Fragment 60

Der Strand war leer. Im September verirrten sich nur noch selten Menschen in diese Bucht. Carruaca lag auf dem Rücken im heißen Sand und beobachtete seine beiden Kinder, die gerade einen Kampf gegen böse Meeresmonster austrugen. Isobel, seine Frau, saß auf einer Liege unter dem Sonnenschirm und war in einen Roman vertieft. Science-Fiction eines ihm unbekannten Autors. Eva war blond … Sie hob nur ab und zu den Kopf, um nach den Kindern zu sehen.

In ein paar Stunden, hatte sie ihm beim Frühstück mit einem Augenzwinkern versprochen, würde sie ihn für seine Geduld entsprechend entschädigen. Und wie sie es gesagt hatte, ließ keine Zweifel offen, was sie mit entsprechend gemeint hatte. Er hatte Isobel während eines Urlaubes auf den Philippinen kennen und lieben gelernt. Sechs Wochen später waren sie verheiratet und er hatte es keine Sekunde lang bereut.

Ein Schrei seiner jüngeren Tochter ließ ihn zusammenzucken. In Sekunden war er auf den Beinen und bei ihr. Er hob sie hoch und drückte sie an sich.

»Was hast du, mein Schatz? Hat dich etwas erschreckt?«

»Marifé«, schluchzte sie. »Monster.«

Sie deutete auf einen Felsen. Isobel war einen Augenblick später neben den beiden und sah zum Felsen hinüber.

»Wo ist Marifé? Sie war doch gerade eben noch dort drüben.«

Sie lief zum Felsen. Das Wasser war hier nicht sehr tief. Panisch suchte sie den Meeresgrund ab, wühlte im Seetang. Bald war sie sicher, dass kein Körper unter dem Gras verborgen war, ihre Tochter nicht ertrunken ist.

»Marifé. Wo bist du? Lass das. Komm sofort hierher!«

»Monster! Monster!«, schrie die Kleine in einem fort.

»Ruhig, mein Liebes. Da gibt es keine Monster. Da ist nur Wasser … und ein Felsen. Ich zeige es dir.«

Er ging langsam zum Wasser.

»Nein. Nein«, kreischte sie und schlug mit ihren Händen auf Carruacas Brust. »Papa. Weg! Mama!«

Er setzte das Mädchen auf den Boden.

»Lauf zu Mama.«

Das Mädchen lief zu ihrer Mutter, die sie in ihre Arme nahm und mit ihr zum Sonnenschirm zurückging.

Carruaca drehte sich zum Meer. Das Rauschen der Wellen und des Windes erstarb ohne jeden Übergang. Es herrschte gespenstische Stille. Auch das Wimmern des Mädchens und die tröstenden Worte seiner Frau verstummten im gleichen Augenblick. Der Zeitfluss verlangsamte sich, wurde zäh wie Honig.

Dar Kha! Sie sind hier.

Was um alles in der Welt wollen sie hier?

Dich!

Er wollte seine Frau warnen, doch kein Laut drang aus seinem Mund. Sein Ghar Dha hatte das Kommando übernommen und veränderte die Struktur seines Körpers.

»Was soll das? Ich muss zu Nenita und Isobel, muss sie beschützen.«

Zu spät.

»Was heißt zu spät? Sie stehen keine zehn Meter von uns entfernt. Lass mich los. Sofort!«

Sie sind hier. Wir müssen warten. Sonst werden wir aufgelöst.

Carruaca versuchte, zu seiner Frau zu gelangen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Er fühlte, wie er sich verwandelte, zu Stein erstarrte. Kohlenstoffatome wanderten nach außen, positionierten sich neu, bildeten eine dünne, jedoch beinahe unzerstörbare Schicht aus glitzernden Diamanten.

Isobel versuchte zu fliehen, sie stolperte, fiel. Nenita entglitt ihren Händen. Noch bevor das Mädchen auf dem Boden aufschlug, griff ein schwarzes Tentakel nach ihr und zog sie ins Meer. Isobels Gesicht verwandelte sich vor Entsetzen in eine Fratze. Carruaca erkannte seine Frau nicht wieder. In ihren Augen las er Furcht, Trauer und noch etwas. Etwas, das ihn für den Rest seines Lebens verfolgen würde: Wut und Enttäuschung.

Warum hast du es mir nicht gesagt? Du bist schuld am Tode unserer Töchter.

Eine Welle schwappte über seine Frau, begrub sie unter sich. Er sah, wie sie sich verwandelte. Kleine schwarze Rußpartikel bedeckten ihren Körper, fraßen sich immer tiefer in ihr Fleisch. Die infizierten Flächen wurden größer und durchsichtiger, als würde ein Feuer sie von innen heraus verbrennen. Eine zweite Welle rollte heran, erfasste den Körper, der sich auflöste, als wäre er Zucker in einem heißen Tee. Eine Sekunde später war seine Frau verschwunden, sie war wahrscheinlich tot. Er schrie, schrie aus Leibeskräften, versuchte sich zu befreien. Doch sein Ghar Dha kannte keine Gnade, ließ ihn nicht aus seinem eisernen Griff.

Dar Kha stürzte sich auf ihn, eine schwarze ölige Masse versuchte, sich durch seine Haut zu fressen. Stunden stand er da und wartete auf seinen Tod. Doch er wollte nicht kommen, biss sich an der Diamanthülle die Zähne aus.

Die Nacht brach herein, die Dunkelheit bedeckte ihn wie ein Leichentuch.