63 Offenbarung

»Sieht so das Ende aus, wie du dir es gewünscht hast?«, fragte Krylova.

Carruacas Körper war wieder vollständig hergestellt. Verblüfft sah er Krylova und Christine an.

»Ihr seid noch hier? Sie hat euch gehen lassen? Ist sie tot?«

»Wie du siehst, sind wir beide putzmunter. Und nein, sie ist nicht tot. Sie ist in Freiheit.«

»Wie …?«

Er sah das riesige Loch im Boden des Archivs und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn.

»Verstehe. Ich vergesse immer wieder, dass wir in einer dreidimensionalen Welt leben. Beim nächsten Mal passiert das nicht mehr.«

»Es wird kein nächstes Mal geben. Zumindest nicht so bald.«

»Wie meinst du das?«

»Sie ziehen sich zurück. Ihr habt gewonnen.«

Man konnte ihm die Überraschung ansehen.

»Du bluffst.«

»Nein, keine Spur. Sie haben es aufgegeben, sie haben die Menschen aufgegeben. Sie überlassen euch das Feld kampflos. Wären Christine und ich sonst hier?«

»Warum gerade jetzt?«

»Du kennst die Antwort. Hast nicht du den Befehl gegeben, Pandora auf die Menschheit loszulassen?«

»Wir hatten keine Wahl.«

Krylova lachte laut auf.

»Wir? Glaubst du wirklich, dass dir das noch jemand glaubt? Seit Olssons Ermordung hast du die alleinige Kontrolle über das Projekt. Nur du alleine bist dafür verantwortlich. Nur du und sonst niemand«, sagte sie verbittert.

»Du hast geschafft, was bisher noch niemand geschafft hat. Im Vergleich zu dir sind die größten Diktatoren und Menschenschlächter dieser Erde harmlose, beinamputierte, rosarote Pudel. Du hast alles erreicht, was man in dieser Disziplin erreichen kann. Für dich gibt es nichts mehr zu tun. Du kannst in Ruhe und Frieden sterben. Und ich hoffe, du tust es bald.«

»Ich weiß, ich habe Mist gebaut …«

»Mist gebaut? Sag mal, tickst du noch richtig? Ist bei der letzten Regeneration etwas mit deinem Gehirn passiert, hat man vergessen, es einzubauen? Noch einmal für dich zum Mitschreiben: DU HAST DIE MENSCHHEIT AUSGELÖSCHT. Und nebenbei erwähnt, unsere Kinder waren auch Menschen. Und wir beide, was waren wir?«

»Was hätte ich tun sollen?«

»Sterben?«

Carruaca seufzte.

»Was hätte das geändert? Dann wäre eben ein anderer an meine Stelle getreten und hätte die Mission erfüllt.«

»Ja, eben. Ein anderer. Und wir beide hätten eine Zukunft gehabt. Und wer weiß, vielleicht gäbe es auch eine Zukunft für die Menschheit …«

»… und was ist mit den Monsterseelen? Sie haben mir alles genommen. Sie waren es, die unsere Kinder … und dich … nicht ich war es … Isobel …«

»Sie hätten uns gar nicht erst gefunden …«

»Halt, halt. Auszeit.«

Abarell, der bisher mit offenem Mund zugehört hatte, schüttelte verwirrt den Kopf.

»Was seid ihr? Ihr beide sprecht über die Menschheit, als wäre sie längst ausgerottet. Wisst ihr etwas, was ich nicht weiß?«

»Frank. Ich darf dich doch Frank nennen?«

Krylova hob das Glas und prostete ihm zu.

»Danke übrigens für den Wodka.«

Sie sah Abarell lange und eindringlich an.

»Was weißt du über mich?«

»Ehrlich gesagt, nicht viel. Ich habe Sie … dich nur einmal gesehen. Auf einem Foto. Carruaca hatte es mir gezeigt. Ich erinnere mich an das T-Shirt. Damals wusste ich nicht, was dieser Text bedeutete. Doch heute.«

»Guardian Monsters? Damals war es nur Ausdruck meiner Wut auf diese selbstgerechte Sekte. Heute könnte man den Aufdruck fast prophetisch nennen.«

»Ach komm. Isobel, du tust gerade so, als wären die Dar Kha Engel vor dem Herrn. Wer hat dich und die Kinder auf dem Gewissen? Wären sie nicht gewesen, wer weiß, wie meine Entscheidung ausgesehen hätte.«

»20 Jahre. Re. 20 Jahre hattest du Zeit für eine Entscheidung. 20 Jahre war niemand in deinem Kopf. Und da willst du mir weismachen, du hattest keine Wahl?«

»Hört doch auf«, fuhr Abarell dazwischen. »Das hilft uns doch nicht weiter.«

»Um deine Frage zu beantworten. Frank, ich war die Trägerin der letzten Rächerin auf Erden.«

»Rächerin? Was ist das jetzt schon wieder?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

Abarell schlug die Hände vor das Gesicht und stöhnte.

»Warum müssen das bei euch Frauen immer lange Geschichten sein? Geht es nicht in zwei oder drei Sätzen auch?«

»Du bist ja richtig witzig. Leider muss ich dich enttäuschen: Es IST eine lange Geschichte. Sie beginnt in einem Tümpel, ungefähr 3000 Millionen Jahre vor deiner Zeit.«

Abarell atmete tief ein und blies die Luft langsam aus.

»3000 Millionen … Ihr lebt seit drei Milliarden Jahren auf der Erde? Gab es damals überhaupt schon so etwas wie Leben?«

»Du würdest dich wundern. Und damals geschah etwas Seltsames: Ein Schwarm, bestehend aus vielen Milliarden Bakterien, die auf zufälligen Bahnen durch einen Tümpel gondelten, wurde durch Blitzentladungen gleichgeschaltet.«

»Gleichgeschaltet? Du meinst sicher, sie waren alle gleich tot? Blitze und Bakterien, da wird nicht viel übrig bleiben. Oder täusche ich mich?«

»Es wäre so abgelaufen, wenn die Anzahl der Bakterien nicht so groß gewesen wäre. So haben ein paar Milliarden von ihnen überlebt, sich vernetzt und so etwas wie das erste Bewusstsein auf diesem Planeten gebildet.«

»Und dieses Bewusstsein hat was gedacht? Wohl nicht, ›Ich bin die Rächerin. Ich werde die Welt erobern.‹«

»Nein, natürlich nicht. Doch dieser Unfall hat einen Vorgang in Gang gesetzt, der bis in unsere Zeit nachwirkt. Diese halbintelligente Biomasse vermehrte sich, aus einem Haufen wurden zwei, dann vier, usw. Sie breiteten sich immer weiter aus, wurden größer und zahlreicher. Dafür benötigten sie eine große Menge an Energie und die besorgten sie sich über einen neuen, für die damalige Zeit sehr radikalen Weg: mithilfe der Fotosynthese.«

»Klingt ja alles sehr spannend, doch was hat das mit euch Monsterseelen zu tun?«

»Aus heutiger Sicht war das der erste große Krieg auf der Erde. Natürlich nicht bewusst gesteuert, aber genauso tödlich.«

»Der Sauerstoffkrieg? Das ist doch Humbug.«

»Trotzdem könnte man es so nennen. Diese Sauerstoff-Krise war verantwortlich für ein gigantisches Massenaussterben. Beinahe sämtliche Lebewesen, die bis dahin auf dem Planeten gelebt hatten, wurden durch die zunehmende Konzentration an Sauerstoff in der Atmosphäre getötet.«

»Diese Fakten sind uns bekannt. Ich kann jedoch immer noch keine Verbindung zu euch herstellen.«

»Das ist der Punkt: Das Leben ist zäh. Es haben auch Organismen überlebt, für die Sauerstoff Gift ist. In der Tiefsee, in inaktiven Vulkanen …«

Abarell klopfte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. Carruaca atmete tief ein und erzählte dort weiter, wo Krylova unterbrochen worden war.

»… und in Höhlen tief unter der Erde. Dort verbrachten sie Millionen von Jahren, überstanden die längste Eiszeit, die es je gegeben hat, und rüsteten sich zum Angriff gegen die Übermacht der Sauerstoffatmer. Es waren vor allem Organismen, die Methan für ihr Überleben benötigten. Und eines Tages war es dann so weit. Die Methankonzentration stieg an, diese Geschöpfe krochen aus ihren Verstecken und begannen einen Krieg, wie ein Krieg nicht erbarmungsloser sein konnte.«

»Ihr macht wohl Witze?«

Krylova schüttelte den Kopf.

»Hätte der Sauerstoff alle Lebewesen getötet, die nicht damit umgehen konnten, dann wären wir nicht hier und würden gegeneinander kämpfen. Niemand würde sich Gedanken darüber machen, wer denn nun der rechtmäßige Herrscher dieser Welt ist.«

»Soll das heißen, die Menschheit wird vernichtet, weil sich ein paar schleimige Bakterien nicht einig sind, wem die Welt gehört? Das klingt so absurd, so durchgeknallt, man müsste euch sofort in eine Irrenanstalt einweisen.«

»Weißt du, wie viele Bakterien auf und in deinem Körper leben?«

Abarell wirkte irritiert.

»Nein, warum? Was hat das …«

»100 Billionen. Das sind zehnmal mehr, als der durchschnittliche Mensch Zellen hat. Der Großteil lebt im Darm. Im Mund schleppst du ungefähr 10 Milliarden von diesen Mikroorganismen mit dir herum. Ohne diese Bakterien wäre der Mensch nicht lebensfähig, ohne sie würde es den Menschen nicht geben. Diese schleimigen Bakterien, wie du sie nennst, sind alles andere als harmlos. Und wenn sich ein paar zusammenschließen und so etwas wie Intelligenz entwickeln, dann kannst du dir ausrechnen, was ein Mensch gegen sie ausrichten kann.«

»Nichts?«

»Richtig. Und du darfst nicht vergessen, diese Bakterien hatten ein paar Jährchen mehr Zeit, sich zu entwickeln, als dieses Säugetier namens Homo sapiens.«

Carruaca sah Krylova in die Augen, senkte dann den Blick, als wolle er um Verzeihung bitten, wobei ihm im gleichen Augenblick bewusst wurde, dass er die Zeit des Vergebens längst versäumt hatte.

»Das ist die ganze Geschichte: Diese beiden Gruppierungen sind ständig auf der Suche nach geeigneten Wirten und Trägern ihrer Erbinformationen. Zurzeit sind es Sauerstoffatmer, an deren Spitze der Evolution der Mensch steht, doch bald wird etwas anderes die Erde besiedeln und sich auf ihr verbreiten. Und es werden Lebewesen sein, für die der Sauerstoff pures Gift ist.«

»Was heißt das jetzt?«

Krylova überließ es Christine, auf diese Frage zu antworten.

»Das heißt, dass die Garde gerade dabei ist, den Planeten mithilfe des Menschen so zu verändern, dass in Zukunft Methanatmer darauf leben können. Und weil es einfacher ist, einen bestehenden und vor allem erfolgreichen Organismus umzubauen, als einen neuen zu entwerfen, wird auch gleich der Mensch in eine neue Art umgeformt.«

Abarell sah abwechselnd zu Krylova, Carruaca, Christine und Sanja. Er wollte etwas erwidern, doch seinem offenen Mund entkamen nur erstickte Laute und heiße Luft. Er benötigte eine gefühlte Ewigkeit, um das Gehörte zu sortieren und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.

»Heilige Scheiße«, war das Einzige, was minutenlang aus seinem Mund zu hören war. »Heilige Scheiße, wir sind am Arsch.«