30 Spannerraum
Abarell war in Richters Haus gewesen und hatte dort, wie von Carruaca angekündigt, einen Geheimgang gefunden, der zur Oper führte. Es war totenstill in den Räumen; früher angeblich Basis einer Terrorgruppe, was Abarell nicht so recht glauben wollte. Überhaupt sahen die Räume so aus, als ob sie gerade erst gereinigt worden wären. Die Betten in den Schlafzimmern frisch bezogen, nirgendwo Staub, die Steinböden so sauber, dass man davon hätte essen können. Er war sich fast sicher, er würde in den Kühlschränken frische Lebensmittel finden, wenn er nachsehen würde.
Auch der Großteil der Monitore im Spannerraum, wie Carruaca ihn genannt hatte, waren noch in Betrieb. Sie zeigten Straßen, Hallen, Büros, Bordelle, Theater, Museen, private Wohnungen. Er setzte sich an einen der Kontrollplätze und begann, die Menüstruktur des Programmes zu durchforsten, das auf einem Uralt-PC lief. Die Bedienung war einfach. Und als er die Chipkarte in den Kartenleser steckte, hatte er Zugang zu einer Reihe von Zusatzmenüs und einer elektronischen Weltkarte.
Er musste nur auf einen Ort, eine Straße oder ein Gebäude klicken und schon öffnete sich ein Fenster mit einem Bild oder Video. Dieses konnte er dann mittels eines Auswahlmenüs auf einen Monitor in die Galerie verschieben. Natürlich gab es nicht überall in unmittelbarer Nähe eines gewählten Punktes eine Kamera. Trotzdem gab es erschreckend viele, die genau das abbildeten, was auf der Karte ausgewählt wurde; und nicht wenige davon zeigten private Schlaf-und Wohnzimmer in Bild und Ton. Es mussten Hunderttausende Kameras sein.
Er verbrachte Stunden damit, Menschen zu beobachten; und je später die Stunde, umso privater wurden die Ansichten auf der Galerie. Bilder aus Bordellen, gehässige Auseinandersetzungen in vermeintlich sicherer privater Umgebung, brutale Vergewaltigungen, der Missbrauch von Kindern.
Kleinere Diebstähle, Raubüberfälle und mit Sicherheit auch Morde. Das alles nur ein paar Mausklicks entfernt. Abarell wusste nun, warum Carruaca diesen Raum Spannerraum nannte. Und er ahnte auch, was man mit diesen Bildern alles erreichen konnte, wenn man sie richtig einsetzte. Er war sich sicher, dass diese Bilder genau dazu verwendet worden waren und vielleicht auch noch wurden; aufgenommen in irgendeinem Spannerraum, irgendwo auf dieser Welt, und verwendet gegen Menschen dieser Welt, die nicht ins Konzept passten. Ins Konzept einer geheimen Weltregierung.
Er fand sogar eine Kamera, die das Büro von Wels zeigte. Sie musste über dem Stahlschrank in der Ecke montiert sein. Doch dort hatte er noch nie etwas Auffälliges gesehen. Die Kamera konnte nicht größer als ein Stecknadelkopf sein. Er hoffte, dass niemand die Übergabe der Unterlagen mitverfolgt hatte, denn es könnte bedeuten, dass sie ihn jetzt schon auf der Liste hatten; wie immer diese auch aussehen mochte. Die Terrasse des Le Café hingegen war sauber, der Eingangsbereich war allerdings über eine Kamera an der Kreuzung leicht zu überwachen.
Werde ich jetzt paranoid?
Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und wählte Christines Wohnadresse. Sie teilte sich mit ihren Freundinnen eine Etage in einem Bürgerhaus aus dem Barock in der Altstadt. Es war eine der luxuriösesten Wohngegenden in der Stadt und die drei Studentinnen konnten sich diese Wohnung nur leisten, weil Conchitas Vater ein reicher spanischer Viehhändler war, der seiner Tochter nichts abschlagen konnte. Auch nicht die in seinen Augen unvernünftige Idee, in einem Café ihr eigenes Geld für ihr Journalismus-Studium verdienen zu wollen.
Unglaublich.
Conchita lag auf der Wohnzimmercouch und telefonierte. Er konnte jedes Wort verstehen. Sie sprach mit jemandem über ein Rockkonzert, das am Wochenende stattfinden sollte. Conchita Garcia konnte ihre spanischen Wurzeln beim besten Willen nicht verbergen. Und schon gar nicht, wenn sie nur in ein viel zu kleines Handtuch gewickelt, fast nackt, auf einer Couch lag. Dunkelbraune Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren und …
Christine kam ins Zimmer. Sie war wohl gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie wechselte ein paar Worte mit Conchita und verschwand durch eine Tür. Er sah in der Kameraauswahl, dass es in dieser Etage noch vier weitere Kameras gab. Vier Schlafzimmer. Und in einem dieser Zimmer knöpfte sich Christine gerade ihre Bluse auf. Er erinnerte sich wieder an die Berührung auf der Terrasse.
Shit.
Er kappte die Verbindung.
Warum gibt es in dieser Wohnung fünf Kameras?
Die Antwort gab er sich gleich selbst. Die Altstadt war dem Programm zufolge zugepflastert mit Kameras, in jedem Haus gab es mindestens zehn davon. Was auch kein Wunder war, dort hielten sich normalerweise nur die Reichen und Schönen auf. Viele Politiker hatten Zweitwohnungen dort, die sie nutzten, wenn die Arbeitstage anstrengend, die Nächte lang und die Hostessen schön waren. Und in den Hotels um den Marktplatz verkehrte alles, was Rang und Namen hatte. Ein Paradies für Informationshändler.
Abarell musste sich mit Gewalt von der Monitorgalerie losreißen. Es konnte zur Sucht werden, das Leben der Anderen in sich aufzusaugen. Er ging in den Tresorraum, eine unterirdische Halle, 50 Meter lang und 20 Meter breit, ein Bunker, bombensicher, durch eine Stahltür gesichert, in der Hunderte Stahlschränke standen. Es war das Vermächtnis einer unbekannten Gruppe, die angeblich Kopien der geheimsten Projekte seit den 20er Jahren bis weit hinein in die 90er Jahre des letzten Jahrtausends zusammengetragen und in Lagern wie diesem gesammelt hatte.
Ein 1000 m² großer bombensicherer Raum unter der Oper und niemand wusste etwas davon. Das war so unglaublich, dass ihm wieder Zweifel kamen. Doch er schob diese Gedanken schnell beiseite. Er war hier, um etwas über Pandoras Gral herauszufinden und nicht, um sich als Spanner zu betätigen oder darüber nachzudenken, warum diese Räume unentdeckt geblieben waren.
Dafür brauch ich Jahre.
Zwei Computer standen auf Tischen ganz hinten an der Wand. Die Leuchten an der Decke tauchten den Raum in ein diffuses orangefarbenes Licht. Er hatte das Flair eines Atombunkers und wahrscheinlich würden die Dokumente in diesem Raum auch einen Atomschlag überdauern, wenn es denn zu einem Atomkrieg käme.
Er ging zu den Computern und aktivierte sie. Die Dokumente, die ihn am meisten interessierten, wollte er sich zuerst ansehen. Vieles hatte er schon von Carruaca bekommen, doch hoffte er, hier noch mehr zu finden.
Pandoras Gral, tippte er in die Suchmaske ein. Z05.02: PG 1 - 23, war die Antwort des Computers. Und dazu eine Liste, die mehrere Bildschirmseiten lang war.
23 Ordner mit jeweils 300 Blatt. Das ist nicht so viel, wie ich erwartet habe. Das schaffe ich in einer Woche. Doch zuerst muss der Kühlschrank aufgefüllt werden, sonst wird das nichts.