Fragment 54

»Sie haben versagt!«

Der Erste war aufgebracht. Carruaca hatte ihn noch nie so gesehen. Er hatte überhaupt noch nie eine erwähnenswerte Reaktion beim Ersten erlebt. Und nun schlug er die Möbel in der Zentrale kurz und klein. Möbel, für die Antiquitätenhändler Millionen hingelegt, viele Archäologen getötet, Museumsdirektoren Regierungen gestürzt hätten.

»Nicht ich habe versagt, sondern der Gardist, den ich in mir trage. Er ist unfähig, nicht in der Lage, mir zu sagen, was er von mir will. Dafür gehört er extrahiert und aufgelöst.«

Der Erste blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Er drehte sich zu Carruaca um und sah ihn an, als wäre er ein Affe in einem Zoo.

»Was haben Sie gesagt?«, fragte er verdutzt.

»Sie haben schon richtig gehört. Ich verstehe jetzt, warum ihr immer noch nicht an der Macht seid. Ihr könnt zwar Menschen übernehmen und sie versklaven, aber es fehlt euch an Disziplin, Willensstärke und vor allem fehlt es euch an der nötigen Fantasie. Ihr seid einfach unvollkommen und schwach. Ich wundere mich, dass ihr überhaupt so lange überlebt habt.«

Das Kinn des Ersten klappte nach unten. Er schien zu überlegen, wie er Carruaca töten wollte: kurz und schmerzlos, um der Wut, die er verspürte, einen Weg zu bieten, sich zu entladen oder doch langsam und qualvoll, um den primitiven Gelüsten seines Wirtes nachzugeben, der nach einer Läuterung durch Schmerzen schrie. Doch dann entspannten sich seine Gesichtszüge. Er hatte eine Entscheidung getroffen.

»Sie glauben wirklich, dass Sie es besser können?«

»Ja. Sie haben offenbar keine Ahnung, wozu Menschen imstande sind, wenn ihnen alles genommen wird und sie nur noch eines im Sinn haben: Rache!«

»Das mag schon sein, doch bei Ihnen trifft das wohl nicht zu?«

Eure Rasse ist erbärmlich, verlogen und so unendlich dumm.

Carruacas Antwort fiel ruhig und emotionslos aus. Innerlich kochte er allerdings vor Wut und es hätte nicht mehr viel bedurft und der Sessel, an den er sich lehnte, hätte den Schädel des Ersten zertrümmert. Was allerdings ein lächerlicher Anschlag auf das Leben des Ersten gewesen wäre. Der Einzige, der hätte leiden müssen, wäre sein Wirt gewesen; und natürlich auch Carruaca, er wäre sofort vom Gardisten, den er in sich trug, mit Reizüberflutung bestraft worden. Dazu würde er jedes Nervenende einzeln stimulieren und dies so lange, bis die Schmerzen unerträglich werden und zur Bewusstlosigkeit führen würden. Aufhören würde der Gardist erst, wenn der Körper kurz vor dem endgültigen Kollaps stünde und Gefahr bestand, dass er sterben würde.

»Es trifft bei mir mehr zu als bei den meisten der Menschen. Der Tod meiner Kinder …«

»Ich verstehe Ihre Wut. Doch wir hatten keine Wahl, wir mussten so handeln. Ihr Leben stand auf dem Spiel.«

»Und das meiner Familie …«

»Diese Menschen waren ohne Bedeutung. Sie wissen, dass …«

Ohne Bedeutung, … Ich sollte Sie …

»… wir keine Ressourcen haben, unbeteiligte Menschen vor den Angriffen dieser Kreaturen zu schützen. Wir sind zu wenige, unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Wir müssen so handeln.«

Carruaca senkte den Blick, um dem Ersten zu zeigen, dass er verstanden hatte.

»Ich schenke Ihnen weitere 25 Jahre. Und anders als in der letzten Periode wird Ihr Gardist während dieser Zeit keinen Einfluss auf Sie ausüben, sich Ihnen nicht zeigen oder sich Ihnen in irgendeiner Form aufdrängen. Sie erhalten die völlige Kontrolle über Körper und Geist zurück. Falls Sie es schaffen, die Rächerin aufzuspüren und zu töten, sind Sie frei. Das ist alles.«

Und wenn nicht, dann sterbe ich. Doch das werde ich ohnehin. Ihr seid ein naives Volk.

Carruaca verließ die Zentrale. Er fühlte sich frei. Kein Nebel trübte seine Gedanken. Der Druck in seinem Kopf war verschwunden. Es war, als ob jemand die Handbremse gelöst hätte und sein Gehirn zum ersten Mal mit Normalgeschwindigkeit arbeiten durfte. Im Augenblick war er jedem Menschen weit überlegen. Sein Körper genoss den Schutz des Gardisten, was relative Unsterblichkeit bedeutete, und er konnte auf ein unendliches Wissensarchiv zurückgreifen, dem kollektiven Gedächtnis der Garde.

Wenn Ihr wüsstet, was ich plane … ich wäre längst tot. Doch das ist es wohl, was man den Preis der Freiheit nennt.