57 Überraschung
»Wäre es für dich schlimm, wenn du eine Monsterseele wärst?«
»Was?«
Christine richtete sich abrupt auf, lehnte sich mit dem Rücken an die Stahltür. Ihre Schulter schmerzte. Sie glaubte, ein schwaches Glühen wenige Zentimeter vor ihren Augen zu sehen. Doch es musste sich um eine Sinnestäuschung handeln, denn im Raum war es stockdunkel und es gab hier nichts, was rötlich leuchten konnte.
»Hallo? Ist da jemand?«
Oh, wie kreativ. Und ich war mir so sicher, mir würde in einer solchen Situation ein besserer Text einfallen.
»Du hast ein falsches Bild von uns.«
Das Licht ging an. Eine durchsichtige, in allen Farben schillernde Gestalt stand direkt vor ihr. Christine gefror das Blut in den Adern. Sie wollte um Hilfe schreien, doch nur heiße Luft kam aus ihrem Mund. Die Gestalt streckte die Hand nach ihr aus und berührte die Schulter. Christine wollte zurückweichen, doch die Tür in ihrem Rücken hinderte sie daran.
»Bitte … Nicht.«
»Keine Angst.«
»Was sind Sie? Es ist kalt …«
»Nur ruhig. Die Schulter ist gleich verheilt. Dann geht es dir wieder besser.«
Wie erstarrt stand Christine da. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Endlich zog das Wesen, ein Mensch war es mit Sicherheit nicht, die Hand zurück und entfernte sich ein paar Schritte von ihr. Sie tastete vorsichtig ihre Schulter ab und stellte überrascht fest, dass sie tatsächlich nicht mehr schmerzte.
»Danke.«
»Keine Ursache. Du sollst nicht unnötig leiden.«
Christines Puls näherte sich langsam Normalwerten an.
»Wer sind Sie? Und warum haben Sie mir geholfen?«
Die gläserne Figur veränderte ihre Gestalt, sie schrumpfte. Knochen und Muskeln wurden sichtbar. Sekunden später stand eine durchtrainierte Frau mit kurz geschnittenen roten Haaren in schwarzer Kleidung vor ihr. Christine schätzte sie auf 55 Jahre und sie war sich sicher, diese Frau schon auf einem Foto oder einer Videoaufnahme gesehen zu haben.
»Ich heiße Krylova. Isobel Krylova. Und ich bin eine dieser verhassten Monsterseelen.«
»Monster …«
Krylova lächelte.
»Genau. Wir sind diejenigen, die euch Menschen ausrotten wollen. Du glaubst das doch auch, oder?«
»Wollt ihr das nicht?«
Krylova ignorierte die Frage, setzte sich auf den Boden. Sie griff in ihre Jackentasche, zog ein Päckchen heraus.
»Rauchst du? Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich …«
Sie fischte eine Zigarette aus dem Päckchen, steckte sie in den Mund, zündete sie an und sog genussvoll daran.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Welche? Ob ich rauche?«
»Ob es schlimm für dich wäre, eine Monsterseele zu sein.«
»Schlimm? Nach allem, was ich bisher weiß, würde ich es begrüßen, ein Mensch zu bleiben. Doch das werde vermutlich nicht ich entscheiden, du wirst mich früher oder später umbringen. Ich muss mich wohl damit abfinden.«
»So? Werde ich das? Steht das in diesen Akten?«
Isobel griff sich eine der Mappen, die Christine in ihrem Wutanfall auf den Boden geworfen hatte. Sie las in den Dokumenten, riss ein Blatt aus der Mappe und reichte es Christine.
»Glaubst du, dass wir so etwas zulassen würden, wenn wir die Menschheit vernichten wollten? Was würde uns das nützen?«, fragte sie.
Christine überflog die Zeilen.
… Erfolge der genannten Experimente in den Jahren 1972 weisen darauf hin, dass massive Gewalteinwirkung die gewünschten Autoimmunreaktionen bei den untersuchten Subjekten hervorrufen, wenn die Prozedur über einen langen Zeitraum hinweg (mehrere Monate) in unregelmäßigen und für das Subjekt nicht vorhersehbaren Abständen durchgeführt wird (zeitlicher Abstand zwischen den Versuchen jedoch maximal 72 Stunden).
»Ich weiß es nicht. Vielleicht dient das der Ablenkung von euren wirklichen Plänen.«
»Du meinst, wir lieben es, wenn Menschen gequält werden und dabei auch gleich unsere Tarnung auffliegt?«
»Das nicht, doch in ausweglosen Situationen können Menschen über sich hinauswachsen und unvorstellbare Dinge vollbringen. Vielleicht ist es bei euch ähnlich und ihr wollt mit dieser Vorgehensweise etwas vertuschen.«
»Du hast recht. Das wäre eine mögliche Erklärung. Doch diese drastischen Manöver würden zu nichts führen, wir würden nichts dadurch gewinnen, nur uns selbst Schaden zufügen. In Wirklichkeit ist die Situation für uns hoffnungslos.«
»Es sind also tatsächlich Gardisten, die euch bekämpfen? Und sie werden euch besiegen?«
»Ja, und ihr merkt in eurer Überheblichkeit nicht einmal, dass ihr euren eigenen Untergang an jenem Tag besiegelt habt, als ihr die Anwesenheit dieser Parasiten in euren Körpern akzeptiert habt …«
Christine öffnete den Mund, doch Isobel ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Ich weiß, was du sagen willst: Nein, es ist nicht von Belang, ob ihr es bewusst geschehen habt lassen oder ihr nur Opfer seid. Alleine, dass sie in euch Räume gefunden haben, in denen sie überleben können, macht euch zu Komplizen.«
»Um das ein wenig abzukürzen, ihr habt euren Tod, eure Ausrottung selbst zu verantworten; vielleicht sogar verdient.«
»Es ist unsere eigene Schuld? Wir sind Komplizen? Das kann doch nicht dein Ernst sein? Wie viele Menschen wissen von euch oder von den Gardisten? Auch ich weiß fast nichts über sie. Ich höre jetzt zum ersten Mal, dass es Parasiten sind. Vermutlich euch ähnlich? Die Menschen wissen nicht, wer sich da direkt vor ihren Augen versteckt. Wie können sie also verantwortlich sein?«
Krylova machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Es ist noch viel einfacher: Nicht wir sind eure Feinde, sondern jene, deren Gedankenwelt ihr so schnell in euch aufgesogen habt, dass wir keine Zeit hatten, darauf zu reagieren. Es war uns gar nicht in den Sinn gekommen, dass ihr mit fliegenden Fahnen zu ihnen überlaufen würdet, sobald sie euch mit falschen Versprechungen locken würden.«
»Falsche Versprechungen? Welche?«
»Unermesslichen Reichtum, ewiges Leben und die Herrschaft über diesen Planeten, ja über das gesamte Universum.«
Christines Verwirrung stieg mit jedem Satz, den Isobel aussprach. Die Menschen haben die Apokalypse selbst heraufbeschworen? Nicht die Monsterseelen planen die Vernichtung der Menschheit, sondern die Gardisten?
Wollte sie um Mitleid betteln? Eine Monsterseele? Kannte sie so etwas wie Mitleid überhaupt? Sie musste Christine doch nur übernehmen und schon würde sie alles tun, was sie von ihr verlangte. Was wollte Isobel von ihr?
»Du sprichst in Rätseln.«
»Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Was heißt das?«
»Es ist vorbei. Wir haben verloren. Die Menschheit hat verloren.«
»Ich verstehe immer noch nicht. Willst du damit andeuten, dass der Weltuntergang kurz bevorsteht? Tut mir leid, aber das ist Schwachsinn. Weshalb soll die Menschheit aussterben, nur weil eure Art den Gardisten nichts mehr entgegenzusetzen hat und den Krieg verlieren wird? Falls es überhaupt so etwas wie einen Krieg gibt.«
Isobel stand auf, ging zum Schreibtisch, auf dem der Computer stand, nahm ein Blatt Papier und einen Bleistift und schrieb etwas darauf. Danach schaltete sie den Computer ein und druckte einige Seiten aus.
»Ich habe nicht mehr viel Zeit. Kannst du mir einen Gefallen tun?«
Christine legte den Kopf schief, sah sie fragend an.
»Ich dir einen Gefallen …? Du willst mich nicht …?«
Isobel schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
»Nein. Du möchtest meine Präsenz nicht, daher werde ich mich ganz einfach zurückziehen und warten.«
»Welchen Gefallen?«
»Diese Frau … Isobel. Ich werde sie verlassen und mich dann auflösen. Versprich mir, dass du sie in ihre Heimat bringst?«
Sie drückte Christine die Blätter in die Hand.
»Hier steht ihre Lebensgeschichte und ein Verzeichnis meiner Besitztümer. Bankkonten, Villen, Grundstücke, usw. Es gehört jetzt alles ihr. In den ersten Minuten wird sie etwas desorientiert sein, du musst ihr helfen, diese Zeit zu überstehen. In ein paar Stunden wird sie sich daran erinnern, was in den Jahren meiner Präsenz mit ihr geschehen ist. So, als wäre es ihr Leben gewesen. Ich hoffe, sie kann mir verzeihen.«
»Du gehst? Wohin?«
Isobel zeigte auf den Fußboden.
»Ich werde mich … auflösen und durch den Boden verschwinden. Der einzige Weg für mich, aus diesem Gefängnis zu entkommen. Carruaca hat die Wände mit dem Gift aus den Beständen der Garde kontaminiert.«
»Langsam glaube ich, ich träume das alles nur. Wahrscheinlich bin ich mit dem Kopf an die Tür geknallt und liege jetzt bewusstlos auf dem Boden. Oder du verarschst mich und deine Verwandlungskünste sind nichts weiter als verdammt gute Zaubertricks. Habe ich recht?«
»Kein Zaubertrick … Ich wünsche dir viel Glück. Versuche, die restlichen Jahre deines Lebens zu genießen.«
Isobel legte sich auf den Boden, atmete tief durch und schloss die Augen.
»Warte. Nicht! Ich habe so viele Fragen …«
Isobel war eingeschlafen. Christine berührte ihre Stirn. Sie fühlte sich kalt an. Die Atmung war flach, der Puls kaum tastbar. Die Lider flatterten. Minutenlang. Christine glaubte, Krylovas letzte Stunde hätte geschlagen, doch dann schnappte sie nach Luft. Wie ein Taucher, der gerade mit letzter Kraft dem Erstickungstod entkommen war. Sie öffnete die Augen, sah Christine angsterfüllt an. Christine nahm ihre Hand, drückte sie fest.
»Keine Angst. Ich bin hier, um dir zu helfen. Es geht dir gleich wieder besser.«
Was rede ich da für einen Quatsch. Wir sind eingeschlossen und die Wahrscheinlichkeit, dass wir lebend rauskommen, ist gering.
Krylova richtete ihren Oberkörper auf, sah sich im Raum um.
»Wo sind wir? Wer bist du?«, fragte sie unsicher, sah Christine lange in die Augen.
»Jetzt verstehe ich. Ja, ich erkenne dich wieder, wir sind uns schon begegnet. Du bist Dar Kha. Was ist geschehen?«
Dar Kha? Sie ist verwirrt.
»Nein, ich bin Christine. Ich bin … war eine Freundin von …«
Ich kenne nicht einmal ihren richtigen Namen.
»… von dem Wesen, das deinen Körper mit dir geteilt hat.«
Isobel blicke sie verwundert an.
»Nein, du verstehst nicht. Du bist Dar Kha. Konzentriere dich. Du musst dich verwandeln und dann verschwinden.«
»Was redest du da? Ich bin Christine Cayce und du …«
»Du warst Christine. Jetzt, in diesem Augenblick bist du Dar Kha. Du musst dich erinnern. Schnell! Sonst wirst du sterben. Gib mir deine Hand.«
Christine sah sie entsetzt an. Sie verstand, was Isobel, die alte Isobel, ihr sagen wollte: Die Monsterseele hatte den Raum nie verlassen, sie hatte nur den Wirt gewechselt.
»Warum?«, stammelte sie. »Warum hat sie das gemacht? Sie hat mir versprochen …«
Ihre Augen wurden schwarz, die Haut kristallklar.