50 Monsterseele

»Wo bin ich?«, stellte Conchita die Frage ein zweites Mal. Anstatt einer Antwort packten sie zwei Männer an den Armen und zerrten sie auf ein Bett. Ein überraschtes »Was?« verließ ihren Mund. Mehr konnte sie nicht sagen, denn kurz darauf lag sie mit Stahlbändern fixiert auf der harten Liegefläche. Eine Nadel bohrte sich in ihren Hals. Da war wieder dieser brennende Schmerz, der sich einen Weg durch ihre Adern fraß. Sie biss die Zähne zusammen, starrte an die Decke, fixierte einen Scheinwerfer. Sie wollte wach bleiben, nur nicht das Bewusstsein verlieren.

»Das dient nur der Sicherheit«, hörte sie den Mann sagen, der bisher als Einziger auf ihre Fragen geantwortet hatte. Der Fremde stand jetzt neben dem Bett und fühlte ihren Puls. Conchita versuchte, ihren Blick auf das Gesicht des Fremden zu fokussieren. Doch es gelang ihr nicht. Ihre Augen lieferten nur ein verschwommenes Bild ihrer Umgebung.

»Sicherheit? Ich fühle mich jetzt nicht sicherer. Im Gegenteil! Nackt auf einem Bett zu liegen und von Männern angestarrt zu werden, erhöht mein Sicherheitsgefühl überhaupt nicht.«

»Wir sorgen uns nicht um deine, sondern um unsere Sicherheit. Wir werden jede unbedachte Handlung von dir bestrafen. Und deine Nacktheit ist bei dir und deinesgleichen normalerweise kein Thema. Hast du wieder vergessen, wer du bist?«

»Ich verstehe nicht …«

Im gleichen Augenblick, als sie den Satz aussprach, wusste sie, dass sie verloren hatte. Ihre Muskeln verkrampften sich.

Nach Jahrtausenden der Flucht.

Sah so das Ende aus?

Sie sandte Befehle an ihren Körper, doch diese blieben ohne Wirkung. Es war, als verstünden ihre Zellen sie nicht mehr. Sie antworteten nicht, sie blieben stumm.

»Was habt ihr mit mir gemacht?«, schrie sie hysterisch. Sie versuchte, die Struktur ihrer Haut zu verändern. Doch keine ihrer Zellen reagierte. Sie war hilflos, abgeschnitten von ihrem Volk. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt. Da war sie wieder, die übermächtige Angst vor dem Tod. Nie zuvor war diese Furcht so groß gewesen, sie riss verzweifelt an den Stahlbändern. Eine Hand verlor kurz ihre feste Konsistenz, floss durch die Fesseln. Hoffnung keimte in ihr auf.

»Lass diesen Blödsinn. Du machst alles nur noch komplizierter für dich; und schmerzhafter.«

Er drückte den Arm zurück auf die Liegefläche, jemand schlug mit einem harten Gegenstand auf den Oberarm. Sie fühlte, wie er brach. Sie schrie. Die Zeit schien stillzustehen. Die Hand nahm langsam ihre natürliche Form an.

»Nein! Noch nicht! Bitte! Hilf mir!«, flehte sie den Mann an.

Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen die Verwandlung, doch vergebens. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie verlor beinahe das Bewusstsein. Der Blick zu ihrer Hand ließ sie erschaudern. Die Metallklammer ging mitten durch die Handfläche. Ihr wurde Übel, sie fühlte, wie der Mageninhalt in ihr hochstieg.

Pizzaecken.

Sie musste sich übergeben. Erbrochenes verteilte sich auf Gesicht, Hals und Brust und rann an den Seiten auf das Bett. Jede noch so kleine Bewegung verursachte große Schmerzen. Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Hilf mir!«

»Wie kann ich dir helfen? Soll ich dir die Hand amputieren?«, fragte der Mann gleichgültig. »Du wolltest ja nicht auf mich hören.«

»… mich … morphen.«

»Natürlich. Ein guter Vorschlag«, sagte er spöttisch. »Und danach wirst du uns töten. Oder zumindest abhauen. Aber ich will ja nicht so sein. Wir sind keine Barbaren. Ein Anästhetikum … wird den Schmerz lindern.«

Er zog eine Spritze auf und injizierte es in die von der Fessel durchbohrten Hand.

»Die Wirkung wird gleich einsetzen und so lange anhalten, bis wir mit dir fertig sind.«

Conchita zwang sich, noch einmal zur Hand zu sehen. Und sie verlor jede Hoffnung. Sie sah keine andere Möglichkeit aus der Falle zu entkommen, als die halbe Hand abzutrennen; oder sie zu transformieren. Was allerdings keine Option war, denn das Serum ließ die Verwandlung nicht zu. Es war vorbei. Sie würden ihre DNA extrahieren, und falls das Ergebnis ihren Erwartungen entsprach, würde sie sterben. Im anderen Fall … würde sie auch sterben.

Doch was viel schlimmer war, in beiden Fällen würde dieses Sterben lange dauern und ihr Körper vielen Gardisten eine willkommene Abwechslung bringen. Und sie würden sie hier auf diesem Bett töten und auch die gefangene Hand auf kreative Weise für ihre perversen SM-Spiele missbrauchen. Sie wollte sich die Schmerzen nicht mehr vorstellen, versuchte, diese Gedanken zu vertreiben. Doch es wollte ihr nicht gelingen.

Es gab Menschen, die blickten dem Tod lächelnd in die Augen, wenn sie starben. Conchita gehörte nicht dazu.

Atme. Atme regelmäßig. Vergiss nicht zu atmen.

»Wer sind Sie?«, fragte sie, um sich von der Eisenhand und dem zertrümmerten Arm abzulenken. Der Mann zog überrascht die Augenbrauen hoch.

»Das weißt du nicht? Ach ja, ich vergaß, du bist von den anderen abgeschnitten und erinnerst dich an nichts.«

»Kennen wir uns?«

»Ja, wir sind uns bisher zweimal begegnet. Ich bin Blome.«

Sie zuckte zusammen. Ein Blitz schlug in ihrem Gehirn ein, Elektronenströme fluteten die Nervenstränge und lähmten ihren Körper. Doch die Gedanken rasten weiter. Immer schneller. Und im Kreis.

Blome! Folter! Blome! Tod! Blome! Mord!

»Was hast du? Erschreckt dich dieser Name so sehr? Es ist nur ein Name.«

»Blome ist das Böse«, brachte sie keuchend heraus.

Blome lachte.

»Ich bin böse? Ich?«

Er schlug mit der Faust auf ihren Bauch. Reflexartig wollte sie sich aufrichten, doch die Fesseln rissen sie zurück. Blut spritzte aus der Hand, die mit dem Metall verwachsen war, doch das nahm sie nicht wahr. Sie schnappte nach Luft. Vergeblich. Ihr wurde wieder schwarz vor Augen.

»Nicht wegtreten, Kleines. Noch nicht.«

Etwas Spitzes drang in ihren Brustkorb ein, direkt in ihr Herz. Adrenalin jagte durch ihre Adern.

»Besser so? Adrenalin direkt ins Herz. Du solltest dich geehrt fühlen. So werden nur die privilegiertesten Patienten behandelt.«

Conchita hörte das Blut in ihren Ohren rauschen, das Herz schlug schneller und schneller. Gleich würde es zerspringen, wenn nicht ein Wunder geschah. Doch sie fühlte auch ihre Kraft zurückkehren. Die Knochen in ihrem Oberarm wuchsen in einem atemberaubenden Tempo zusammen und kaum hatte sie sich darüber gewundert, war er auch schon verheilt.

Die Rettung?

»Ich sehe das Glänzen in deinen Augen, deine Selbstheilungskräfte sind zurück. Doch ich muss dich enttäuschen, es ändert nichts an deiner Lage, die Wirkung wird gleich nachlassen und die Hand kannst du auf diese Weise nicht befreien.«

Conchitas Zustand besserte sich von Sekunde zu Sekunde. Ihr Blick wurde wieder klarer. Jetzt konnte sie Blomes Gesicht erkennen. Es war nicht ihr Blome, nicht der Blome, den sie von den Videos kannte. Und doch war da etwas Vertrautes an ihm. Seine Bewegungen, seine Haltung, die Mimik und … seine Augen. Die Augen eines verzweifelten Mannes.

»Warum können wir nicht wie vernünftige Menschen miteinander reden?«

Blome setzte sich neben sie auf die Bettkante und verzog sein Gesicht zu einer Fratze, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Kein Mensch würde seine Gesichtsmuskeln zwingen können, länger als den Bruchteil einer Sekunde in dieser unnatürlichen Position zu verharren. Doch Blome scherte sich nicht um den Körper, den er gerade für seine Zwecke missbrauchte. Er war nur eine unangenehme Notwendigkeit für ihn, um in diesen Zeiten sein Überleben zu sichern. Blome hasste diese erbärmlichen Kreaturen und ihre bescheidenen kognitiven Fähigkeiten. Für ihn waren es Gefängnisse, die ihn in seinen Möglichkeiten derart einschränkten, dass seine Gedanken an grausame Rache mit jedem Körperwechsel stärker wurden.

»Ganz einfach, weil wir nie Menschen waren«, sagte er verächtlich. »Wir wurden gezwungen, in ihnen zu leben. Auf diese Weise habt ihr uns nahezu ausgerottet. Doch das Blatt hat sich gewendet. Und nun werdet ihr mit ihnen untergehen.«

»Diese Welt ist groß genug …«

Sie nahm nur eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr und kurz darauf schoss eine Schmerzwelle durch ihren Körper, die ihr beinahe den Verstand raubte. Alle Muskeln erschlafften, Blase und Darm entleerten sich. Blut tropfte aus ihren Ohren.

»Ja, diese Welt wäre groß genug gewesen. Doch eure Überheblichkeit, eure Machtbesessenheit hat eine zweite Art auf diesem Planeten nicht zugelassen. Jetzt ist es zu spät. Für dich, für euch alle. Vor allem aber für eure Sklaven, diese Menschenbrut. Ich bin es leid, bin dir und deinesgleichen überdrüssig. Und diese Menschenkörper und ihre Gelüste, sie bedeuten mir nichts mehr. Du wirst sterben. Jetzt.«

Kalte Metallspitzen bohrten sich langsam durch ihren Rücken, durch ihre Wirbelsäule. Sie zerrissen Nervenstränge und zerfetzten Blutgefäße. Strom floss durch ihren Körper, sie konnte ihr verbranntes Fleisch riechen.

Sie sah das Metall durch ihren Brustkorb brechen. Ihr Körper wurde langsam auseinandergerissen. Sie blieb stumm, nur ein leises Röcheln war aus ihrem Mund zu vernehmen.

»Fühlst du es? Fühlst du diesen Schmerz. Seit ewigen Zeiten, so kommt es mir vor, müssen wir diesen Schmerz erdulden. Diesen nie enden wollenden Schmerz, diese Qualen. Verstehst du jetzt, warum wir euch hassen? Warum wir euch bekämpfen? Wir haben keine Wahl. Wenn wir dieser Folter entrinnen und einen Neuanfang starten wollen, müssen wir euch töten, sind wir gezwungen, die Menschheit auszurotten. Wir ertragen diese Schmerzen nicht länger.«

Blome beugte sich nach vorne, streichelte zärtlich ihre Stirn und sprach ganz leise in Conchitas Ohr.

»Verstehst du es jetzt?«

Sie verstand. Und sie war glücklich, dass er sie schnell und mit diesem Wissen sterben ließ. Denn lange hätte sie diesen Qualen nicht standgehalten.

Seine Entscheidung, sie rasch zu töten, war ein Fehler gewesen. So blieb das bestgehütete Geheimnis der Monsterseelen für weitere lange Jahrhunderte vor der Garde verborgen. Doch das konnte Blome nicht wissen. Für ihn war sie nur ein weiteres Monster, das durch seine Hand den Tod gefunden hatte.