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Fort Indiantown Gap, Pennsylvania,
United States of America, Sol III
2237 EDT, 28. Juli 2009
For heathen heart that puts her trust
In reeking tube and iron shard,
All valiant dust that builds on dust,
And, guarding, calls not Thee to guard,
For frantic boast and foolish word –
Thy mercy on Thy People, Lord!
»Recessional«
Rudyard Kipling, 1897
Für Heidenherz, das nur vertraut
Auf stinkendes Rohr und Eisenscherben,
Nur tapferer Staub, der auf Staub baut,
Der hütet, ohne Deine Hut zu erbitten,
Für irres Prahlen und Wahnreden –
Sei Deinem Volke gnädig, Herr!
»Schlusschoral«
Stewarts zweite Gruppe rannte los, ließ sich zu Boden fallen, feuerte dabei die ganze Zeit aus ihren Gravkarabinern auf die vorrückenden virtuellen Posleen. Jedes Mal, wenn die silbernen Strahlen der tränenförmigen, mit relativistischer Geschwindigkeit abgefeuerten Geschosse die Wand der Posleen trafen, rissen gewaltige Explosionen tiefe Löcher in die heranrückenden Linien. Als Antwort darauf trommelten mit Hypergeschwindigkeit abgefeuerte Flechettes und sonstige Geschosse auf die Panzerung der Verteidiger ein, wobei allerdings das Gros das Ziel verfehlte. Aber in Anbetracht der Millionen panzerbrechender Geschosse, die auf relativ wenige Anzüge abgefeuert wurden, waren Verluste statistisch sicher.
»Zehn-Zweiundzwanzig, Zehn-Zweiundzwanzig, ausführen!«, sagte Stewart mit gleichmäßiger Stimme, als Private Simmons’ Datenleitung ausfiel. Die Hälfte des Teams stellte das Feuer gerade lange genug ein, um in ein Seitenfach ihres Panzers zu greifen und einen kleinen kugelförmigen Gegenstand herauszuholen. Sie klappten den Deckel der Kugel ab, drückten einen Knopf, legten das kleine Gerät ein Stück rechts von sich auf den Boden und fingen wieder zu schießen an.
»Zehn-Alpha klar«, sagte der Anführer des Alpha-Teams, als das Bravo-Team das gleiche Manöver vollführte.
Während Bravo den Beschuss wieder aufnahm, gingen die vom Alpha-Team gelegten Ladungen los. Wieder stellten sie das Feuer gerade lange genug ein, um sich in die so improvisierten Schützenlöcher gleiten zu lassen, und nahmen dann die Posleen erneut unter Beschuss. »Klar Zweiundzwanzig Alpha«, rief der Teamleiter.
Augenblicke später befand sich das gesamte Platoon in Deckung.
»Das ist also Ihr Fahrplan«, sagte Colonel Hanson.
»Yes, Sir«, bestätigte O’Neal und beobachtete dabei das zweite Platoon, wie es unter gegnerischem Beschuss vorrückte. Die in aller Hast von der zweiten Gruppe errichtete Verteidigungslinie war für den Augenblick für die auf einem schmalen Streifen zwischen einer Bergkette und dem Manada River vorrückenden Posleen undurchdringlich, einem Strom, den man für diese Übung wesentlich breiter angesetzt hatte, als er in Wirklichkeit war. »Wir haben bis jetzt etwa zweihundert Szenarien durchgespielt und die einzelnen Gruppierungen der Kompanie für jeden einzelnen Fall ausgebildet. Im weitesten Sinne entspricht das den Hornsignalen, wie sie früher die Kavallerie benutzt hat. In diesem Fall praktizieren die Gruppen ein Zehn-Zweiundzwanzig: ›in Eile Kampfpositionen bilden und in Deckung gehen.‹ Nicht, dass ihnen das bei dieser Übung lange nützen wird.« Er arbeitete an seinem Kautabak und spuckte ihn dann in eine Tasche in der biotischen Unterschicht des alles umschließenden Helms. Wie alle anderen Abfallstoffe wurden Speichel und Tabakreste von dem System schnell verdaut. Für die Unterschicht war das alles Rohstoff.
»Ist der Test denn fair?«, fragte Colonel Hanson, dem nicht entging, dass das zweite Platoon sich etwa ebenso schnell auflöste wie Kandiszucker in heißem Wasser. Er sehnte sich nach einer Zigarette, aber im Helm zu rauchen war nicht gerade ein Vergnügen.
»Ich denke schon. Als Nightingale das Flankenmanöver entdeckt hatte, war es für die Zweite schon beinahe zu spät, optimale Bedingungen herbeizuführen, nämlich die Posleen auf hundert Meter Distanz flussaufwärts zu halten. Die Einengung ist dort nur dreißig Meter breit, und Lieutenant Fallon hätte die Stellung eine Ewigkeit halten können. So wie es jetzt aussieht, glaube ich nicht, dass sie es schaffen werden.«
»Was würden Sie tun?«
»Ich würde vermutlich angreifen, vielleicht mit ein paar psychologischen Feinheiten, und versuchen, sie bis zur Engstelle zurückzutreiben«, sagte O’Neal. Er ließ das Bildfeld einen Augenblick lang zum Fluss hinunterwandern, führte es aber gleich wieder zu den Kämpfen zurück. »Ist wirklich keine Frage der Zeit; es ist auch belanglos, wie lange sie standhalten. Wenn die Posleen jetzt durchbrechen oder in drei Stunden, dann knacken sie die Verteidigungsstellung der Kompanie flussabwärts.«
»Würde das funktionieren?«, fragte Colonel Hanson, der jetzt seinem Gesprächspartner mehr Aufmerksamkeit widmete als dem praktisch beendeten Gefecht.
»Dem Szenario nach funktioniert es manchmal und manchmal auch nicht, das hängt von einer Anzahl von Faktoren ab, die nicht im Einflussbereich der Probanden liegen«, antwortete O’Neal präzise. Die Frage, die ihn beschäftigte, war, ob es in der Realität funktionieren würde. Jedes Mal, wenn er sich an Diess erinnerte, lief es ihm eisig über den Rücken. Die Risiken, die er dort eingegangen war, waren geradezu hirnrissig gewesen. Er hatte unverschämtes Glück gehabt, und dass er selbst überlebt hatte, galt den meisten immer noch als reines Wunder. Deshalb befürchtete er, dass er bereits nicht nur seine eigene Ration Glück, sondern vielleicht die seiner ganzen Kompanie aufgebraucht hatte. Wenn diese Pläne sich als falsch erwiesen, würde es ein Massaker geben. Und die Schuld dafür würde einzig und allein auf seinen Schultern lasten.
Er ließ seinen Priem gedankenverloren im Mund hin und her wandern und spuckte dann wieder. »Die Posleen könnten ja einen feigen Gottkönig haben, oder ganz vorne nicht genügend Mumm. Dann kommt hinzu, dass winzige Abweichungen in der Oberflächenstruktur unserer Panzerung starken Einfluss auf ihre Verletzbarkeit haben, und so weiter und so fort. Aber wenn man schon so weit zurückgetrieben ist wie wir, muss man auf den Feind einschlagen wie auf das Tor der Hölle, und Lieutenant Fallon ist nicht der Typ dazu.«
»Also lag Lieutenant Nightingales Fehler schon weiter zurück?«
»Yes, Sir«, antwortete Mike mit einer Stimme, die erkennen ließ, dass er nicht ganz bei der Sache war. Irgendetwas an dem dort draußen ablaufenden Szenario störte ihn.
»Ich halte fast immer das erste Platoon in Reserve, worüber die beiden anderen Platoons natürlich sauer sind«, fuhr er automatisch fort. »Aber dabei baut sich in Rogers solche Wut auf, dass er das beim Angriff alles wettmacht, wenn ich ihn schließlich einsetze.«
Der Zugführer des Ersten Platoon war ein großer, breitschultriger, gut aussehender First Lieutenant. Als First Lieutenant hätte er unter normalen Umständen entweder ein Schwere-Waffen-Platoon führen oder eine Position im Stab innehaben sollen. Dass er eine Aufgabe bekleidete, für die normalerweise ein Second Lieutenant ausreichte, nagte an ihm. Mike hatte in den letzten sechs Monaten vier Versetzungsgesuche für ihn eingereicht.
»Nightingale möchte die Last immer gleichmäßig verteilen. Und ich versuche, ihr das auszureden. Das Einzige, worauf es wirklich ankommt, ist unser Einsatzziel. Auf der Basis muss man seine Einheiten in den Kampf schicken, nicht auf der Grundlage irgendwelcher ›Fairness‹. Ich bin schließlich zu dem Schluss gelangt, dass sie ein bisschen mehr als nur leichte Unterstützung braucht. Aber indem ich sie zu viel korrigiert habe, habe ich mich selbst in die Ecke manövriert.« Er verzog das Gesicht, als er den Fehler einräumte.
»Schließlich habe ich die meisten Aufgaben des First Sergeant übernommen und ihn auf sie angesetzt. Die haben eine ganze Menge Zeit miteinander verbracht, und ich habe das Gefühl, dass sie langsam begreift; Gunny Pappas ist ein Spitzenausbilder. Aber mit ihrem Sinn für Taktik bin ich immer noch nicht ganz zufrieden.«
»Es braucht auch Zeit, das zu lernen«, räumte Hanson ein.
»Allerdings, Sir. Ich hoffe nur, dass wir die haben.« Mike schaltete eine auf dem gegenwärtigen Verlauf basierende Wahrscheinlichkeitsdarstellung des Gefechts ein und schickte sie dem Bataillonskommandeur. Die Grafik mit den Verlusten sah wie ein Gebirge aus.
Für Hanson, der seine militärische Reife im Höllenkessel von Vietnam und in der Army der siebziger Jahre erlangt hatte, war das Virtual Reality-Gerät, mit dem die Einheit übte, Science Fiction pur.
Er war beinahe siebzig gewesen, als man ihn zurückgerufen hatte, und obwohl er nach dem Militärdienst in die Wirtschaft gegangen war, war er einer jener Firmenchefs gewesen, für die Computer ein böhmisches Dorf waren. Und diese Systeme hatten mit »normalen« modernen Computern etwa ebensoviel gemeinsam wie ein Ferrari mit einem assyrischen Streitwagen.
Dem Beispiel seiner Fachleute folgend, hatte er sich angewöhnt, sein AID, einen von den Galaktern gelieferten Supercomputer von der Größe einer Zigarettenschachtel, »Little Nag« zu nennen, was so viel wie kleiner Nörgler bedeutete. Inzwischen benutzte er Little Nag für seine gesamte Dienstkorrespondenz und hatte mittlerweile begriffen, dass das AID wesentlich besser als jede Sekretärin war, die er je gehabt hatte, solange man sich damit abfand, dass das Ding jede Anweisung zunächst exakt wörtlich nahm. Bei den regelmäßigen Übungen des Bataillons behielt Little Nag eine wesentlich bessere Übersicht über eigene und gegnerische Truppenbewegungen, Personal- und Geräteausstattung sowie all die anderen Winzigkeiten, die nun einmal eine militärische Operation ausmachten, als das in der ganzen Geschichte der Kriegsführung irgendwelche Stäbe gekonnt hatten. Der vor kurzem eingetroffene Ausbildungsoffizier und die anderen Offiziere des Bataillonsstabs gewöhnten sich allmählich auch an ihre AIDs, und somit entwickelte sich im Stab ein Maß an Perfektion, wie man es sich bisher kaum hatte erträumen können.
Unter ihm regte es sich jetzt, als die zweite Gruppe ihre Stellungen verließ und die anderen vorrückten, um der ausgedehnten Front Feuerschutz zu geben. Damit nahm der Druck auf die Posleen ab, so dass diese langsam vorrücken konnten, wobei sie zwar Reihen von eigenen Toten auftürmten, dieses Opfer aber bereitwillig brachten, um die gegnerische Stellung zu überrennen. Die Überreste der zweiten Gruppe hatten sich inzwischen freilich an den anderen Stellungen vorbeigeschlichen und schafften es, im Schutz einer schmalen Bodensenke außer Sichtweite der Posleen, nacheinander den Fluss zu erreichen, wo sie virtuell außer Sicht waren.
»Verdammt!«, flüsterte Mike und holte sich die Positionen auf seinen Bildschirm, um die Gruppe weiter im Auge zu behalten, als diese stromaufwärts schlich. Er lächelte und spuckte wieder in seine Helmtasche.
»Was denn?«, fragte Colonel Hanson. »Mir scheint das ziemlich aussichtslos.« Er tippte ein paar virtuelle Schalter an, um die Marschroute der Einheit zu projizieren. Ihr Anführer, jener Sergeant Stewart, dessen Bekanntschaft er gleich an seinem ersten Tag in der Einheit gemacht hatte, hatte die Befehle für sein Team eingegeben, und jetzt strebte die Gruppe aus acht Überlebenden auf einen Punkt am Fluss, genau gegenüber jener Verengung zu, die das Platoon vorher nicht hatte erreichen können.
»Nicht unbedingt, Sir. Die zweite Gruppe könnte unter günstigen Umständen diese Engstelle selbst mit den wenigen verbliebenen Leuten eine Weile halten. Vielleicht lange genug, bis der Rest des Platoons angreifen und sie entlasten kann. Verdammt, das habe ich diesem Kerl wirklich nicht zugetraut.«
Mike sah zu, wie die Gruppe sich im Schutz des Gewässers formierte und dann nach oben schoss. Als sie das schließlich taten, bäumte sich das Wasser auf und fing an Wellen zu schlagen, als würde es plötzlich von Schlangen wimmeln. Was schließlich herauskam, war nicht eine Gruppe von Kampfanzügen, sondern eine Masse Würmer, jeder einzelne davon mit einem mit langen Fängen bestückten Maul. Silberne Blitze fegten Gottkönige vom Himmel, und die Würmer schnappten sich Posleen von den Ufern und zerrten sie schreiend in die Wellen, die sich plötzlich gelb färbten. Ein durch Mark und Bein gehendes Jaulen und das Dröhnen von Trommeln erfüllte die Luft.
»Höre ich da richtig?«, fragte Colonel Hanson. Man konnte nicht sehen, dass er dabei lächelte. Offenbar hatte das Flair ihres Kompaniechefs auf einige Angehörige seiner Kompanie abgefärbt. O’Neals Einsatz von Musik in der Schlacht war beinahe über Nacht zur Legende geworden.
»Wenn Sie denken, dass das die Dudelsäcke der Seventy-Eighth Fräser Highlanders sind, die ›Cnmha na Cloinne‹ schmettern, dann stimmt das. Stewart hat sich wieder einmal meine CDs angehört.«
»Ihre Idee?«
»Nein, Sir, aber jetzt weiß ich, woran Lieutenant Fallon gedacht hat. Sergeant Stewart.« Das Lächeln des Kompaniechefs war von seinem gesichtslosen Panzer verdeckt, aber der Bataillonskommandeur hörte es deutlich aus seiner Stimme heraus. »Sie erinnern sich doch an ihn, Sir.«
»Mhm«, war die einzige Antwort, die er darauf bekam. Der Bataillonskommandeur hatte erst kürzlich eine Anforderung der Kriminalabteilung der Bodenstreitkräfte zurückgeschickt, in der eine Untersuchung hinsichtlich verschiedener Ausrüstungsgegenstände verlangt worden war, die irgendwie verschwunden waren. Seine Begründung war gewesen, dass nicht genügend Beweismaterial vorläge, um diese Unregelmäßigkeiten der Bravo-Kompanie zuzuschreiben. Dabei war er sich in Wirklichkeit ziemlich sicher, dass der schmächtige Führer der Zweiten Gruppe dafür verantwortlich war.
»Wissen Sie«, meinte der Bataillonschef. »Der Ruf von Bravo war ziemlich angekratzt, ehe Sie die Kompanie übernommen haben. Sie sollten vielleicht dafür sorgen, dass er gut bleibt.«
Mikes knappes Nicken blieb unsichtbar. Vor dem beinahe gleichzeitigen Eintreffen von First Sergeant Pappas und Lieutenant Arnold war die Kompanie so etwas wie eine Schwarzmarktzentrale des Stützpunkts gewesen. Der leichte Zugang zu einer Technik, die allem auf der Erde Vorhandenen um Jahrhunderte voraus war, hatte dem ehemaligen First Sergeant gewaltige Profite verschafft. Stewart, der mit seiner Gruppe frisch aus dem Ausbildungslager gekommen war, hatte zusammen mit dem First Sergeant und Arnold wesentlich dazu beigetragen, dass sich das gründlich geändert hatte. Der ehemalige First Sergeant verbüßte jetzt eine Strafe im Militärgefängnis der Flotte auf dem Stützpunkt Titan, wo man die Gefangenen für als besonders gefährlich geltende Arbeiten im Vakuum einsetzte.
»Ich werde beim nächsten Führungskräftetreffen darauf hinweisen«, war Mikes einzige Antwort darauf. Er spie wieder einen Strahl Tabaksaft aus und lächelte, als er sah, wie das Gefecht sich entwickelte. Stewart war ganz entschieden ein Untergebener, den es sich lohnte zu haben. Ein Jammer, dass er bloß Gruppenführer war.
Der Tod ihrer Gottkönige und der Angriff bösartiger Kreaturen aus ihrer Mythologie veranlasste die vorrückenden Posleen die Flucht anzutreten, als die Würmer sich jetzt über das Flussufer heraufwälzten und nach beiden Richtungen angriffen.
»Wie schnappen sie sich denn die Posleen?«, fragte Colonel Hanson und sah zu, wie ein um sich schlagender Zentaur ins Wasser gezerrt wurde.
»Nun, Sir, darauf muss ich Ihnen die Antwort schuldig bleiben, es sei denn, die haben die Anzüge irgendwie umgebaut.« Mike schaltete auf eine höhere Betrachtungsebene, Kanäle, die die meisten AIDs, geschweige denn Menschen, kaum durchschauten.
O’Neal war von Anfang an bei der Konstruktion der Anzüge dabei gewesen und hatte vom ersten Kontakt auf Diess an in ihnen gekämpft. Er kannte die wahren Fähigkeiten dieses Waffensystems besser als irgendein anderer Mensch in der Föderation. Ganz und gar auf das Einsatzziel konzentriert, verbrachte Mike praktisch jede wache Stunde und auch einen großen Teil seiner Schlafzeit im Panzer. Soweit Hanson das feststellen konnte, hatte er praktisch kein Privatleben und verkehrte mit den anderen Offizieren des Bataillons nur, wenn es um geschäftliche Dinge ging oder bei angeordneten gesellschaftlichen Anlässen.
Nicht, dass es davon sonderlich viele gegeben hätte. Indian Town Gap bot den Einheiten, die sich dort formierten, nur wenige Annehmlichkeiten. Die Clubs, die für Offiziere ebenso wie die der Unteroffiziersdienstgrade und der gewöhnlichen Soldaten, wimmelten von im Aufbau begriffenen Einheiten, und das Gleiche galt für die kleine Ortschaft Annville, die einzige übrigens, die man mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen konnte. Ansonsten konnte die Einheit in Anbetracht der geringen Ausbildungskosten der Anzüge praktisch rund um die Uhr mit ihnen trainieren, wenn sie das wollte. Der Colonel nutzte diesen Umstand in vollem Maße, und das Bataillon war deshalb seit dem Anpassen der Anzüge praktisch jeden Tag im Einsatz gewesen.
»Okay«, sagte Mike mit einer Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien, ganz auf eine elektronische Welt vor seinen Augen konzentriert. »Ich sehe, was die tun. Die packen sie mit Weltraumklauen. Könnte funktionieren.«
»Die AIDs machen mit«, sagte der Colonel und übersah, dass Mike das »Sir« weggelassen hatte. »Jedenfalls verhindern sie es nicht.«
»Ich weiß nicht, ob das funktionieren würde, ich habe es nie probiert«, fuhr Captain O’Neal immer noch mit seltsam distanzierter Stimme fort. »Eigenartig.« Endlich war ihm klar geworden, was ihn bisher gestört hatte.
»Was?«
»Die Posleen laufen nur mit achtzig Prozent Effizienz.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nun, man kann diese Szenarien auf den jeweiligen Benutzer einstellen. Etwa so wie Schwierigkeitsgrade bei einem Computerspiel. Man will ja einen Rekruten in der Grundausbildung nicht gleich fertig machen; wenn die dauernd verlieren, ist das schlecht für ihre Moral. Also stellt man einen geringen Schwierigkeitsgrad ein.«
»Und auf welchen Schwierigkeitsgrad war diese Übung eingestellt?«, fragte der Bataillonskommandeur. Manchmal machte es ihm Angst, wie viele Dinge es in seinem Job gab, die er nicht wusste, und die meisten davon standen überhaupt nicht in seinem Handbuch. Mit Ausnahme einiger weniger Leute, wie diesem Captain hier, gab es kaum jemanden, der wirklich Erfahrung mit Anzügen hatte. Er fragte sich, wie die Bataillone sich ohne einen O’Neal überhaupt auf ihre Aufgabe vorbereiten konnten.
»Ich habe sie auf hundert Prozent eingestellt«, antwortete der Captain. »Das hier sind ausgebildete Soldaten, und wir müssen schließlich jederzeit mit einer Landung rechnen. Wenn man auf niedrigerem Schwierigkeitsniveau kämpft, ist das Problem, dass das die Realität nicht gut simuliert. Schließlich möchte man härter trainieren, als es dann in der Schlacht wirklich kommt, und nicht bequemer.«
Die Monate, seit er das Bataillon übernommen hatte, waren wie im Flug verstrichen; Hanson konnte immer noch nicht glauben, wie schnell das alles gegangen war. Die erste Welle Posleen war nur noch sechs Monate entfernt, aber sie rechneten jeden Tag damit, dass ein paar Gefechtsdodekaeder als Aufklärer eintrafen. Und bevor es so weit war, würde es noch ein paar Tests geben.
Captain O’Neal wusste das noch nicht, aber Colonel Hanson hatte veranlasst, dass ein formeller Einsatzbereitschaftstest abgehalten wurde. Er würde das den Kompaniechefs unmittelbar nach dieser Übung mitteilen. Und eine Woche nach der Prüfung würde der Generalinspekteur von Fleet Strike die Truppen inspizieren.
Dank seines immer leistungsfähiger werdenden Stabs und dieses kleinen Trolls, der da neben ihm stand, rechnete Hanson damit, alle drei Prüfungen mit fliegenden Fahnen zu bestehen. Für den Fall, dass ihnen das gleich beim ersten Durchgang gelang – was bei den anderen bereits in Einsatz befindlichen Einheiten nur ganz selten vorgekommen war –, hatte man ihm bereits einen einwöchigen Urlaub für alle Einheiten genehmigt. O’Neal würde diesen Urlaub nehmen und dazu seinen Anzug verlassen – andernfalls, hatte sich der Co-lonel geschworen, würde er ihn von einem bewaffneten Begleitkommando aus dem Stützpunkt bringen lassen. Und darüber hinaus hatte der Colonel für den bescheidenen ehemaligen Sergeant noch eine kleine Überraschung arrangiert. Eine, um die O’Neal nie gebeten hätte, ob er sie nun verdient hatte oder nicht.
»Da ist es«, fuhr der Kompaniechef fort. »Mhm.«
»Was?«, fragte der Bataillonskommandeur, der sich aus seinen angenehmen Träumen gerissen fand. Die Überraschung, die er für O’Neal vorbereitet hatte, hatte es notwenig gemacht, eine größere Zahl von Mitwissern einzuschalten. Mike würde staunen.
»In der allgemeinen Ausbildungssoftware gibt es eine Befehlszeile, mit der man die Schwierigkeitsgrade in nicht näher definierten Intervallen reduzieren kann. Diese Intervalle hängen an etwa einer Million Zeilen Spaghetti-Logik.«
»Was heißt jetzt das wieder?«, fragte der Colonel, dem nicht klar war, was Pasta mit den Programmen von Kampfanzügen zu tun haben sollte.
»Das bedeutet, dass jemand an dem Code herumgefummelt hat; ich habe das nicht verlangt. Das können nur die Darhel gewesen sein, die haben die Software geschrieben. Und ein Kommunikationsprotokoll habe ich jetzt auch entdeckt. Ich frage mich, ob das eine Panne oder eine gewollte Funktion ist. Falls es eine gewollte Funktion ist, begreife ich nicht, welchen Sinn das haben sollte. Damit kann man schließlich nur die Bereitschaft der Trainingseinheiten senken.«
»Und was werden Sie dagegen unternehmen?«, fragte der Colonel mit der Andeutung eines Nickens, die der andere nicht sehen konnte. Er war immer noch dabei, sich an die durch die Gelatineunterschicht der Anzüge verursachte Beeinträchtigung seiner Kopfbewegungen zu gewöhnen.
»Ich werde es an GalTech melden, vielleicht hat eines der neuen Mitglieder das verlangt«, meinte O’Neal, der allmählich seine Programmierertrance zu verlassen begann. »Aber wir werden die Trainingssoftware ja nicht mehr lange benützen, oder, Sir?«, fragte er grimmig.
»Nein«, pflichtete ihm der Bataillonschef bei. »Nein, ich glaube, die Zeit für Training und Ausbildung geht allmählich zu Ende.«
Das Training für das Zweite Platoon war tatsächlich beinahe vorbei. Die zweite Gruppe war bei dem Angriff praktisch völlig aufgerieben worden, aber als der letzte Soldat fiel, hatte sich der Rest des Platoons den Weg in die Enge frei gekämpft und vorbereitete Stellungen eingenommen. Bei der geringen Frontbreite war es jetzt nur noch eine Frage der Zeit, wie lange Menschen dem Gegner standhalten konnten. Häufig war das im Krieg ein entscheidender Faktor. Diesmal war das Übungsziel erreicht; die Rolle der Kompanie bestand darin vorzurücken und die Positionen zu halten, bis sie von »konventionellen« Kräften verstärkt werden konnten. Ob die Kompanie je in dieser Weise eingesetzt werden würde, war die Frage.
»Sind die sich schon darüber im Klaren, wie wir jetzt eingesetzt werden sollen, Sir?«, fragte O’Neal und hoffte gegen alle Erfahrung, dass der Bataillonskommandeur etwas in Erfahrung gebracht hatte, was ihm noch unbekannt war.
»Nein, bis jetzt noch nicht, und das stört mich sehr.«
»Ich wünschte, Jack würde endlich seinen Kram klar kriegen«, meinte Mike und zog eine unsichtbare Grimasse. Er schob den Priem in die andere Backe und spuckte. So langes Zögern kannte er an seinem alten Boss gar nicht.