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Rabun County, Georgia,
United States of America, Sol III
1723 EST, 3. Februar 2009
Als der Wagen die letzte Steigung hinter sich gebracht und in das kleine Tal in den Bergen von Georgia rollte, hätte Sharon O’Neal beinahe kehrtgemacht. Sie hatte ihre Reaktion auf Mikes Vater nie ganz begriffen. Der bei aller Fairness immer ein wenig vierschrötig wirkende Mann sprach sie gelegentlich mit »Lieutenant« an und behandelte sie auch so wie ein Vorgesetzter einen ihm untergebenen Offizier behandeln würde, höflich, aber mit leicht anzüglichem Unterton. Auf ihre Bitte hin hatte er damit aufgehört, den Kindern Geschichten aus dem Krieg zu erzählen und tat das jetzt auch in ihrer Anwesenheit nur noch selten, aber sie hatte im Laufe der Jahre genügend solcher Geschichten gehört, um ihn einigermaßen zu verstehen.
Vielleicht hatte es mit ihren Erfahrungen bei der Navy zu tun, dass sie das Gefühl nicht loswurde, von ihm und seinesgleichen nicht akzeptiert zu werden. Mike sen. konnte sich in eine Gruppe wildfremder Navy-Veteranen setzen, ohne im Geringsten aufzufallen, ganz besonders wenn ein paar SEALs darunter waren. Ob das nun den Tatsachen entsprach oder nicht, jedenfalls hatte sie immer das Gefühl, dass das alte Kriegsross ihr gegenüber eine gewisse Verachtung empfand, zumindest aber sich ihr überlegen fühlte.
Nach einer langen Karriere, die irgendwie sowohl mit der bedauerlichen Kürze des menschlichen Lebens wie auch den für seine Verkürzung zur Verfügung stehenden Mitteln in Zusammenhang stand, war Michael O’Neal sen. auf die Farm seiner Familie zurückgekehrt, um dort Getreide anzubauen und sich seiner Familie zu widmen, so wie dies auch die ihm vorangegangenen Generationen getan hatten. Seit diesem Zeitpunkt hatte es, mit Ausnahme der Tatsache, dass er Waffen sammelte, darunter auch illegale, sowie eine Gruppe von Pensionisten um sich scharte, die ähnlichen Neigungen nachgingen, den Anschein, als hätte er mit jener vorangegangenen Phase seines Lebens abgeschlossen. Sharon wusste, dass er den Militärdienst unter etwas ominösen Umständen quittiert hatte – dass man ihn nicht mit all seinen Kumpels wieder einberufen hatte, bestätigte dies – und dass er eine Zeit lang in Übersee eingesetzt und mit irgendwelchen militärischen Dingen befasst gewesen war, aber was sie wirklich störte, war dieses Gefühl, von ihm nicht für voll genommen zu werden. Jetzt sah es so aus, als wäre er die ideale Lösung ihrer Probleme, und deshalb würde es ihr ganz sicher nicht leicht fallen, ihm in die Augen zu sehen und ebendas auszusprechen.
Sie sah zu Cally hinüber, die neben ihr saß. Wenn sie zu wählen gehabt hätte, welches ihrer Kinder in einer vom Krieg verwüsteten Welt überleben würde, hätte sie sich für Cally entschieden. Gewöhnlich neigt das ältere Kind eher dazu, zimperlich und reserviert zu sein, aber bei ihren Kindern war das genau umgekehrt. Wenn Michelle sich auch nur einen Kratzer am Finger zuzog, brach sie sofort in großes Wehgeschrei aus; wenn dagegen Cally gegen eine Wand rannte, stand sie auf, wischte sich das Blut von der Nase und rannte weiter.
Michelle war bereits weg, ein mit Angehörigen voll gepacktes Kolonieschiff hatte sie aufgenommen und würde sie hoffentlich an einen sicheren Ort bringen. Dieses Rettungsprogramm war sowohl in den Vereinigten Staaten wie auch anderswo unter starke Kritik geraten. Rassistisch hatte man es genannt, und das war nicht der einzige Vorwurf gewesen, und dennoch war es einfach zu vernünftig, um es scheitern zu lassen. Wenn man menschliche Erbmasse off-planet stationieren wollte – und in Anbetracht der Lage machte es einfach Sinn, eine derartige Reserve anzulegen –, dann machte es auch Sinn, sie aus der Erbmasse auszuwählen, in der die notwendigen Anlagen vertreten waren. Im Augenblick brauchte die Föderation keine Wissenschaftler, und ebenso wenig brauchte sie Politiker oder Ingenieure. Was sie brauchte, waren Soldaten. Das war möglicherweise nicht nett, das war möglicherweise auch politisch nicht korrekt, aber es machte Sinn, und das war alles, was die Föderation in diesem Augenblick interessierte.
Das Haus war aus Stein gebaut – in diesem Teil der Berge ungewöhnlich – und reichte in die Zeit vor dem Bürgerkrieg zurück. Die O’Neals waren unter den ersten Siedlern in dieser Gegend gewesen, nachdem man die Cherokee mit Gewalt umgesiedelt hatte, und das Haus war so gebaut, dass es hinreichend Schutz gegen verständlicherweise verärgerte Nachzügler bot. Der erste O’Neal war aus Irland eingewandert und hatte ein paar Jahre in den Bergen nach Gold gesucht, bis er zu der Erkenntnis gelangt war, dass mehr Geld damit zu verdienen war, wenn man an die Bergleute Lebensmittel verkaufte, als wenn man selbst unter Tage schuftete. Er hatte sich einen Titel auf das Grundstück eintragen lassen, das Land gerodet und mit gelegentlicher Unterstützung seiner ehemaligen Kollegen aus dem Bergbau die Farm aufgebaut.
Jetzt thronte sie geradezu königlich über einem kleinen Tal, in dem alle guten Dinge so überreichlich vorhanden waren, dass man manchmal hätte glauben können, Gott selbst hätte die Hand im Spiel gehabt.
»Papa O’Neal?«
»Mhm?« Sie saßen im Wohnzimmer des Farmhauses. Es wirkte wie eine Junggesellenbude, man spürte, dass dies ein Haus ohne Frau war, aber nirgends war ein Stäubchen zu entdecken. Im offenen Kamin flackerte über zwei mächtigen Eichenscheiten ein Feuer, das die winterliche Kälte fernhielt, während Sharon immer wieder an einem Glas Weißwein nippte, der allmählich warm wurde. Mike sen. war mit einem Glas Bier beschäftigt, dem es wohl ebenso erging, und sie überlegte, ob sie wohl um Eis bitten durfte. Seit Sharon Cally ins Bett gebracht hatte, saßen jetzt beide so da, und zwischen ihnen lag mehr Unausgesprochenes, als man wohl je würde aussprechen können.
»Ich muss das fragen. Es hat überhaupt nichts mit dieser Geschichte jetzt zu tun, und auch nicht mit Cally, aber für mich ist es wichtig.« Sie hielt inne, fragte sich, wie sie fortfahren solle. Fragte sich, ob sie es überhaupt tun solle. Wollte sie denn wirklich eine Antwort hören? »Warum hast du die Army verlassen?«
»Scheiße«, sagte er, stand auf und ging an eine Anrichte. Er kippte das warm gewordene Bier weg, holte einen Eiskübel heraus, ging an den Tisch zurück und ließ zwei Eiswürfel in ihr Glas plumpsen, kehrte dann wieder an die Anrichte zurück und holte eine Flasche ohne Etikett heraus. Er schenkte sich zwei Finger breit in ein Schnapsglas, kippte die braune Flüssigkeit mit einem »Pah!« hinunter, verzog das Gesicht, schenkte sich dann erneut ein und ging mit der Flasche in der anderen Hand zu seinem Stuhl zurück.
Der Stuhl war mit Rindsleder bezogen, an dem noch borstiges Haar hing, und sah so aus wie der größte Teil des Hauses: grobschlächtig, verlässlich, einigermaßen bequem, aber alles andere als ästhetisch. Er ließ sich mit einem tiefen Seufzer hineinplumpsen und meinte dann: »Ich hab doch gleich gewusst, dass du darauf hinauswillst.«
»Wieso?«, fragte sie und rührte mit dem Zeigefinger in ihrem Wein. Als er langsam kühler wurde, nahm sie einen Schluck.
»Du hast mich noch nie gefragt. Und ich hab gespürt, dass du Mike auch nie gefragt hast.«
»Doch, das habe ich. Er hat gesagt, ich soll dich fragen.«
»Wann?«, wollte er wissen und goss sich noch einmal zwei Fingerbreit von dem feurigen Selbstgebrannten nach.
»Kurz nachdem ich dir zum ersten Mal begegnet war. Ich habe ihn gefragt, was es mit dir auf sich hat, ich meine, du weißt schon, warum du so …«
»Komisch bist?«, fragte er.
»Nein, bloß … na ja …«
»Dann eben exzentrisch«, bot er an und zuckte dabei die Achseln.
»Okay, dann eben exzentrisch. Und er hat gesagt, du hättest eine interessante Karriere hinter dir. Du hast immer nur von anderen Sachen geredet, aber davon nie. Und praktisch überhaupt nicht von Vietnam.« Sie legte den Kopf etwas zur Seite.
»Wann bist du geboren? Zweiundsiebzig?«, fragte er brummig.
»Dreiundsiebzig«, korrigierte sie ihn.
»Mal sehen«, meinte er und kratzte sich am Kinn. Die Bewegung erinnerte sie einen Augenblick lang so sehr an Mike jun., dass ihr der Atem stockte. »Neunzehnhundertdreiund-siebzig«, fuhr er dann fort, »da war ich in Bragg, aber vierundsiebzig bin ich dann wieder zurückgegangen.«
»Ich dachte, wir wären in zweiundsiebzig und dreiundsiebzig aus Vietnam abgezogen«, meinte sie leicht verwirrt.
»Oh, ja, sind wir auch.« Er lächelte verschlagen. »… alle, mit Ausnahme der Beobachtungsgruppe. ›Studies and Obser-vation Group‹ hieß das amtlich.«
»Wie?«
»Die SOG. Was war das, die SOG?«, fragte er rhetorisch. »Na ja, zuallererst waren wir alles Typen, die man unter gar keinen Umständen seiner Mutter vorstellen konnte, oder dem Kongress, was ja auf dasselbe hinausläuft. Einfach ein Verein ziemlich übler, harter Typen, die einfach nicht wahrhaben wollten, dass der Krieg vorbei war. Die Vorstellung, dass wir ihn verloren hatten, passte einer ganzen Menge nicht, und deshalb haben die sich etwas überlegt, damit sie uns wieder in den Dschungel schicken konnten.
SEALs, Rangers, Phoenix, Special Forces, Marines – alle haben sie ihren Beitrag geleistet. Sinn und Zweck des Ganzen war im Grunde genommen so etwas wie Vergeltung. Die Bonzen ganz oben wussten, dass der Krieg verloren war. Zum Teufel, wir waren ja schließlich ganz offiziell dort abgezogen, aber es gab da ein paar Ziele, von denen wir glaubten, dass sie die ganze Chose nicht überleben sollten, einige Situationen, wo noch Saubermachen angesagt war, Saubermachen im großen Stil.« Er nahm einen Schluck von seinem Teufelszeug und starrte in das knisternde Feuer. Man konnte sehen, dass er mit seinen Gedanken in diesem Augenblick weit weg war.
»Damals hab ich diese Scheißvietnamesen wirklich nicht kapiert. Ich meine, das waren alles eiskalte Motherfucker. Mir bricht heute noch manchmal der kalte Schweiß aus, wenn ich daran denke, was die mit einem gemacht haben. Aber einige von ihnen, zum Teufel, vielleicht sogar die meisten, haben das getan, weil sie Patrioten waren. Kann schon sein, dass sie auch ihren Spaß dabei hatten, aber anderen, da bin ich ganz sicher, ist bei all dem genauso speiübel geworden wie mir. Die haben das getan, weil ihr Auftrag war, ganz Vietnam unter kommunistischer Herrschaft zu einigen, und daran haben sie geglaubt, und zwar mit der gleichen Überzeugung, wie ich daran geglaubt habe, dass der Kommunismus der leibhaftige Teufel ist. Beinahe fünfzehn Jahre habe ich gebraucht, bis ich das endlich kapiert habe.« Er schüttelte den Kopf, und Sharon spürte, dass ihm der Schmerz immer noch in den Knochen saß.
»Aber wie dem auch sei, wir waren dort, um endgültige Lösungen für einige der unangenehmeren Beispiele des dialektischen Materialismus, so wie er sich auf der Welt darstellt, zu finden.
Zwei Zielobjekte habe ich noch ganz deutlich vor Augen. Das war eine von den Situationen, wo die Trennungslinie ganz klar war. Es gibt eine Menge Situationen, wo alles schwarzweiß ist, aber meistens sind es doch Grautöne. Die Situation, von der ich jetzt spreche, war eine, wo zwei Leute sich nicht darüber einig waren, welche Grauschattierung eines der Zielobjekte hatte. Beide waren so richtige Motherfucker, das steht fest, aber der eine Motherfucker stand offiziell auf unserer Seite und der andere offiziell auf der anderen Seite.
Na ja, ich habe für mich schließlich den Schluss gezogen, dass ich solche Unterscheidungsmerkmale leid war, und deshalb habe ich sie beide kalt gemacht.«
Sie sah auf das Glas, das seine Bauernpranke umschloss, ein dicker Becher ohne Griff. Über beinahe vierzig Jahre hinweg schien der Dschungel seiner Erinnerung die Hände auszustrecken und nach dem zähen, alten Mann zu greifen, der ihr hier gegenübersaß.
»Wie auch immer, unsere Bonzen waren richtig sauer. Aber den wahren Grund zu nennen, weshalb sie sauer waren, hätte keinen Sinn gehabt. Irgendwie hatte damals schließlich jeder Dreck am Stecken. Einige von denen haben irgendwelches Rauschgift geschmuggelt, andere Leckereien an die Front geliefert. Alles Mögliche. Und ich? Ich habe damals Gerät in die Welt der Zivilisten geliefert, über das das Büro für Feuerwaffen sicherlich nicht erbaut gewesen wäre. Daraus und aus ein paar anderen Dingen haben die mir einen Strick gedreht und mich vor das Kriegsgericht gestellt, wegen Schmuggel und Schwarzhandel. Zu zwanzig Jahren in Leavenworth haben die mich verknackt. Eingeliefert haben die mich dort etwa um die Zeit, als Mike zur Welt kam. Nach drei Jahren kam mein Revisionsantrag durch, und sie haben mich rausgelassen.« Er stieß schnaubend die Luft aus, und Sharon bemerkte, dass das hochprozentige Teufelszeug anfing, Wirkung zu zeigen.
»Jetzt hätte ich natürlich nach Hause gehen können, wahrscheinlich hätte ich das auch tun sollen. Aber die Geschichte vom verlorenen Sohn hat mir nie sonderlich gefallen; wenn ich schon Schweinescheiße schaufeln musste, dann würde ich wenigstens erst dann nach Hause gehen, wenn ich oberster Schweinescheißeschaufler sein konnte.
Ein Kumpel hat mir den Tipp gegeben, dass da für einen mit meiner Ausbildung eine Stellung frei war. Eine Stellung, wo ich wahrscheinlich wieder auf ein paar alte Freunde stoßen würde. Die Jungs in Washington würden davon nicht begeistert sein, aber die sind ja schließlich von gar nichts begeistert, was sie nicht voll und ganz kontrollieren. Also wurde ich wieder Soldat. Auf meiner eigenen Seite.« Er schüttelte den Kopf, wie um damit anzudeuten, wie sinnlos dieser endlos lange Krieg zwischen Ost und West gewesen war. Er war auf Schlachtfeldern in der ganzen Welt geführt worden, meistens ohne dass man ihn ausdrücklich erklärt hatte. Und dabei waren mehr als nur Menschen getötet worden.
»Aber, weißt du, ich und meine Kumpel konnten zwar so ziemlich jede Schlacht gewinnen, nur ganz sicher nicht den verdammten Krieg! Es war wieder ganz wie in Vietnam. In Rhodesien hatten wir bei meiner Einheit ein Team, das vermutlich die höchste Abschussrate in der Geschichte der Kriegführung hatte. Fünf Typen aus einem Guerilla-Regiment weggeputzt, paff! Weg! Und trotzdem haben wir den gottverdammten Krieg verloren.
Und dann, nach Rhodesien, hatte ich schließlich die Nase voll. Ich habe gut Geld verdient, aber das war egal; die Scheißkerle haben jedes Mal wieder gewonnen. Also bin ich nach Hause gegangen und Bauer geworden, wie mein Vater und mein Großvater und dessen Vater. Und irgendwann einmal wird Mike, so Gott will, wieder durch diese Tür hereinkommen und das Haus erst wieder verlassen, wenn man ihn mit den Beinen voraus hinausträgt.«
Seine flackernden Augen wandten sich seiner Schwiegertochter zu, und sie spürte, dass er endlich so weit war, dass er zu ihr wie zu einem anderen Soldaten redete, nicht einer Zivilistin in Uniform. »Eines musst du dir merken, Sharon – und vielleicht ist das das letzte Mal, dass ich die Chance habe, einem jungen Offizier etwas beizubringen –, es stimmt wirklich, dass man sich mehr um seine Freunde als um seine Feinde kümmern muss. Gegen den Feind kann man sich verteidigen, aber es ist verdammt schwer, sich gegen die eigene Seite zu verteidigen.« Er schüttelte erneut sein Löwenhaupt und goss sich Selbstgebrannten nach, und das Feuer in seiner Seele schien plötzlich gedämpft.
»Papa O’Neal?«, sagte sie leise, nachdem sie kurz nachgedacht hatte.
»Yeah, Lieutenant?« Er blickte nicht von seinem Glas auf.
»Ich bin froh, dass du ihn erschossen hast. Wenn du das nicht getan hättest, wärst du jetzt nicht für uns da.« Sie lächelte schwach. »Gottes Wege sind oft geheimnisvoll.«
»Mhmpf«, machte er. »Na ja, erschossen habe ich ihn nicht. Ich habe das Messer genommen. Weil ich seine Augen sehen wollte.« Er schüttelte erneut den Kopf und kippte den Selbstgebrannten ins Feuer, wo es aufflammte wie ein Leuchtfeuer in der Nacht.