Fragment 39
»Wo bringen Sie mich hin? Sie wissen doch, dass ich Schmerzen habe und kaum Luft bekomme?«
»Das hoffe ich doch. Denn ich habe ein paar Fragen an Sie.«
»Fragen? Dann fragen Sie doch einfach.«
Olsson schob das Krankenbett durch die Schwingtüren zu Versuchsraum 2.
»Was wollen Sie hier? Ich weiß nichts von einem Versuch, der heute stattfinden soll. Schon gar nicht um diese Zeit. Und auch wenn, ich bin nicht in der Lage …«
»Natürlich wissen Sie nichts von einer Untersuchung, ich habe mich auch erst vor ein paar Minuten dazu entschlossen.«
Olsson verschloss die Tür. Blome kochte vor Wut.
»Bringen Sie mich sofort zurück. Glauben Sie, es ist angenehm, mit meinen Verletzungen durch die Gegend gefahren zu werden? Das wird Konsequenzen haben.«
»Natürlich wird es das, mein lieber Blome.«
Olsson nahm die Infusionsflasche von der Halterung und warf sie in eine Ecke. Der Schlauch riss die Infusionsnadel aus Blomes Arm. Er schrie vor Schmerz.
»Sind Sie wahnsinnig?«
Er wollte sich aufrichten, doch Gurte hinderten ihn daran. Er hustete, rang nach Atem.
»Bringen Sie mich zurück. Sofort!«, sagte er ächzend.
Olsson stellte einen Stuhl neben das Bett und setzte sich darauf.
»Wir gehen nirgendwohin. Außer, Sie sagen mir jetzt gleich, was Sie über die Garde wissen.«
Schweißtropfen bildeten sich auf Blomes Stirn.
»Die Garde? Was soll ich über die Garde wissen? Und machen Sie mich endlich los. Ich verblute.«
Olsson lachte.
»Verbluten? An so einem kleinen Kratzer ist noch niemand verblutet. Sie müssten es doch besser wissen.«
»Sie sind wahnsinnig!«
»Vielleicht.«
Olsson nahm einen Hammer vom Rolltisch.
»Was will die Garde mit den Versuchen in diesem Lager erreichen?«
Blome starrte ungläubig auf den Hammer.
»Was haben Sie vor?«
»Sie haben zehn Sekunden. Was sucht die Garde? Eins …«
»Verdammt, ich weiß nicht, was Sie meinen. Sie wollen ein Serum, das Gene aktiviert …«
»Falsch.«
»Das Protein der Plattwürmer … lebensverlängernde Substanz.«
»Falsch!«
»Die Echsengene … Autoregeneration …«
»Alles falsch. Es tut mir leid.«
Der Hammer zerschmetterte Blomes linkes Schienbein.
Blome brüllte seine Schmerzen in die Welt hinaus. Er rief laut um Hilfe.
»Das wird Ihnen nichts nützen, Sie wissen, hier unten kann man Sie nicht hören.«
Olsson zog eine Spritze auf.
»Sehen sie? Ein Schmerzmittel. Sie müssen mir nur ein paar einfache Fragen beantworten.«
Blome hyperventilierte, seine Augen suchten panisch nach einem Ausweg. Doch er war festgeschnallt, seine Knie und ein Schienbein gebrochen und er gerade dabei, das Bewusstsein zu verlieren.
»Welche Fragen?«, stöhnte er.
»Was will die Garde? Was ist Hoover?«
»Hoover? Echsengene …«
»Das war keine Echse. Was ist sie?«
»Ich weiß es nicht! Sie ist anders.«
Olsson nahm ein Skalpell und setzte es an Blomes rechtem Auge an.
»Anders? Inwiefern?«
Blome wimmerte.
»Bitte nicht. Die Garde sagt, sie sei ein seltenes Amorph.«
»Ein Amorph? Was ist das?«
»Ein Organismus, der keine festen Strukturen hat … und bestimmte Gensequenzen, je nach Bedarf, aktivieren und deaktivieren kann … und so die Gestalt eines jeden Lebewesens annehmen kann … das in den Genen codiert ist. Mehr weiß ich nicht …«
Sein Atem wurde unregelmäßig. Er drehte die Augen über.
»Bitte«, flehte er.
Blome wurde bewusstlos. Olsson dachte nach.
Ein A m o r p h? Das klingt abenteuerlich. Aber wer weiß?
Er schob das Bett durch die Flure der unterirdischen Anlage. Sein Ziel war das Lager der von Blome gefolterten und missbrauchten Häftlinge.
Man wird sich zwar fragen, wie er dahin gekommen ist, und die Gefangenen werden danach alle sterben. Doch das ist nicht wichtig. Wenigstens können sie Rache nehmen.
Er öffnete die Tür zu der umgebauten Lagerhalle, in der 600 Menschen auf ihren Tod warteten, und stellte das Krankenbett in die Mitte des Raumes. Olsson ging langsam zur Tür zurück. Er lehnte sich an den Türrahmen, nahm eine Packung Zigaretten aus der Jacke und zündete sich eine Zigarette an.
Einer der Gefangenen ging unverzüglich zum Bett. Er vermutete ein weiteres Opfer darauf und wollte ihm helfen. Als er das Gesicht Blomes sah, schreckte er zurück, als hätte er den Teufel gesehen.
»Blome, da liegt Blome«, schrie er hysterisch.
Ein Raunen ging durch die Menge. Die Nachricht verbreitete sich in der Halle wie ein Lauffeuer. Ein zweiter Mann näherte sich vorsichtig dem Krankenbett. Man konnte seine Unsicherheit sehen. Vielleicht war es ja ein perverses Spiel Blomes? Doch die Unsicherheit wich Erstaunen. Was ist mit Blome, wer hat ihn so zugerichtet? Eine Frau beugte sich über sein Gesicht und sprach mit ihm. Blome antwortete nicht. Die Frau sah fragend zu Olsson hinüber.
Dieser sog noch einmal an der Zigarette und warf sie auf den Boden. Er machte eine Handbewegung, die man als »schneidet ihm den Hals ab« deuten konnte. Von allen Seiten näherten sich Menschen. Abgemagert, knochig, verdreckt. Die meisten in alter, verschmutzter Häftlingskleidung, einige halb nackt, manche nur in zerrissene Decken gehüllt.
Und allen konnte man ansehen, dass sie mehr als einmal gefoltert worden waren. Fast jeder hatte blutiges Verbandszeug um irgendeinen Körperteil gewickelt. Bei einem fehlten die Finger oder der ganze Arm, andere humpelten auf einem Bein, gestützt durch andere Gefangene, zum Bett. Einige rutschten, mehr tot als lebendig, auf Knien, um Blome vor den anderen zu erreichen.
Zombies. Eine Zombiearme. Morgen muss ich sie alle töten lassen. Doch falls das Amorph noch hier ist, werden wir es finden.
Die Frau, die den Blickkontakt mit Olsson gesucht hatte, stand immer noch regungslos da und sah ihn an. Sie wusste instinktiv, dass dies ihre letzte Nacht sein würde. Ein Ruck ging durch ihren Körper, sie nahm das Skalpell, das Olsson auf Blomes Brust hatte liegen lassen und setzte die Klinge an seiner Halsschlagader an. Sie zögerte, zog es zurück und rammte es ihm in den Unterleib. Dann entfernte sie sich und legte sich in einer dunklen Ecke auf ein Bett. Dort würde sie auf den Tod warten.
Jetzt stürzten sich auch die anderen Gefangenen auf Blome, der aus der Bewusstlosigkeit erwacht war und um sein Leben brüllte. Sie schlugen mit Metallteilen auf ihn ein, rissen ihm mit Blechnäpfen und Gabeln die Haut vom Körper, brachen ihm Finger und Rippen einzeln. Sie zertrümmerten Kiefer, Zähne, Nase, stachen ihm die Augen aus.
Olsson wandte sich ab, schloss die Tür hinter sich und spazierte hinauf zur Villa, in der seine Büro-und Wohnräume lagen – Va, pensiero, sull‘Ali dorate summend.
Deine Schreie wird niemand hören. So wie ich die wachhabenden Soldaten kenne, sind sie um diese Zeit schon sturzbesoffen. Sie werden morgen ebenso sterben. Hätten sie ihre Pflicht getan, wäre Blome noch am Leben.
Olsson grinste diabolisch.