ein GZH-Plan?«, fragte Keene und schüttelte den Kopf. »Was zum Teufel ist das denn?«
»GZH – wie Geh-zur-Hölle-Plan. Ein Plan für den Fall, dass alle anderen Pläne beim Teufel sind und der Wolf vor der Tür steht. Der ›Sie sind in ihren Stiefeln gestorben‹-Plan.«
»Oh.«
»Also, wie lautet der GZH-Plan?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Keene und blickte versonnen auf das Terrain unter ihm. »Ich verstehe mich nicht besonders gut darauf, Pläne für das Scheitern zu entwickeln.«
»Dann hat einer Scheiße gebaut, der behauptet, Sie seien ein Verteidigungsfachmann. ›Erwarte den Erfolg und plane für das Scheitern‹, steht auf demselben Blatt wie die anderen wichtigen Militär-Axiome wie ›Auf gefährlichem Gelände manövrieren, auf tödlichem Gelände kämpfend‹.«
»Die einzigen Militär-Axiome, die ich vor dem PVZ-Programm gekannt habe, hießen ›Melde dich nie freiwillig‹ und ›Lass dich nie auf einen Landkrieg in Asien ein‹.«
»Na schön, jetzt kennen Sie …« Mueller zählte an den Fingern und grinste dann, »äh, noch drei.«
Keene schmunzelte, als Muellers AID zirpte.
»Sergeant Mueller.«
»Ja, AID?«, sagte Mueller lächelnd.
»Fünf Posleen-Battleglobes sind gerade auf erdnahem Orbit aus dem Hyperraum ausgetreten. Nach Analyse von TERDEF wird in ungefähr drei Stunden mit der Landung gerechnet.« Die Stimme war so ausdruckslos, dass es einen Augenblick dauerte, bis beiden die Tragweite des Gehörten bewusst war.
»Was?« Muellers Augen wurden einen Augenblick lang groß und rund, der kalte Schweiß brach ihm aus. Er blickte unwillkürlich zum Himmel und schüttelte sich dann, hielt was er tat für sinnlos. Aber noch während er sich innerlich Vorwürfe machen wollte, blitzte es am wolkenlosen Himmel plötzlich auf. Die Detonation eines Antimateriereaktors war selbst bei heller Sonne deutlich zu erkennen.
Mueller sah Keene an, der immer noch über die Silhouette der Stadt blickte.
Oh, oh. »AID.«
»Ja, Sergeant Mueller?«
»Kontaktaufnahme mit Sergeant Major Mosovich. Sag ihm, der Korpskommandeur soll mit dem Verteidigungsplan noch auf Zeit spielen. Ich denke, wir haben eine Lösung.«
»Nun«, sagte Keene und wandte sich wieder dem Sergeant zu. »Jetzt begreife ich, was Sie da über Pläne gesagt haben. Ich denke, ich sollte mich wohl am besten gleich gestern daran machen, diesen GZH-Plan zu entwickeln.«