Fragment 25
Pandoras Gral. Es könnte der Titel für die griechische Fassung der Arthussage sein. Und genau das war es auch, eine griechische Tragödie; und der Mensch die tragische Figur, die am Ende nicht nur aus dem Paradies geworfen, sondern ganz von der Erde getilgt wird.
Carruaca klappte das Notizbuch zu. Er hatte einen Entschluss gefasst.
Wird wohl einige Aufregung geben, wenn ich als Junkie ende und dann einfach verschwinde. Doch das muss sein und bis dahin muss ich noch ein paar Dinge erledigen.
Er legte das Schulterholster an, nahm seine Glock 17 aus dem Waffenschrank, steckte zwei Ersatzmagazine in die Jackentaschen und verließ das Büro. Niemand beachtete ihn.
100 Schuss sollten reichen.
Sein Weg führte vorbei an luxuriösen Geschäften und Fast-Food-Restaurants hinunter in die U-Bahn. Die Wagen waren fast leer. Eine junge Mutter mit ihrem Baby auf dem Arm und zwei Mädchen, die aufgeregt miteinander tuschelten und kicherten, waren die einzigen Personen im Abteil. Er setzte sich ganz nach hinten. Es roch nach gestressten Menschen und Alkohol. Die Reste der Ausdünstungen des morgendlichen Klientelschichtwechsels.
Station Operngasse. Raus. Er muss hier irgendwo sein.
Er ließ sich Zeit, sah der Mutter zu, wie sie sich mit dem Kinderwagen abmühte. Die Rolltreppe ließ er links liegen und nahm die Treppe zum Opernring hinauf. Hier herrschte Hochbetrieb. Touristenströme schwappten in Wellen über die wuchtigen Treppen zum pompösen Eingangsportal fünf Meter über dem Straßenniveau. Schnappschüsse von Plastiken berühmter Komponisten, von Sängern und großzügigen Mäzenen der letzten vier Jahrhunderte, von Mosaiken, auf denen die Musen abgebildet waren und auch von den 30 Meter hohen Marmorsäulen, wanderten in jeder Minute zu Hunderten auf die Speicherchips der Fotoapparate.
Carruaca sah das alles nicht. Seine Blicke suchten nach einem kleinen Mann mit nur einem Arm und verkrüppeltem Bein. Sie suchten nach Chanok, dem Inder. Warum er so genannt wurde, wusste niemand. Er war weder Inder, noch hatte er jemals einen Fuß auf indischen Boden gesetzt. Nur eines wusste man: Er war schon seit ewigen Zeiten in dieser Stadt und hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Viele davon waren nicht legal, doch die Polizei ließ ihn gewähren; er hatte sie oft genug mit nützlichen Informationen versorgt. Und genau auf so eine Information hoffte Carruaca jetzt.
»Ich habe Sie schon erwartet.«
Chanok stand plötzlich neben ihm. Er hatte einen schwarzen Mantel an, der aussah, als hätte er ihn gerade aus einem Müllcontainer gefischt; und er roch auch genau so.
Wie ein Dämon aus der Unterwelt. Und mindestens 100 Jahre alt.
»Das habe ich vermutet. Deshalb bin ich hier. Sie haben von den Morden gehört?«
»Jeder, der Ohren hat, hat davon gehört. Folgen Sie mir!«
Er deutete auf eine Gasse. Sekunden später war er verschwunden.
Für einen Krüppel ist er verdammt schnell.
Die Gasse war eine Sackgasse und beileibe keine Touristenattraktion. Carruaca bog um die Ecke und konnte gerade noch sehen, wie der Inder in einem Haus verschwand. Gleißend helles Licht blendete ihn, als er durch die offene Tür in den Flur trat. Schützend hielt er die Hände vor seine Augen.
»Lassen Sie diese lächerlichen Agentenspiele. Schalten Sie das Licht aus!«
»Erwarte stets das Unerwartete«, hörte er eine Stimme von irgendwo hinter den Scheinwerfern. »Sonst ist man schneller tot, als einem lieb ist.«
Carruaca zeigte sich unbeeindruckt.
»Das ist ja wirklich eine ganz neue Erkenntnis. Haben Sie noch mehr dieser tollen Ratschläge auf Lager, wie etwa: Spring nicht aus einem Fenster im 10. Stock? Wer sind Sie überhaupt? Was soll dieser technische Stimmenverzerrungsfirlefanz?«
»Namen tun nichts zur Sache … und ich muss unerkannt bleiben.«
»Laotse wäre stolz auf Sie gewesen.«
Das Licht erlosch. Jetzt war es stockdunkel im Raum. Jemand hatte die Eingangstüre geschlossen. Langsam gewöhnten sich die Augen an das fehlende Licht. In der gegenüberliegenden Wand war noch eine Tür, ein Lichtschein drang durch einen Spalt am Boden.
»Sie wollen wissen, wer Simon Yann umgebracht hat?«
»Sonst wäre ich nicht hier.«
»Kommen Sie rein … und stecken Sie die Waffe weg, Sie haben nichts zu befürchten.«
Carruaca steckte die Glock, die wie von selbst in seine Hand gewandert war, in das Holster und folgte der Stimme. Überrascht blieb er in der Tür stehen.
»Sie?«, fragte er erstaunt. »Ich hatte schon lange die Vermutung, dass es jemand aus den eigenen Reihen sein muss. Doch Sie? Sie hatte ich nicht auf der Liste.«
»Natürlich nicht. Sie stehen ja auch auf keiner Liste. Jeder, der auf einer Liste steht … Simon Yann hatte einfach Pech.«
»Pech?« Carruaca hatte Mühe, seine Wut zu kontrollieren. »Von Krokodilen zerfleischt zu werden, nennen Sie Pech? Sie mögen zwar der oberste Ankläger in dieser Stadt sein …«
»Lassen Sie die Waffe stecken, Sie werden gleich genügend Gelegenheit bekommen, sie zu benutzen. Und Sie müssen nicht sehr weit gehen, die Zielpersonen haben sich eine Straße weiter einquartiert.«
Carruaca sah ihn misstrauisch an.
Eine Straße weiter? Die Oper?
Das Opernhaus war um 1650 erbaut und erst einige Jahre später eröffnet worden. Um die fehlenden Jahre bis zur Eröffnung und die Geschehnisse während dieser Zeit in den Kellergewölben rankten sich viele Gerüchte. Von geheimen Gängen und Räumen, von einem verborgenen Schatz, von einer Geheimorganisation war die Rede. Ja sogar die Templer sollten hier einst einen ihrer Stützpunkte eingerichtet haben, die Oper ursprünglich eine getarnte Templerburg gewesen sein. Doch das alles war längst widerlegt. Hunderte Untersuchungen von ebenso vielen Experten hatten nichts ergeben, außer Spesen. Und jetzt sollte sich eine Gruppe von Terroristen dort einquartiert haben?
»Im Schrank hinter Ihnen finden sie eine Schlüsselkarte für den internen Bereich der Oper. Und sie öffnet auch noch ein paar Türen mehr. Halten Sie sich beim Haupteingang rechts und gehen Sie zu den hinteren Schließfächern im ersten Kellergeschoss. Im Fach mit der Nummer auf Ihrer Karte finden Sie eine Fernsteuerung für einen Zugang im Keller und einen Plan. Alles andere liegt in Ihrem Ermessen. Doch ich glaube, Sie haben sich schon entschieden?«
»Ja, ich habe entschieden. Ich will die Mörder. Und nicht nur die. Obwohl ich immer noch nicht glaube, dass ich dort etwas finden werde.«
Georg Richter saß an der Stirnseite eines Eichentisches und kaute genüsslich an einem Stück Steak. Er schluckte es hinunter, tupfte seine Lippen mit einer Serviette ab, nahm das Weinglas, prostete ihm zu und trank es in einem Zug aus.
»Was glauben Sie, was Sie dort finden werden?«
»Wenn ich ehrlich bin, ich habe keine Ahnung.«
Carruaca ging zum Schrank, auf den Richter gezeigt hatte, öffnete ihn und nahm den einzigen Umschlag heraus, der darin lag.
»Doch es steckt wohl mehr dahinter, als ich vermutet habe. Die brutalen Morde in den letzten Wochen … haben sie etwas miteinander zu tun?«
Richter schnitt ein Stück vom Steak, betrachtete es lange, legte Gabel und Messer auf den Teller. Er stand auf, ging zu einem der Stahlschränke, die hinter ihm standen, und kehrte mit einer roten Mappe zum Tisch zurück.
»Der Grund für die Morde ist ein Experiment, das seit Jahrzehnten durchgeführt wird. Es ist ganz einfach: Es ist die Suche nach dem Heiligen Gral, die Suche nach der Formel für das ewige Leben.«
Carruaca lachte laut auf.
»Der Heilige Gral. Natürlich, weshalb bin ich nicht selbst darauf gekommen. Die Jahrhunderte alte Suche nach dem Heiligen Gral. Und Sie glauben diesen Schwachsinn?«
»Lesen Sie und danach urteilen Sie. Und ich gebe Ihnen noch einen Ratschlag mit auf den Weg: Unterschätzen Sie Ihre Gegner nicht, sie haben es geschafft, ihr Wissen und ihre Ideen über einen sehr langen Zeitraum hinweg in unsere Zeitalter zu retten. Vor fast einem Jahrhundert sind sie, vielleicht zum ersten Mal nach Jahrtausenden, wieder aktiv geworden. Aktiv in dem Sinne, dass wir davon etwas bemerkten. Und jetzt holen sie zum Gegenschlag aus.«
»Moment, Moment! Wovon sprechen Sie? Von einer Weltverschwörung? Die Rache der Templer? «
»Es ist viel schlimmer. Erledigen Sie ihren Job, dann kehren Sie hierher zurück und lesen Sie die Berichte. Danach werden Sie die Welt mit anderen Augen sehen.«
»Und wenn ich mich weigere?«
Georg Richter schwieg. Er hatte alles gesagt, was es zu sagen gab.
Der Inder erschien in der Tür und deutete Carruaca, dass das Gespräch beendet war. Carruaca nickte dem Inder zu und verließ mit ihm den Raum.
»Ich wünsche Ihnen viel Glück.«
»Sie glauben diese … dieses Märchen? Und warum erledigt er es nicht selbst, wenn er hofft, diese … Organisation dadurch schwächen zu können?«
»Nun, nennen Sie es eine Fügung des Schicksals. Yanns Tod hat eine Reihe von Aktivitäten in dieser Gruppe ausgelöst. Die Menschen in der Oper sind nur eine unbedeutende Randerscheinung. Doch Sie werden dort eine Überraschung erleben, … wenn Sie das Richtige tun und bereit sind.«
»Bereit? Bereit, wozu?«
Der Inder sah ihn an, als wollte er noch etwas sagen. Doch dann schien er sich wieder daran zu erinnern, was er war, Informationshändler und kein Wohltäter. Er zuckte mit den Achseln, drehte sich um und verschwand in der Menge.