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Potomac River, in der Nähe des Potomac Creek,

United States of America, Sol III

0548 EDT, 10. Oktober 2009

Die Videofeeds der Bordkameras aller Peregrines wurden per Download an die North Carolina gesendet, begleitet von dem Befehl, auf die Kreuzung Williams und Kenmore Street zu feuern. Der Captain gab die Anweisung, das Video in das Bord-TV-System einzuspeisen, während die Taktikoffiziere über ihre Karten gebeugt diskutierten.

»Okay, die Williams Street ist die Virginia Staatsstraße 3, aber wo in drei Teufels Namen ist die Kenmore?«, fragte der S-2 verärgert. Taktische Karten enthielten üblicherweise keine Straßenbezeichnungen. Schließlich wurden die auch nie als Bezugspunkte für Feuerbefehle genannt. Nur im wirklichen Leben.

»Na ja, muss wohl ein Stück stadteinwärts sein«, meinte der leitende Artillerieoffizier. Der Lieutenant Commander wandte sich seinem Feuerleitoffizier zu. »Verlegen Sie das Feuer ein Stück weiter nach vorn und ziehen Sie es ein wenig auseinander. Zielen Sie auf alle größeren Kreuzungen auf dem Weg in die Stadt, pro Kreuzung eine Batterie.«

»Aye, aye.« Der Offizier fing an, Befehle in seinen Computer einzugeben, während die Taktiker wieder zu argumentieren begannen. Plötzlich sprang eine der Fernmeldetechnikerinnen von ihrem Platz auf.

»Sir«, sagte sie und nahm vor dem leitenden Artillerieoffizier Haltung an, »bitte um Erlaubnis, sprechen zu dürfen, Sir.«

Der Offizier drehte sich leicht gereizt zu ihr herum. »Was?«

»Ich wüsste, wie man vielleicht an eine Karte von Fredericksburg kommt, Sir.«

»Wie denn?«

»Über das Internet. Ich habe einen Laptop im Spind. Ich könnte ins Internet gehen und die Karte holen.«

»Scheiße«, sagte der S-2, »prima Idee, wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? Man könnte natürlich auch mit dem Kartenbüro des Verteidigungsministeriums Verbindung aufnehmen?« Er sah zu dem leitenden Fernmeldeoffizier hinüber und winkte ihn mit einer Handbewegung heran.

»Ich denke, Expedia wäre schneller, Sir«, meinte die Technikerin kleinlaut.

»Haben wir denn noch Internetzugang?«, fragte der Artillerieoffizier.

»Die Posleen haben sämtliche Standardsysteme in der Umgebung zerstört«, sagte der Fernmeldeoffizier, »aber wir könnten mit Kurzwelle durchkommen. Um was geht es denn?«

»Wir brauchen dringend eine Karte«, erklärte der Artillerieoffizier. »Ihre Technikerin hier meint, sie könnte sie aus dem Internet holen, wenn sie auf ihrem Laptop eine Verbindung ins Milnet herstellt.«

»Okay, Mädchen, gute Arbeit. Holen Sie Ihren Laptop. Wenn die Marines Sie aufhalten, dann sagen Sie denen, die sollen mich anrufen.«

»Yes, Sir«, strahlte die junge Frau und eilte zur Tür hinaus.

»Wie wollen Sie denn durchkommen?«

»Wir stellen eine Verbindung nach Norfolk her. Ich setze gleich jemanden darauf an.«

»Okay.«

»Sie wissen, dass wir in Kürze Gesellschaft bekommen werden«, meinte der S-2, immer noch über die Karte gebeugt. Er hatte die roten Markierungen zur Kenntnis genommen, die anzeigten, dass Posleen in der Nähe waren. Die Peregrines waren beim Verlassen des Zielgebiets auf fünf Meilen an das Schiff herangekommen. »Das sollte interessant werden.«

Wie alle anderen auf dem Schiff begann ihn das ständige Feuern der Hauptgeschütze allmählich zu langweilen. Nachdem sie die ersten paar Salven bejubelt hatten, war es einfach laut und monoton geworden. Wie es für die Besatzungen der Geschütztürme sein mochte, wollte er sich gar nicht ausmalen.

»Auf kurze Zeit«, lachte der Feuerleitoffizier.

»Ja«, nickte der Artillerieoffizier, »wenn die bloß alle ins Wasser kommen und sich taufen lassen würden.«

»Ein frommer Wunsch«, schmunzelte der S-2. Die Posleen würden keine große Freude an dem Empfang haben, den die North Carolina ihnen bereiten würde.

Es war mit weitem Abstand der monotonste Job, den das Schiff zu bieten hatte. Der Elektriker Klasse 2 war einer der Nahbeobachter, sozusagen die personifizierten Augen und Ohren des Schiffs. Da man beim Umbau des Schiffes davon ausgegangen war, dass es in extrem feindseliger Umgebung eingesetzt würde, übte er seinen Dienst, der normalerweise salzige Gischt und frische Meeresluft bedeutete, jetzt in einem engen, klimatisierten Kabuff aus.

Und statt einen schweren Feldstecher in der Hand zu halten und hie und da einen Tümmler oder einen auf die Wellen herunterstoßenden Raubvogel zu entdecken, musterte der Techniker unentwegt eine Reihe von zwanzig Bildschirmen, die alle an Kameras mit Restlichtverstärkern angeschlossen waren. Fünf waagrecht und vier senkrecht, mit den Nummern sechzig bis neunundsiebzig, vor und zurück, auf und ab, ab und auf, jeder ungerade Bildschirm, jeder gerade Bildschirm, vor und zurück, auf und ab, und das acht endlose Stunden lang.

Und dann, nach einer Ruhepause, die einem jedes Mal kürzer vorkam, wieder zurück an die Bildschirme, von denen jetzt jeder einzelne dieselbe monotone Szenerie des nächtlichen Potomacufers zeigte.

Als sie das erste Mal flussaufwärts gefahren waren, waren Zivilisten aus den Wäldern gekommen. Einige hatten ihre eigenen Boote, aber viele warteten nur am Ufer darauf, dass jemand sie rettete. Marines hatten sie mit Booten abgeholt, und jetzt drängten sie sich im Vorderschiff und warteten darauf, dass das Schlachtschiff in den Hafen zurückkehrte. Aber seit jenen ersten hektischen Stunden hatte sich am Ufer nichts mehr geregt.

Der Techniker hatte sich gerade eine Pepsi geholt und den ersten Schluck genommen, als zwischen den Bäumen, die die Marlboro Point Road säumten, ein Zentaur auftauchte und sofort mit seiner Schrotflinte das Feuer eröffnete.

Die Schrotkörner erreichten nicht einmal das Schiff – das eine Meile vom Ufer entfernt auf dem breiten Fluss vor Anker lag –, und der Schuss ging im Geschützdonner unter, aber der Beobachter fuhr sofort in seinem Sessel nach vorn und betätigte ein Mikro.

»Posleen-Report, Monitor achtundsechzig, steuerbord.«

»Posleen-Report, Monitor neunzig, backbord«, tönte die Sopranstimme einer weiblichen Beobachterin von den Backbord-Bildschirmen. Ein Dröhnen ging durch den Rumpf, als das erste HV-Geschoss gegen die Brückenpanzerung traf.

»PosRep, Monitor dreiundsiebzig, fünfundsiebzig, neunundsechzig … PosRep alle Monitore.«

»War Room, hier Beobachtungszentrale«, rief der Chief Petty Officer, der den Einsatz der Beobachter leitete, über das Interkom, »wir haben Full House.«

»Volle Automatik, sämtliche Thermopylae und Mark 49, Zonenverteidigungssystem einschalten«, befahl der Captain und ließ die Kamera, die seinen Monitor speiste, an dem plötzlich von Posleen wimmelnden Ufer entlangwandern.

Der für die Verteidigungssysteme zuständige Offizier klappte einen Deckel auf und schob einen Schlüssel in den Schlitz darunter. Mit einer einzigen Drehung schalteten sämtliche Nahverteidigungssysteme auf Vollautomatik.

Die ersten Nahverteidigungssysteme mit der Code-Bezeichnung Phalanx waren in den siebziger Jahren als Verteidigung gegen Anti-Schiffsgeschosse und Beschuss aus der Luft entwickelt worden. Im Prinzip war das System eine Kombination aus einem hoch empfindlichen Radarlenksystem und einer Gatling-Schnellfeuerkanone gewesen. Das Feuerleitsystem war fest auf der Kanone montiert, und die komplette Anordnung sah aus wie ein kleiner Roboter. Die kegelförmigen weißen Waffensysteme, die seit damals auf den Decks sämtlicher Schiffe der Marine aufblühten, erhielten sofort den Spitznamen »R2D2«. Als sich dann der Kampfauftrag der Navy änderte – vom Kampf gegen Menschen zum Kampf gegen Posleen –, hatte es zunächst den Anschein, als wären diese Waffen so wie der größte Teil der Navy auch überflüssig geworden.

Aber dieselben klugen Köpfe im Marinekommando, die darauf hingewiesen hatten, dass die Bodenwaffen der Posleen Schlachtschiffen aus dem Zweiten Weltkrieg praktisch nichts anhaben konnten, hatten auch noch eine weitere Erkenntnis über den Kampf gegen Posleen-Schwärme entdeckt. Zwar war es für Waffensysteme sehr schwierig, die Schwärme auszumachen, solange die sich nur bewegten oder standen, doch sobald sie zu feuern begannen, änderte sich das rapide. Der kegelförmige weiße Radom verschwand dann, und an seine Stelle trat ein vom Abrams-Panzer stammender schwerer Geschützturm und ein vom Hummer-25 ausgeborgtes Turmzielsystem, das über einen Infrarot-Detektor verfügte.

Als die Posleen-Gottkönige in ihren untertassenförmigen Fahrzeugen den Fluss herunterkamen, eröffneten sie sofort aus ihren zapfengelagerten, schweren Waffen das Feuer. Die Laser, HVM-Geschosse und Plasmakanonen gruben tiefe Furchen in die Panzerung des Schlachtschiffs und drangen auch gelegentlich zu den Munitionsmagazinen der Sekundärwaffen durch. Wenn das geschah, dröhnten gewaltige Explosionen von dem umkämpften Dreadnought. Aber mit einer einzigen Schlüsselumdrehung nahmen die Gezeiten des Krieges eine andere Richtung.

Die Thermopylae-Türme – nach einer berühmten Schlacht im antiken Griechenland benannt – schwenkten außenbords, die Infrarot-Detektoren fanden sofort Ziele, und dann lief alles Weitere automatisch ab, und jede einzelne Waffe registrierte IR-Spitzen in ihrem Verantwortungsbereich, überprüfte ihre Sicherheitssysteme, schwenkte in zwei Achsen und feuerte.

Jeder fünfte Schuss der wolframarmierten Munition war ein Leuchtspurgeschoss, und die Schussfolge war so groß, dass die Leuchtspurmunition einen zusammenhängenden Strahl bildete, einen gebogenen, orangefarbenen Laser, der sich die unverschämten Narren aussuchte, die es gewagt hatten, ein Schlachtschiff der Navy herauszufordern. Die Plasmakanonen und Laser erzeugten gewaltige thermische Signaturen, die sich deutlich vor dem nächtlich kalten Hintergrund abzeichneten.

Jede einzelne thermische Signatur wurde von den Zielerfassungssystemen weitergegeben und vom Verteidigungs-Bordcomputer registriert, welcher daraufhin die 5-Zoll-Sekundärkanonen außenbords schwenkte und sie mit Schrapnellmunition lud. Sein Algorithmus verlangte eine bestimmte Zahl von Signaturen in einem definierten Vektor. Wenn diese Bedingung erfüllt war, bestand eine 75%ige Wahrscheinlichkeit, eine signifikante Zahl von Posleen-Normalen zu treffen.

Die Wahrscheinlichkeitswerte konnten vom Monitor des Defensiv-Systemoffiziers abgelesen werden und wurden auch dem Captain zugeleitet. Jeder wartete darauf, dass die schweren Kanonen ihr Konzert begannen; der Wahrscheinlichkeitswert stieg zwar zunächst auch an, begann aber dann wieder zu sinken, als die schweren Waffen der Gottkönige nacheinander zum Schweigen gebracht wurden.

»Wahrscheinlichkeit auf Sechsundsechzig Prozent schalten«, sagte der Captain, der mit verschränkten Armen in seinem Kommandosessel saß und ständig hin und her pendelte. Er war nie mit der Standardeinstellung der Defensivsysteme einverstanden gewesen.

»Aye, aye, Sir«, bestätigte ein Systemtechniker und tastete den Befehl ein.

Unmittelbar darauf feuerten zwölf 5-Zoll-Doppeltürme mit Flechettes gefüllte Kartätschen in ihr Zielgebiet. Dann schwenkten sie hin und her und schleuderten alle eineinhalb Sekunden so etwas wie einen Bienenschwarm ans Ufer hinüber.

»Du großer Gott«, flüsterte der EL-2-Beobachter, als draußen die Zentauren hingemetzelt wurden. Die Toten türmten sich immer höher auf, während die Normalen wie von riesigen Besen zur Seite gefegt wurden und die Thermopylae einen Gottkönig nach dem anderen wegputzten.

Als die Wahrscheinlichkeitswerte in Ermangelung von Zielen absanken, wurde jeder Schuss eines Gottkönigs auf den gepanzerten Dreadnought von einem wahren Feuersturm beantwortet. Wenn Gottkönige nachrückten, konzentrierten diese das Feuer ihrer Kompanien auf die Sekundärtürme, die ihre Reihen so schrecklich dezimierten, doch die toten Posleen türmten sich, begleitet vom Brüllen der Schiffsartillerie, immer höher.

Althanara war nur ein Spürmeister, aber er wusste, wann ein Gefecht anfing, verloren zu gehen. Der massierte Beschuss vom Wasser her war schon schlimm genug, aber das, was er aus seinem Net Interface erfuhr, war noch schlimmer. Er winkte seinem Oolt und wandte sich zum Rückzug.

»Wohin, du Feigling!«, schrie Stenarnatta, der Schlachtenmeister, dem er sich angeschlossen hatte. »Das Netz wird dich zum Kenstain degradieren, wenn du nicht SOFORT zurückkehrst!«

»Bring dich doch selbst um, wenn du das willst«, schnaubte er. »Ich werde dieses Ding mit einem Po’osol angreifen!« Er wies auf die Schrotflinten seines Oolt. »Diese Abat-Knaller sind hier nutzlos.«

»Schön«, schnaubte der Schlachtenmeister, »lauf ruhig weg. Kenstain!«

Der Spürmeister wandte dem der Vernichtung geweihten Schlachtenmeister den Rücken und führte seine Kompanie im Laufschritt davon.

»Wir sind jetzt auf den Backbordmonitoren auf fünfundzwanzig Prozent runter und steuerbord sogar auf fünfzehn«, meldete der Defensiv-Systemoffizier. »Insgesamt sind wir bei den Sekundärsystemen um zwölf Prozent unter Norm; in Turm fünf hat es ein paar Ausfälle gegeben. Die setzen uns zu, und wir sind unter schwerem Beschuss von Fairview Beach, weil wir dort unsere Breitseiten nicht einsetzen können.«

»So weit so gut«, sagte der XO.

»Sir«, fuhr der Regional-Alarmtechniker dazwischen, »Alarm von CONARC!«

Althanara checkte die komplizierten Steuerorgane des Schiffes noch einmal durch. Normalerweise waren sie auf Automatik geschaltet, aber es gab einige Kessentai, die sie und ihren Einsatz studierten. Er freilich war praktisch frisch aus dem Nest, auf seinem ersten Eroberungseinsatz. Nun gut, wenn das Netz ihm in dieser schrecklichen Schlacht den Sieg gewährte, konnte es sein, dass die Schulden seiner ganzen Kompanie getilgt wurden. Vielleicht würde er es sogar schaffen, sich von diesem verdammten Schlachtfeld ein paar ordentliche Waffen zu holen.

Er gab den letzten Befehl in das Alld’nt-verdammte Gerät ein und spreizte den Kamm. »Mögen die Dämonen mir Glück schenken.«

Das Planetarische Verteidigungszentrum High Knob lag so offen da wie ein Bergwerk im Tagebau. Nach den allgemein gültigen Konstruktionsplänen waren sämtliche PVZ von oben aus kegelförmig geöffnet, so dass man das diverse Gerät einbauen konnte. Erst ganz am Schluss würden sämtliche Zentren mit Beton, Stahl und Felsgestein abgedeckt werden.

Aber weiter als bis zur Installation war der Plan nicht gekommen. Als die Geschütze nicht rechtzeitig eingetroffen waren, war die gesamte Zeitplanung durcheinander geraten. So kam es, dass das Verteidigungszentrum, das der Planung nach in einem Monat hätte fertig gestellt sein müssen, nach oben noch völlig offen war und dass man auch erst eines der vorgesehenen neun Geschütze in Stellung gebracht hatte.

Da die Zentren in diesem Zustand praktisch unfähig waren, sich zu verteidigen, hatten sie strikte Anweisung, landende Posleen-Verbände nicht anzugreifen. Man hielt sie für die »mobilen« Operationen zurück, welche die Posleen, wie es schien, völlig planlos starteten und die schon mehrfach menschlichen Verbänden gewaltig zugesetzt hatten. Man hoffte, dass es nicht zu so verheerenden Folgen kommen würde wie bei anderen Verteidigungszentren auf der ganzen Welt, wenn man die Landungsschiffe beim Aufsteigen angriff.

Das Euro-Festungskommando, eine gemeinsam von Frankreich und Deutschland betriebene Einheit, hatte sich dafür entschieden, die ersten Landungseinheiten anzugreifen. Die massiven europäischen Verteidigungsanlagen waren aus den Festungsgürteln entstanden, welche die beiden Länder in der Vergangenheit errichtet hatten, als sie noch Erbfeinde gewesen waren. Diese Festungsanlagen, in denen Millionen von Mannstunden an Arbeit steckten, waren von der ersten Angriffswelle praktisch atomisiert worden. Festungen, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg tagelang konventionellem Artilleriebeschuss standgehalten hatten, waren von zwanzig Kilotonnen kinetischer Energiewaffen wie Konservendosen aufgefetzt worden. Die Verteidigungszentren wiederherzustellen würde ein göttliches Wunder erfordern. China und Indien hatten ihre noch nicht ganz fertig gestellten Festungsanlagen mit ähnlichem Ergebnis gegen die Invasionstruppen eingesetzt. Nach einem Tag war mehr als die Hälfte der in Bau befindlichen planetarischen Verteidigungszentren völlig vernichtet worden. Von den »Primären Mächten« hatten sich nur die Vereinigten Staaten und Japan zurückgehalten und die Verteidigungszentren nicht eingesetzt.

Jetzt war geplant, die Kontrolle etwas zu lockern. Wenn Posleen-Landungsfahrzeuge ihre Antigravitationssysteme einschalteten, entstand dabei Strahlung, die man orten konnte. Das Kommandozentrum der Festung, das sich im untersten Geschoss befand und deshalb bereits fertig gestellt war, registrierte die Strahlungen des aufsteigenden Landungsschiffes sofort.

»Landungsschiff steigt auf, Westmoreland County, Virginia«, tönte eine Technikerin, die die Bildschirme beobachtete. Das letzte Kästchen des Formulars blinkte und verlosch dann. »Dem Bildschirm nach ist es ein Standard-Lander, kein Kommandoschiff.«

»Roger«, bestätigte der Einsatzleiter, ein Colonel. Er gab die Information an Continental Army Command weiter und erbat Angriffserlaubnis. Die Antwort war in den Computern bereits vorbereitet und kam deshalb fast unverzüglich. »Waffenfreigabe. Ich wiederhole: Waffen freigegeben.«

Das 100-mm-Gravgeschütz war vollautomatisch und brauchte keine Bedienungsmannschaft. Allerdings gab es eine dreiköpfige Crew, die bei mechanischen Defekten eingreifen oder das Geschütz bei einem Ausfall der zentralen Feuerkontrolle auch von Hand bedienen konnte. Der Beschaffungsauftrag hatte mit Nachdruck für den Notfall ein »lokales« Kontrollsystem verlangt, was den meisten Fachleuten als etwa so überflüssig wie ein Kropf erschienen war. Falls die zentrale Kontrolle ausfiel, würde es reine Glückssache sein, das Geschütz aufs Ziel zu richten.

Das Waffensystem wirkte wie Hohn auf die herkömmlichen Gepflogenheiten der Artillerie, was ja in Anbetracht der Tatsache, dass es gegen Weltraumkreuzer und nicht etwa zerbrechliche Flugzeuge eingesetzt werden sollte, kein Wunder war. Anstelle von Zahnradsystemen zur Zielregulierung verbogen sich die Stützsysteme wie Schlangen, so dass einem beim Zusehen beinahe übel wurde. Die Streben dienten ohnehin nur dazu, das System gegen die Schwerkraft zu schützen; das Gravsystem selbst arbeitete rückstoßfrei.

Darüber hinaus verfeuerte das Geschütz nicht etwa wie konventionelle Flugabwehrkanonen Explosivgranaten, sondern einzelne, frei fliegende Stangen aus abgereichertem Uran, die in dem zwanzig Meter langen Rohr auf ein Drittel der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wurden. Diese zwei Meter langen, einhundert Millimeter durchmessenden Stangen durchschlugen ein Kommandoschiff beim Auftreffen. Neben der gewaltigen kinetischen Explosion, die bei einem derartigen Aufprall entstand, bauten die Stangen beim Passieren der Atmosphäre vor sich eine stehende relativistische Welle auf, durch die ein Schwall von Gamma- und Röntgenstrahlung erzeugt wurde, der die Insassen der Schiffe praktisch kochte.

Anstatt neun solcher Waffensysteme stand nun allerdings nur ein einziges Geschütz zur Verfügung. Und anstelle in einer Festung von Stahl- und Betonmassen mit konzentrischen Schotten geschützt zu sein, stand es praktisch unter freiem Himmel. Sowohl die gepanzerte äußere Pforte, die die Batterie vor Treffern auf die Außenwände der Festung hätte schützen sollen, wie auch die gepanzerte innere Pforte, die es vor inneren Explosionen hätte schützen sollen, fehlten.

Im Grunde genommen waren sie völlig nackt.

Und deshalb fand die dreiköpfige Crew, als das Geschütz nach Südosten schwenkte, dass es bessere Aufenthaltsorte für sie gab. Der Letzte, der noch draußen war, schnappte sich den Helm für seinen Schutzanzug und rannte dann hinter den anderen her. Ohne Helm würde die massive Strahlung, die gleich hier entstehen würde, sein Gehirn kochen.

Im Augenblick war das Landungsschiff noch unter dem Horizont. Aber die Posleen hatten noch nie etwas von »terrain-nahen Manövern« gehört, dem Flug dicht am Boden entlang, um unentdeckt zu bleiben. So kam ihr Schiff schließlich über den Horizont herauf und war sowohl für die von den Galaktern gelieferten Sensoren wie auch die über die umliegenden Hügel verteilten diversen Radarsysteme sichtbar.

»Ziel erfasst«, meldete der Kontrolltechniker. Obwohl manuelle Eingriffe möglich waren, funktionierte das System automatisch. Der Techniker brauchte bloß den Daumen auf dem Feuerknopf zu lassen, den Rest erledigte das System. Im Augenblick hielt sich dieser Daumen bereit, die Sicherheitsabdeckung wegzukippen.

»Energie«, sagte der Leitoffizier. Er sagte das in gleichmäßigem Tonfall und so, als würde ihn das alles nicht interessieren. Das war der professionelle Ton von jemandem, der wahrhaft entsetzt war.

Der Techniker schnippte die Schutzkappe hoch und drückte den Feuerknopf.

Das Geschütz erbebte wie ein lebendes Wesen und feuerte einen Schuss ab.

Althanara hatte endlich die Bäume, die ihm die Sicht versperrten, hinter sich gelassen. Er begann das Schiff zu drehen, um die Plasmakanone auf ihr Ziel zu richten, als seine Sekundärwaffen das Feuer auf die im Wasser treibenden Po’osol eröffneten. Das große Schiff hörte nicht zu feuern auf, bemerkte nichts. Die Thresh erkannten die Gefahr offenbar nicht. Aber als dann die schweren Plasmakanonen und Laser der Sekundärverteidigung das im Wasser schwebende Schiff erfassten, wurde es von Explosionen geschüttelt. Gleich würde Althanaras Anti-Schiffs-HVM sein Ziel erfassen.

»Sir, Schadenskontrolle!«, sagte der Schadenskontrolloffizier. »Wir haben die Türme drei, fünf und sieben verloren. Vier der sechs Thermopylae sind außer Gefecht, und Hauptturm C ist ans Deck geschweißt!«

Der Captain fächelte sich mit einem Klemmbrett Kühlung zu und fluchte hingebungsvoll. Die Temperatur auf der Brücke war um mehr als fünf Grad gestiegen, und er konnte durch die über einen Fuß dicken Wände der Brücke die Schreie der Verletzten hören. »Was zum Teufel war das?«

»Ein Lander, Sir«, sagte der Defensiv-Systemoffizier. Er wies auf einen Bildschirm. »Er hängt auf Antigrav und bepflastert uns mit Sekundärwaffen.« Während er das sagte, gab es eine weitere Folge mächtiger Explosionen und dann ein Brüllen, das das mehrere tausend Tonnen schwere Schiff wie einen Terrier schüttelte.

Der Captain hielt sich an den Armlehnen seines Kommandosessels fest, als das Schiff in den Wellen tanzte, die es bei der Explosion erzeugt hatte. Er hatte den Stoß gespürt, als der Rumpf auf Grund geprallt war. Und das bedeutete, dass sein Schiff von der Explosion mindestens sechs Meter hinuntergedrückt worden war. »Was in drei Teufels Namen war das?«

»Wir sind leck«, sagte der Schadenskontrolloffizier, und seine Finger tanzten über die Tasten, um Daten zu bekommen. »Etwas hat das Schiff durchbohrt! Wir haben Boiler drei, Maschine zwei, zwei 5-Zoll-Magazine verloren und … Herr Jesus, die Krankenstation!«

Der Captain fuhr zum Defensiv-Systemoffizier herum. »Können Sie es sehen?«

»Yes, Sir«, sagte der Offizier und deutete auf den Bildschirm, »aber …«

»Dann sehen Sie zu, dass Sie es treffen!«

»Yes, Sir«, sagte der Offizier und tippte so schnell er konnte Befehle ein. Das noch verbliebene Thermopylae reckte sich himmelwärts und die 5-Zoll-Türme folgten ihm.

Dieselbe Fernmeldetechnikerin, die im Internet die Ziele gefunden hatte, fuhr plötzlich mit dem Laptop in der Hand in die Höhe und rannte zur Hauptfeuerkontrolle. Sie stieß einen anderen Techniker weg, riss einen Computerstecker heraus und stöpselte ihn in ihren Laptop. Ohne auf den Techniker zu achten, den sie aus seinem Stuhl vertrieben hatte, fing sie an ein Programm zu laden.

»Komm schon, komm schon, komm schon, du Miststück«, redete sie ihrem Laptop zu. Ein gewöhnliches DOS-Programm hatte noch nie so lange zum Laden gebraucht.

»Yhai!« schrie Althanara triumphierend, als das Schiff unter ihm im Wasser schwankte. Irgendwo mussten schließlich seine Munitionsmagazine sein. Und sobald er die traf, war alles vorbei. Doch noch während er sein nächstes HVM lud, begann das Schiff Feuer zurückzuspucken.

»Was machen Sie da, Mädchen?«, fragte der Artillerieoffizier. Er war sich ziemlich sicher, dass das, was diese junge Frau hier tat, Sinn hatte, aber immerhin hatte sie die Hauptgeschütze seiner Kontrolle entzogen. Noch während er die Frage stellte, sah er, wie der Bildschirm eine Bewegung der Geschütze anzeigte. »Oder sollte ich sagen: Warum tun Sie das?«, fragte er in Unheil verheißendem Tonfall.

»Ich versuche unseren Arsch zu retten, Sir«, sagte die Technikerin beinahe ausdruckslos. Ein Licht blinkte auf dem Computer, und sie drückte die Eingabetaste. Alle sechs verbliebenen Hauptgeschütze des Schiffs feuerten auf einen Punkt im Weltraum.

Althanara hatte gerade triumphierend die Arme gehoben, als ihm klar wurde, dass das Feuer, das ihm da von dem Schiff entgegenschlug, nicht einfach zu vernachlässigen war. Doch für Panik war jetzt keine Zeit. Ehe die 500-Kilo-Granaten der North Carolina die Hälfte ihres Weges zum Ziel zurückgelegt hatten, traf die Uranstange von dem weit entfernten planetarischen Verteidigungszentrum ein.

Das Geschoss durchdrang die Unterseite von Althanaras Schiff und kam oben wieder heraus. Unterwegs passierte es den Materie-/Antimateriekonverter und die Antimaterielagertanks. Dass es auf dem Weg nach draußen auch noch die Plasmaleitungen des HVM-Werfers punktierte, war eine reine Formalität.

Der sich ausdehnende Ball atomaren Feuers, der einmal ein Lander gewesen war, fing die Geschosse aus den Schiffsgeschützen mitten im Flug auf und löste sie auf. Die Schockwelle und der Hitzepuls erfasste die Posleen darunter und verbrannte sie ebenfalls. Von außen konnte man unmöglich feststellen, welches Geschoss zuerst getroffen hatte.

Unter Historikern sollte dieser Vorfall noch lange Diskussionsstoff liefern. Die Frage, ob der Schuss aus dem PVZ oder die Granaten des Schlachtschiffs den Lander zerstört hatten, würde noch jahrelang hitzig in Konferenzsälen ebenso wie in Bars diskutiert werden. Die optimistische Annahme besagte, dass die Kanonen des Schlachtschiffs die Zerstörung angerichtet hatten. Orden, Belobigungen und lukrative Verteidigungsaufträge würden auf dieser falschen Annahme basieren. Doch das war eine Frage für die Zukunft. Im Augenblick zählte nur das Resultat des Geschehens. Die Schockwelle, die schließlich das Schlachtschiff erreichte.

Die Erprobung der Wasserstoffbombe auf dem Bikini-Atoll war es gewesen, die schließlich die Macht der Schlachtschiffe gebrochen hatte. An jenem Morgen war eine Flotte leerer Schiffe von einer einzigen Waffe in einen Feuerball verwandelt und versenkt worden. Die Explosion des Landers freilich war bei weitem nicht so gewaltig wie die der Bikini-Bombe. Und das Landungsschiff war auch wesentlich weiter entfernt. Als die Schockwelle der Kernexplosion über das Schiff hinweg ging, war der Schaden groß, doch nicht katastrophal. Die Feuerwelle tastete durch die großen Risse im Metall des Schiffs, wurde aber von denselben Schottentüren aufgehalten, die auch das Einströmen von Wasser verhinderten. Sie brachte ein paar weitere frei liegende Magazine zur Explosion, tötete eine Hand voll Seeleute und riss das Schiff von seinem Anker. Aber sie versenkte es nicht.

Versenkt oder nicht, die North Carolina war für diesen Tag erledigt. Ein Geschützturm ans Deck geschweißt, gewaltige Löcher in ihrer Panzerung und Rauch und Flammen, die aus den Maschinenräumen schlugen – da blieb nichts übrig, als den zweiten Anker zu lichten und nach Südosten abzubiegen. Sollte eines der anderen Schlachtschiffe ihre Position einnehmen. »Showboat« hatte Aufräumungsarbeiten zu leisten. Die planetarischen Verteidigungszentren freilich steckten noch mitten drin.

Sten’lonoral blähte den Kamm. Die Welt unter ihm, die angeblich technisch so rückständig war, loderte in den Flammen des Krieges. So viel konnte man selbst aus dem Weltraum sehen, als nukleares Feuer und die Flammen von kinetischem Bombardement auf der Planetenoberfläche blitzten.

Sein Oolt’ondai zog über ein großes Meer hinweg und näherte sich einem Kontinent, befand sich immer noch im Orbit, war aber bereits dabei, in Sinkflug überzugehen, als ein wenig benutzter Sensor sich meldete.

»Antischiffsoberflächenwaffe entdeckt«, meldete die geschlechtslose Stimme. »Erbitte Feuererlaubnis.«

Sten’lonoral beugte sich vor und musterte das Display. Er verstand kaum etwas von dem, was er sah, aber dieses affektierte Stück Kacke brauchte das ja nicht zu wissen. »Na schön, du hast Feuererlaubnis.«

Das Signal wurde zu einem äußeren Lander weitergeleitet, der über einen Werfer für kinetische Energiewaffen verfügte. Die große Waffenplattform feuerte das mächtige HV-Geschoss ab wie einen Kürbiskern und setzte dann seinen Weg fort.

Das kinetische Projektil nahm sich einen Augenblick Zeit, um sich zu orientieren, kippte dann nach vorne ab und stürzte sich auf den Planeten hinab. Seine Antriebsaggregate beschleunigten es auf einen Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit und schalteten dann ab. Bei solchen Geschwindigkeiten war zusätzliches Zielen unnötig.

»Sir!«, schrie ein Techniker, während in dem PVZ noch Jubelrufe hallten. »K-E-W im Anflug!« Alle Augen wandten sich dem Bildschirm zu, aber das war auch alles, wofür ihre Zeit noch reichte.

Der Sprengkopf war massiv, enthielt aber keinerlei Sprengstoff; seine ganze Gewalt lag in der kinetischen Energie. Als er die Schüssel unmittelbar über dem kaum geschützten Kontrollzentrum traf, verwandelte sich die potenzielle Energie seines Aufpralls in Licht und Hitze.

Im Wesentlichen wurde der Feuerball von der kegelförmigen Form aufgenommen, die man aus dem Berg herausgehauen hatte, und so hielt sich der in der Umgebung angerichtete Schaden in Grenzen. Die wenigen Zeugen des Geschehens würden wohl nie den Anblick vergessen, als plötzlich Feuer aus einer Bergflanke schoss, ehe die kinetische Explosion die Bergspitze absprengte. Die pilzförmige Wolke, die daraufhin aufstieg, reichte aus, um sie das Schicksal der armen Seelen in der Kommandozentrale erkennen zu lassen.