Fragment 31

Isobel Krylova erwachte aus einem traumlosen Schlaf. Die Alarmglocken in ihrem Kopf schrillten. Sofort war sie hellwach. Ein kurzer Blick auf den Monitor über der Schlafzimmertür machte ihr klar, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Sobald der Killer im Zimmer war, hatte sie so gut wie keine Chance. Sie öffnete den Stahlschrank, in dem Waffen, Munition und sonstige Kampfutensilien verstaut waren, und nahm eine Mini-Uzi und eine HK MP5 heraus. Ihre Lebensversicherung. Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte auf den Gang hinaus.

Verdammt. Er ist nicht alleine.

Instinktiv ließ sie sich fallen. Keine Sekunde zu spät. Eine Maschinenpistolensalve durchlöcherte die Tür. Holzsplitter prasselten auf sie herab. Verputz bröckelte von der gegenüberliegenden Wand. Sie rollte sich zur Seite und wartete auf den Angreifer. Er trug eine Schutzweste und einen Schutzhelm. In der Hand eine Maschinenpistole unbekannter Bauart. Ihre Gedanken rasten.

Das sind keine gewöhnlichen Killer. Ein Sonderkommando oder schlimmer, programmierte …

Die getäfelte Holztüre zerbarst durch die Wucht einer Explosion in Tausende Teile. Krylova wurde von der Druckwelle erfasst und gegen den Schrank geschleudert. Die Zeit schien stillzustehen. Auf dem Bauch liegend nahm sie wahr, wie sich Holz-und Metallsplitter langsam in ihr Bein und ihren Rücken bohrten.

Wenn du liegen bleibst, bist du tot.

Sie ignorierte den Schmerz und kam wankend auf die Beine. Der Angreifer sah ihr direkt in die Augen und zögerte einen Augenblick. Einen Augenblick zu lange.

Was seid ihr?

Die Uzi erwachte zum Leben und brachte den Tod. Der Angreifer brach getroffen zusammen. Auf dem Monitor sah sie zwei weitere Killermaschinen. Sie würden gleich durch die Tür kommen. Doch vorher würden ihnen zwei Granaten den Weg ebnen.

Das ist gegen jede Regel.

Sie humpelte zum Stahlschrank, stellte sich hinein und zog die Tür hinter sich zu. Keine Sekunde zu früh. Zwei Donnerschläge ließen sie beinahe ohnmächtig werden. Doch die Schranktür hielt der Druckwelle stand. Ihr blieb nicht viel Zeit. Sie stieß die Tür auf und ließ sich nach vorne in den Raum fallen. Noch während sie fiel, feuerte sie mit beiden Waffen auf den Angreifer am Eingang. Die Feuerstöße zerfetzten seine Knie und Oberschenkel. Er schrie, mehr aus Überraschung, als vor Schmerz, und stürzte zu Boden. Sie gab ihm den Gnadenschuss.

Ein Selbstmordkommando!?

Krylova lag auf dem Rücken und wartete auf den finalen Schlag. Noch eine Granate würde sie nicht überleben. Ihre Chancen standen denkbar schlecht.

Angriff.

Sie spannte die Muskeln, zog die Knie an, rollte über die Schultern nach hinten. Ein Satz und sie war auf den Beinen. Zwei kurze Sprünge. Sie hechtete hinaus auf den Gang, rollte sich ab und feuerte mehrere Salven in die Richtung, in der sie den zweiten Angreifer vermutete. Noch im Fallen sah sie, dass er verschwunden war. Der Geruch nach faulen Eiern hing in der Luft.

Scheiße! Auch das noch.

Sie bewegte sich langsam und vorsichtig, auf Knien rutschend, rückwärts ins Wohnzimmer.

Ein Fehler.

Dort wartete er schon auf sie und feuerte, kaum dass er sie sah. Zwei oder drei Kugeln durchschlugen ihren rechten Oberschenkel. Sie schrie auf. Ihr Köper sackte zusammen, auf dem Bauch liegend feuerte sie mit beiden Waffen blind nach hinten, bis die Magazine leer waren. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an; und gegen den Schmerz.

Erschieß mich endlich.

Doch nichts geschah. Sie drehte sich auf den Rücken. Blut schoss in Strömen aus dem Oberschenkel. Es fühlte sich an, als würde der halbe Muskel fehlen; was er wahrscheinlich auch tat. Doch sie war am Leben. Noch. Sie war kurz davor aufzugeben und ihr Autoimmunsystem zu aktivieren. Allerdings würde das dem Feind in die Hände spielen, denn sie wusste nicht, wie viel von dem Kampfstoff die Angreifer in der Wohnung verteilt hatten. Wahrscheinlich war die Dosis tödlich. Eine Verwandlung wäre das Ende, daher musste sie der Versuchung widerstehen.

Jetzt konnte sie sehen, dass der Eindringling mit zerschossenem Gesicht auf dem Boden lag. Nur der Teufel mochte wissen, warum er den Gesichtsschutz nach oben geklappt hatte.

Sie zog das Oberteil ihres Pyjamas aus und wickelte es um das Bein. Langsam kroch sie zum Bad, schrie bei jeder Bewegung laut auf. Sie benötigte fünf Minuten für die zehn Meter. Den Verbandkasten hatte sie in weiser Voraussicht in einem Schrank auf dem Boden verstaut.

Viele Opfer verbluten, weil sie nicht mehr aufstehen können.

Zuerst spritzte sie sich eine Dosis schmerzstillender Substanzen. Danach eine Spritze, die starke Blutungen hemmte. Die Schmerzen ließen nach, bald konnte sie wieder klar denken.

Ein Hoch auf die Nanotechnologie und die geheimen Forschungslabors dieser Welt. Welch ein Hohn, dass Menschen dafür sterben mussten, damit ich am Leben bleibe.

Sie legte sich einen Druckverband an, wie sie es bei ihrer Ausbildung zur Sanitäterin gelernt und an der Front schon Hunderte Male, sogar unter Feindbeschuss, gemacht hatte. Es war nicht einfach, sich selbst einen Verband anzulegen, doch sie schaffte es. Sie riss einen Kraftriegel aus der Verpackung und aß ihn.

Jetzt nur noch den Notfallsender im Verbandkasten aktivieren.

Ein grünes Licht zeigte ihr, dass er sendete. Sie konnte jetzt nichts mehr tun, als zu warten und zu hoffen, dass sie noch lebte, wenn der Rettungstrupp eintraf. Sie schloss die Augen und träumte von Pangäa.