15 Statistik
Texas Olsson wandte sich angewidert von der Monitorwand ab und blickte auf seine Notizen.
»Ich habe genug gesehen.«
Hans Blome grinste selbstgefällig.
»Wird Ihnen das zu viel? Ich dachte, Sie sind mit diesen Dingen vertraut? Sie haben ja ähnliche Untersuchungen durchgeführt. Oder täusche ich mich?«
»Sie täuschen sich nicht. Doch wurde, wenn ich die Daten richtig interpretiere, die gewünschte Information längst in Erfahrung gebracht. Weshalb also die zusätzlichen Einheiten? Ich finde, das ist eine unnötige Verschwendung unserer Ressourcen. Wir sollten uns dem nächsten Subjekt zuwenden.«
»Erst wenn dieses Subjekt tot ist. Wir wollen uns ja nicht vorwerfen lassen, wir würden Daten manipulieren.«
Olsson blickte fragend in Blomes Richtung.
»Statistik. Pure Statistik. Wir können in den Bericht doch nicht hineinschreiben, dass die Methode erfolglos war und das Subjekt zu Tode kam und hinterher geht es auf dem Oktoberfest auf ein Bier.«
»Sie wissen genau so gut wie ich …«
»Ja, ja. Es wird sterben. Wenn nicht heute, dann eben morgen oder in einem Monat. Deshalb ist es besser, wir lassen unsere SM-Typen im Ungewissen und tun so, als ob sie versagt hätten.«
SM-Typen. Ja, das war die richtige Bezeichnung für diese widerlichen Sadisten. Ob sich die Garde bei der Auswahl dieser Abkürzung etwas dabei gedacht hat? Oder ist es purer Zufall?
Blome meinte mit dieser Bezeichnung natürlich die Gruppe der Seelen Mechaniker, die in den unzähligen Untersuchungsräumen ihre Arbeit verrichteten, und nicht irgendwelche Sexspiele. Welch perverse Ironie, dass es am Ende einer Untersuchung meist, oder fast immer, auf das Gleiche hinauslief. Seelen Mechs liebten Sadomaso-Spiele.
»Nicht die SMechs haben versagt, sondern die Methode. Wir können in Zukunft auf diese Art des Verhörs verzichten. Das spart eine Menge Zeit. Und dieses Wissen ist viel wert.«
Blome schüttelte energisch den Kopf.
»Nein. Nein. Nein! Wir müssen konsistente Daten liefern. Dieses Subjekt hier …«, er deutete mit dem Bleistift auf die Bildschirme, »könnte ein statistischer Ausreißer sein.«
»Ein Ausreißer? Das Subjekt weiß doch nichts über Sinn und Zweck der Untersuchungen in Zone 3?«
»Das nicht, aber die SMechs wissen ja auch nicht, dass sie vergeblich suchen. Sie müssen im Glauben gelassen werden, dass sie etwas finden könnten, wenn sie nur tief genug graben! Für sie sieht es derzeit ja so aus, als ob S02051902 ein Sonderfall ist. Vielleicht ist es ein gut präparierter Schläfer, der sie auf eine falsche Spur locken soll. Etwas eben, das man mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bearbeiten muss, um an die Daten zu kommen. Das haben Blindstudien so an sich …«
»Das ist doch Irrsinn …«
Blome sprang auf und schlug mit der Faust auf den Glastisch, dass man befürchten musste, er zerspränge gleich in Tausende Scherben.
Olsson zuckte zusammen und ohrfeigte sich innerlich. Er war zwar gewarnt worden, dass Blome ein Choleriker sei. Doch dass diese kleine, unbedachte Äußerung ihn so in Rage bringen würde, damit hatte er nicht gerechnet.
»Irrsinn ist Ihre Untersuchung hier! Wir brauchen keine Einmischung von außen. Das ist reine Zeitverschwendung! Jede Minute, die ich mit Ihnen hier verbringe, kann entscheidend über Erfolg und Misserfolg sein. Verstehen Sie? Ich weiß auch ohne Sie, was ich tun muss.«
Wäre Olsson nicht Blomes direkter Vorgesetzter und nicht ein Gesandter der Garde mit uneingeschränkten Machtbefugnissen, dann würde er wohl nicht mehr hier in der Zentrale sitzen, sondern wäre längst eines von Blomes ganz privaten Forschungsobjekten.
Blome hasste alles, was nicht seinen Vorstellungen vom perfekten Menschen entsprach, sich selbst inbegriffen. Umso größer musste sein Hass auf Olsson sein, der als Sohn eines russischen Offiziers, der vor 47 Jahren nach Schweden geflüchtet war, und einer jüdischen Bankierstochter, die nur mit viel Glück den Vernichtungslagern in Polen entkommen war, dem Idealbild des Menschen um so viel mehr entsprach, als er selbst. Olsson war schließlich groß, athletisch, hatte blaue Augen und blonde Haare, im Gegensatz zu ihm, klein und von kränklicher Gestalt, mit braunen Augen und schwarzen Haaren.
Wollte man Gerüchten glauben, dann hatte Blome die Ermordung seiner Eltern selbst angeordnet, da sie die Schuld an seinem Aussehen trugen. Die Eltern von Blome starben am gleichen Tag, als dieser die Leitung der Abteilung für Innere Sicherheit übernommen hatte. In ihrem Mittagessen, welches sie in der Kantine dieser neu geschaffenen Abteilung zu sich nahmen, fand man nach ihrem Ableben ein unbekanntes Gift, das ein Hilfskoch beigemengt haben soll.
Der Fall war schnell abgeschlossen worden, der Koch wurde noch am gleichen Tag hingerichtet. Doch wie er an das Gift gekommen war, blieb ein Rätsel. Denn es gab, wie sich später herausstellte, zu diesem Zeitpunkt nur einen einzigen Ort, an dem dieses Gift aufbewahrt worden war: im Labor von Hans Blome.
»Sie wissen anscheinend immer noch nicht, worum es geht. Die Zeit drängt, der Feind könnte mitten unter uns sitzen, ohne dass wir es bemerken.«
Olsson widerstand dem Impuls, Blomes hasserfüllten Blick auszuweichen. Blome hatte den Feind längst identifiziert. Zumindest einen von ihnen. Blome würde früher oder später zu einem Problem werden. Olsson wusste das.
Er verzichtete normalerweise auf Machtdemonstrationen, doch in diesem Fall musste er eingreifen und Blome in die Schranken weisen. Einem Gesandten der Garde musste man gehorchen, ohne Für und Wider. Das System funktionierte nur so.
»Was glauben Sie, wen Sie vor sich haben? Den Feind, wie Sie ihn nennen, werden Ihre Untersuchungen auch nicht mehr aufhalten. Sie sind nur dafür zuständig, geeignete Mittel zu finden, wie wir die Zeit danach am besten für uns nutzen können. Und bis dahin …«
Olsson blickte auf das Subjekt, welches mit weit aufgerissenen Augen in eine der vielen Kameras starrte und wahrscheinlich brüllte – man konnte es nicht hören, der Ton war auf lautlos gestellt – wie ein Bulle, dem bei lebendigem Leib, die Haut abgezogen wurde. Vielleicht brüllte es, weil gerade tatsächlich ein Stück Haut vom Unterarm geschnitten wurde. Olsson wunderte sich einen Augenblick lang.
Diese Wesen empfinden keinen Schmerz; zumindest nicht so, wie wir Menschen. Der Prozess ist wohl noch nicht abgeschlossen.
»… bis dahin tun Sie, was ich anordne: Dieses Subjekt wird getötet und das nächste vorbereitet. Ist das klar?«
Blome schäumte vor Wut. Er stützte sich auf den Tisch, seine Hände klammerten sich an den Tischrändern fest, als wollten sie den Tisch zerquetschen.
Olsson fühlte innere Zufriedenheit. Typen wie Blome hatten nichts in Führungspositionen zu suchen, dafür waren sie zu labil. Doch in diesem speziellen Fall hatte man eine Ausnahmegenehmigung erteilt. Blome war an der Entdeckung der Anomalien maßgeblich beteiligt gewesen, daher hatte man ihn auf diesen Posten gehievt. Ein Ansporn, sich weiter intensiv um dieses Problem zu kümmern. Und es hatte Wirkung gezeigt, Blome suchte verbissen nach einer Lösung; ohne Rücksicht auf Verluste. Manchmal ein wenig zu rücksichtslos für Olssons Geschmack.
Blome wandte sich ab, ging zum Steuerpult und drückte einen Knopf.
»Blome hier. Operation Subjekt 02051902 beenden. Subjekt 03051902 bereit machen. Instruktionen folgen.«
Olsson nickte.
»Danke.«
Er ging zur Tür. Im Türrahmen drehte er sich noch einmal um.
»Wir sehen uns morgen. Ich hoffe, bis dahin ist die zweite Testreihe beendet. Noch einen weiteren Tag mit der Sondierung bekannter Fakten verlieren, das würde die Garde nicht gerade glücklich machen. Also zeigen Sie etwas mehr Initiative. Ich will Ergebnisse sehen und keine Statistiken.«
Blome sah ihn an, als würde er gleich seine Walther P38 ziehen und ihn auf der Stelle erschießen wollen.
Olsson sah noch einmal zur Bildschirmfront hinüber. Die Monitore waren jetzt schwarz. Der SM-Teil der Operation hatte begonnen; der entspannende Teil für die SMechs. Ob das Opfer es genau so sah?
In vier, maximal sechs Stunden, sobald die Seelen Mechaniker sich langweilen, hat das Subjekt, das früher eine Frau gewesen ist, es überstanden, dann darf sie endlich sterben.