Fragment 21

Der 19.02.1992, ein Tag, wie jeder andere? Nein, es sollte der schlimmste Tag in seinem bisherigen Leben werden. Als Rhet Carruaca um 9 Uhr sein Büro betrat, ahnte er nicht, welche dramatische Richtung sein Leben einschlagen würde.

Simon hatte ihn in der Nacht angerufen und von neuen Hinweisen im Mysteryvirus Fall gesprochen. Er hätte Informationen bekommen, dass eine Organisation namens »Pandoras Gral« für die Morde verantwortlich sein soll.

Carruaca ging den Gang entlang zu seinem Büro im dritten Stock auf der Südseite des Gebäudes. Im Sommer war es dort zwar drückend heiß, doch die schöne Aussicht auf den Schlosspark und die vielen kleinen Teiche darin, war eine mehr als ausreichende Entschädigung dafür. Das Rauschen der Eichen und das Vogelgezwitscher halfen ihm, auch besonders anstrengende Tage zu überstehen.

Die Installation einer Klimaanlage war zwar oft in Aussicht gestellt worden, scheiterte aber jedes Mal aufs Neue an den immer grotesker werdenden Auflagen des Denkmalamtes. Heute würde es besonders heiß werden, und daher wusste er schon jetzt, wen er den lieben langen Tag verfluchen würde und wen die Schuld traf, wenn etwas nicht nach Plan laufen sollte.

Er drückte sich einen Kaffee aus dem Automaten und setzte sich an seinen Schreibtisch. Ein Notizbuch lag darauf. Es war Simons schwarzes Moleskine. Er ließ sein Notizbuch nie für längere Zeit einfach so liegen. Es war sein eigentliches Gehirn, ohne dieses waren seine Überlebenschancen gering, witzelten seine Kollegen über ihn, wenn er es wieder einmal verzweifelt suchte und dann in irgendeiner Jacken-oder Hosentasche fand. Vor allem aber enthielt es seitenweise Informationen, die man nicht lesen wollte; außer man war an einer reißerischen Schlagzeile interessiert.

Simon ist also schon hier. Warum hat ihn die Wache nicht gesehen?

Carruaca legte das Notizbuch auf die Seite und schaltete den Computer ein. Er wählte Simons Nummer. Es meldete sich die Mobilbox.

Wozu sind diese modernen Mobiltelefone gut, wenn man nie jemanden erreicht.

Auf dem Monitor blinkte ein roter Balken, in dem ein weißer Text stand: Mord im Zoo im Schlosspark. Fast gleichzeitig meldete sich der Pager und jemand versuchte, ihn über Funk zu erreichen.

Scheiße, als ob es in diesem Monat nicht schon genug Morde gegeben hat.

Er trank rasch den Kaffee aus und stürmte hinaus. Der Zoo war keine 800 Meter entfernt, da konnte er zu Fuß hinlaufen. Bevor er das Polizeigebäude verließ, bat er den diensthabenden Wachbeamten, den Polizeibeamten vor Ort mitzuteilen, dass er auf dem Weg sei. Etwas außer Atem kam er am Tatort an. Er sah von Weitem, dass etwas Schreckliches vorgefallen sein musste. Die beiden Polizisten am Eingang waren leichenblass.

»Schon eine Idee, wer das Opfer ist?«

Sie senkten den Blick und schüttelten den Kopf. Carruaca wusste instinktiv, dass sie das Opfer kannten, es aber nicht sagen wollten. Als er sich dem Tatort näherte, spürte er es sofort: Es herrschte Weltuntergangstimmung. Niemand sah ihm in die Augen, alle wichen seinen Blicken aus. Carmen Rodriguez, die Gerichtsmedizinerin, kam ihm entgegen. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihr Blick war stumpf und erschöpft, doch sie hielt seinen fragenden Blicken stand.

»Du solltest nicht hier sein.«

Carruaca stellte den Kopf schief.

»Warum? Du hast mich doch benachrichtigt? Das ist doch deine ID?«

Er zeigte ihr die Nachricht auf dem Pager.

»Nein, mit Sicherheit nicht. Ich habe keine Ahnung, wer dich alarmiert hat, doch du solltest jetzt besser gehen. Sanchez und Damaso sind schon am Tatort. Sie werden den Fall übernehmen.«

»Damaso? Ich verstehe nicht …«

Carruaca schob Rodriguez zur Seite und stieg in den kleinen künstlichen Teich hinab. Dort, wo normalerweise die Krokodile auf ihre Beute lauerten. Er war wohl schon vor Stunden abgelassen worden, so trocken, wie der Boden war. Das bedeutete, der Mord war schon vor Stunden geschehen, und niemand hatte es für notwendig erachtet, ihn zu benachrichtigen. Damaso sah ihn, wechselte ein paar Worte mit Sanchez und setzte sich in Bewegung. Auch ihm sah man an, dass er nicht viel geschlafen hatte. Die Wangen waren eingefallen, tiefe Furchen zeigten sich unter den Augen. Er schwitzte, seine grauen Haare klebten wie Fremdkörper an Stirn und Schläfen.

»Rhet, auf ein Wort.«

»Lass mich in Ruhe! Wer liegt da unter der Plane?«

Er stellte sich Carruaca in den Weg, packte ihn am Arm »Rhet!«

Seine Stimme war leise aber bestimmt. Es war ein Befehl. Carruaca stoppte verblüfft. Das war nicht Damasos Art.

»Ich weiß, dass wir nicht die besten Freunde sind …«

»Lass diese Spielchen, komm doch einfach zur Sache …«, unterbrach ihn Carruaca wütend.

»Gut, aber du gehst dann wieder in dein Büro und wartest auf das Ergebnis der Untersuchungen.«

Carruaca nickte.

»Gerne, ich habe genügend ungeklärte Fälle … also?«

Damaso zögerte einen Augenblick.

»… der Tote ist Simon.«

»Was?«

Carruaca war fassungslos. Er stieß Damaso zur Seite und stürmte zur Leiche. Damaso schrie etwas hinter ihm her, doch er hörte nicht hin. Die Welt um ihn stand still. Er riss die Plastikplane von der Leiche und erstarrte. Sanchez trat an seine Seite und redete auf ihn ein. Doch Carruaca verstand kein Wort. Er sah nur einen übel zugerichteten Torso, einen abgerissenen Kopf, dem das halbe Gesicht fehlte und ein totes Auge, das ihn anstarrte.

Sanchez schob ihn von der Leiche weg, hinauf zum Eingangsportal des Krokodilgeheges. Carruaca leistete keinen Widerstand. Er hatte schon Dutzende Tote gesehen, die schlimmer zugerichtet gewesen waren, als Simons Leiche. Doch dieses blutunterlaufene Auge würde ihn bis an sein Lebensende verfolgen.