40 Das Amorph
»Was haben wir denn da?«
So etwas wie Zuversicht kehrte in Abarells müdes Gesicht zurück. Seit neun Stunden las er nun schon in den Dokumenten und zum ersten Mal hatte er das Gefühl, einen entscheidenden Schritt weitergekommen zu sein.
»Gottlieb wurde am 09. 11. 1992 tot aufgefunden. Untersuchungen ergaben keine Hinweise auf Fremdverschulden. Bei der Aufbereitung einer Variation des Präparates PAX08C wurde eine unbekannte Menge giftiger Dämpfe freigesetzt, die binnen 15 Minuten zu seinem Tod führten. Subjekt 14061902 ist dabei ebenfalls ums Leben gekommen. Subjekt 04051902 hat den Unfall überlebt, wurde jedoch kurz darauf bei einem Fluchtversuch erschossen.«
1992? Wenn er 1954 diese Experimente durchgeführt hat … da war er Anfang 40 … dann muss er …
Abarell rechnete nach.
Älter als 80? Fast unglaublich.
Und noch etwas fand Abarell in dem 30 Seiten starken Bericht. Auch Blome soll wenige Tage später einem tragischen Unfall zum Opfer gefallen sein. Er hatte sich beim Sturz von einer Leiter das Genick gebrochen und war auf der Stelle tot gewesen.
Weit über 90. Unfassbar!
Abarell war in den Bunker zurückgekehrt und durchforstete die Protokolle, die in den Schränken lagerten. Er vermutete, dass nicht alle Dokumente digitalisiert worden waren und er dort etwas über die Ursprünge der Organisation erfahren würde. Denn sie waren bis jetzt um keinen Schritt weitergekommen. Sie konnten zwar beweisen, dass es geheime Menschenversuche gegeben hatte. Auch nach dem Krieg und von fast allen Nationen dieser Welt. Die Dokumente gaben Stoff für jahrzehntelange Untersuchungen her.
Die Menschenversuche hatten mehrere Ziele: angefangen bei einfachen Wirkungstests neu entwickelter Chemikalien. So konnte man komplizierte und teure Genehmigungsverfahren für klinische Experimente vermeiden und die Dauer der Entwicklung neuer Medikamente entscheidend verkürzen, was den dadurch zu erzielenden Gewinn deutlich erhöhte.
Dann gab es die Versuche mit Drogen. Man wollte die ultimative Wahrheitsdroge finden. Eine Droge, der niemand widerstehen konnte, schon alleine die Erwähnung des Namens der Droge sollte Agenten freiwillig zur Preisgabe geheimer Informationen bringen.
Ein weiteres Forschungsgebiet war die Ausbildung, besser, die Verwandlung von ahnungslosen Bürgern in Killermaschinen. Die Auslöschung der Erinnerungen durch Drogen oder elektromagnetische Wellen und die Einpflanzung von neuen, den eigenen Zielen förderlichen Gedanken, sollten automatisiert und so vereinfacht werden, dass sie praktisch bei jedem Menschen angewandt werden konnten und innerhalb kürzester Zeit zum Erfolg führten.
Und dann war da noch Pandoras Gral. Dieses geheime und wahnwitzige Projekt hatte die Entwicklung einer lebensverlängernden Droge zum Ziel. Bisher hatten weder Cayce noch Abarell Hinweise gefunden, wann diese Experimente durchgeführt worden waren und auch über den Ort konnte man nur Vermutungen anstellen. Möglicherweise waren diese Versuche bald nach Kriegsende eingestellt worden. Der letzte Hinweis war der Eintrag über eine Zuteilung von Forschungsgeldern direkt an Blome im Jahre 1954. Danach verlor sich jede Spur.
Und nun tauchte sein Name in einem kurzen Bericht aus dem Jahre 1992 auf, in dem sein Tod vermerkt war.
1992? Das war doch das Jahr, in dem dieser mysteriöse Virus … die vielen Fälle von Amnesie.
Er nahm den nächsten Ordner aus dem Schrank. Dezember 1992. Diese Akte war anders. Schon die erste Seite wies markante Unterschiede auf: Auf ihr fehlte der Stempel, der sie als Pandora-Akte identifizierte. Und sie war handgeschrieben. Schon die ersten Zeilen ließen erahnen, dass es sich hier um Aufzeichnungen einer Gefangenen handeln musste. Es waren mehrere lose Blätter, die mit einer Schnur an einer Ecke zusammengebunden worden waren.
Das Papier war vergilbt, zerknittert, an einigen Stellen waren Stücke herausgerissen worden. So als ob jemand die Seiten weggeworfen und ein anderer sie wieder aus dem Müll geholt, geglättet und für die Nachwelt gerettet hätte. Die Zeilen, mit einem Bleistift geschrieben, waren kaum noch zu entziffern. Wasser-und Blutflecken hatten ihre Spuren hinterlassen.
8. Tag. Zigeunerlager. So nennen die Wächter unsere Unterkunft. Es ist nicht mehr, als eine große, leergeräumte Lagerhalle. Ich heiße Lela. Meine Schwestern Tikni und Souzan und ich sind vor acht Tagen von Männern in schwarzer Kleidung in der Schule abgeholt und hierher verschleppt worden. Die Lehrer wollten uns nicht gehen lassen, doch die Männer hatten Papiere dabei. Zusammen mit fünf anderen Mädchen wurden wir in ein Flugzeug gebracht und betäubt.
Wir wissen nicht, wo wir sind und warum wir hier sind. Tina sagt, wir sind in Afrika. Dort, wo die zwei Meere aufeinandertreffen. Wenn wir wirklich in Afrika sind, dann werde ich nicht mehr in meine Heimat zurückkehren; dann werde ich hier sterben. Ich habe Angst.
An die ersten beiden Tage kann ich mich nicht erinnern. Tina hat mir später erzählt, dass wir nackt, nur in Decken gewickelt, spät in der Nacht hier abgeliefert wurden. Sie haben uns einfach in dieser Halle auf den Boden geworfen und sind wieder gegangen. Tina und andere Gefangene haben uns in Betten gelegt. Ja, wir sind Gefangene. Ich habe nichts verbrochen. Tina ist auch eine Gefangene und sie kümmert sich um die Kinder und die Neuankömmlinge.
Dann kamen die Wächter. Sie zerrten uns hinaus. Mich, meine Schwestern und zwei andere Mädchen. Wir schrien und wehrten uns, kratzten, bissen. Sie lachten nur und schlugen uns mit Stöcken bewusstlos. Als ich erwachte, hatte ich starke Schmerzen in meinen Beinen und Armen. Und ich konnte mich nicht bewegen. Meine Muskeln gehorchten mir nicht. Mein Kopf war unter einer Glaskuppel festgeschnallt. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass mehrere Männer im Raum waren und mich anstarrten. Wie ein Versuchskaninchen. Sie spritzen mir verschiedene Medikamente in meine Unterarme, meinen Bauch und meinen Hals.
Einer der Männer hatte ein blutiges Messer in seiner Hand. Ich fühlte die Spitze auf meinem Bauch und dann stach er zu. Er schnitt ein Loch in meinen Bauch, wie mit einer Säge. Ich konnte das kalte Metall fühlen und wie das Blut spritzte. Die Schmerzen waren unerträglich. Ich wollte schreien, ihnen sagen, dass ich wach bin. Doch ich konnte meinen Mund nicht bewegen, ich blieb stumm.
Ich hörte sie lachen, miteinander sprechen. Guter Jahrgang, wenig fett. Mein Körper würde gutes Rohmaterial hergeben, für die Forschung. Zwei Tage später erwachte ich wieder. Ich lag in der Halle. Tina war bei mir. Sie hielt meine Hand und versuchte mir zu erklären, was man mir angetan hatte. Ich verstand nicht. Warum sollte jemand …
Hier fehlte ein Stück vom Blatt. Auf der Rückseite stand:
Meine geliebte kleine Schwester Tikni hat die Operation nicht überlebt. Sie haben sie nicht in das Lager zurückgebracht. Ich weine um sie. Souzan liegt neben mir und schläft. Sie schreit im Schlaf. Tina ist bei uns und sagt immer wieder zu mir, dass wir etwas Besonderes sind und nur hier sind, weil sie uns brauchen. Doch warum tun sie uns das an? Warum foltern und töten sie uns, wenn wir etwas Besonderes sind? Gestern konnte ich zum ersten Mal aufstehen. Doch die Schmerzen wollen nicht aufhören. Die Wunden verheilen schlecht, doch sie verheilen. Tina sagt, dass ich bald wieder gesund werde. Ich habe Hunger.
Heute wurden wieder Gefangene gebracht. Acht Mädchen. Halb tot. Tina und die anderen kümmern sich um sie. Zwei werden nicht überleben. Das ist für DIE nicht wichtig. Wichtig sind unsere Gene. Ich weiß nicht, was sie damit meint. Sie sagt, sie wurden während des langen Fluges von den Soldaten …
13. Tag. Es ist mitten in der Nacht. Wächter kommen in die Halle. Sie sind betrunken und prügeln wahllos auf Gefangene ein. Sie reißen sie aus den Betten und treten mit ihren Stiefeln gegen Köpfe und Bäuche, bis sie sich nicht mehr bewegen. Dann zerren sie Mädchen an den Haaren aus der Halle. Eines wehrt sich mit Händen und Füßen und schreit wie am Spieß. Ein Wächter schlägt sie mit einem Gewehrkolben, bis ihr Kopf zerplatzt. Tina ist nicht hier. Sie ist am Nachmittag abgeholt worden. Als sie ging, hat sie mich traurig angesehen. Als ob sie mir sagen wollte, dass sie nicht mehr wiederkommen wird.
Doch sie ist zurückgekehrt. Sie hat sich verändert. Ihre Augen sind jetzt anders, sie sind schwarz. Sie legt sich schützend auf uns, als die Wächter näherkommen. Ich wusste zuerst nicht, warum die Wächter uns verschont haben, sie mussten uns doch gesehen haben?
Erst als Tina sich in ihr Bett gelegt hat, ist mir klar geworden, warum sie uns nicht mitgenommen haben. Wir sind jetzt durchsichtig, wie Puppen aus Glas. Die Wächter haben uns nicht gesehen. Tina hat uns verwandelt und nun weiß ich auch, warum wir einzigartig sind. Ihre traurigen Augen sagten, dass bald viele von uns sterben werden. Doch wir werden weiterleben, wir werden dazugehören, zu den letzten unserer Art.
Abarell war wie gelähmt. Er schüttelte den Kopf.
Die letzten ihrer Art?
Er überflog rasch die restlichen Blätter, konnte dort allerdings keine Hinweise finden, was dieses Mädchen oder die junge Frau damit gemeint haben könnte. Auf einem Blatt stand allerdings ein merkwürdiger Absatz.
15. Tag. Heute Nacht ist ein Mann auf einem Krankenbett in den Saal geschoben worden. Ich habe gedacht, es wäre ein neuer Gefangener. Doch gab es auf einmal große Aufregung im Lager. Ich war ganz hinten und habe wenig gesehen. Sie riefen Blum, es ist Blum, oder so ähnlich. Ich habe sie nur schlecht verstanden. Als sich wieder alle beruhigt haben, war der Mann auf dem Bett tot. Schrecklich zugerichtet.
Ich konnte nicht hinsehen. Ich erkannte nicht, wer er war. Doch eines war mir klar, es muss ein sehr böser Mensch gewesen sein. Sonst hätten ihn die Gefangenen hier im Lager nicht getötet und so zugerichtet. Tina hat sich alleine auf ein Bett gelegt und geweint. Ich habe sie gefragt, was sie hat. Es ist Zeit zu gehen, hat sie gesagt. Morgen werden sie uns töten. Uns alle. Ich habe Angst.
Abarell dachte nach, zählte eins und eins zusammen.
Blome ist nicht von einer Leiter gefallen. Carruaca! Ich muss ihn finden.