48 Kontaktaufnahme
Sie musste vorsichtig sein. Die Straßen waren nicht sicher. Überall lauerten die Augen der Garde und warteten auf einen Fehler von ihr und ihresgleichen. Ein oder zwei Tage, eine Woche, Monate, es war einerlei.
Nur nichts überstürzen.
Sie bewegte sich schwerfällig, im Stile einer 80-jährigen gehbehinderten Frau, durch die Bahnhofshalle. Gelegentlich hielt sie die Hand auf, als würde sie vorbeieilende Passanten um etwas Geld anbetteln. Ihr Rollator war vollbepackt mit Müllsäcken, Getränkedosen und leeren Weinflaschen. Auch ihr schmutziger Mantel lag darauf. Ihre Kleidung war alt und zerschlissen, nur die Schuhe waren fast neu. Sie hatte sie gestern in der Nachtschlafstelle bekommen, da ihre alten kurz davor gewesen waren, auseinanderzufallen.
Immer wieder sah sie unauffällig nach oben. Die Kameras waren überall. Auch wenn sie sich hier nicht wohlfühlte und sich lieber in den Wäldern am Rande der Stadt versteckt hätte, musste sie immer wieder hierher zurückkehren und hoffen, dass sie gefunden wurde. Doch genau das war das Problem: Auch die Garde war auf der Suche nach ihr und die Gefahr, von ihnen entdeckt zu werden, war in der Stadt um ein Vielfaches höher, als draußen in den Wäldern und Ebenen.
Plötzlich packte sie jemand am Oberarm und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie verstand nicht gleich und wollte sich losreißen, doch die Umklammerung verstärkte sich und ließ sie nicht entkommen. Eine Frau mittleren Alters zog sie in den freien Raum zwischen zwei Fotoautomaten und drückte ihr ein Bündel Geldscheine in die Hand. Dann legte sie noch eine Papiertüte auf den Gehwagen und verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war.
Sie sah die Geldscheine an und wunderte sich nur kurz, dass einer davon mit einem schwarzen Stift vollgekritzelt war.
Eine verschlüsselte Adresse, Datum und Uhrzeit!
In der Papiertüte fand sie frische Unterwäsche, einen Freizeitanzug und Sportschuhe. Sie lächelte. Man hatte sie gefunden. Die Suche hatte ein Ende. Doch noch etwas war ihr in diesem Augenblick klar geworden: Auch das Ende der Menschheit war nicht mehr fern.
Tränen tropften aus ihren schwarzen Augen auf den Boden und hinterließen kleine Löcher im roten Marmor.