Fragment 35

Karl Gottlieb leerte das Weinglas und näherte sich der jungen Frau, die nackt auf den Operationstisch geschnallt war. Ihre Hände schlossen und öffneten sich im Sekundentakt. Sie ballten sich zu Fäusten, die das Gesicht Gottliebs zertrümmern wollten und gleich darauf seinen Hals umschlossen, um ihm mit einem Ruck das Genick zu brechen.

»Na, meine Kleine, wie hast du geschlafen? Ich hoffe, du hast dich gut erholt, denn ich habe mir extra für dich ein paar neue Spiele ausgedacht. Du willst ja auch hier raus, oder?«

Seine Hand berührte ihren Mund, strich langsam über das Kinn, dem Hals entlang zu ihren Brüsten, weiter zum Bauch, zwischen ihre Beine.

»Nein, heute nicht, du kleine Nutte. Auch wenn du dich wahrscheinlich den ganzen Tag darauf gefreut hast. Heute nicht.«

Er nahm eine Kanüle und stach ihr damit in den Bauch. Sie stöhnte.

»Weißt du, heute ist Nachschub angekommen, junges, williges Material. Ich habe mich dort bedient.«

Eine zweite und dritte Nadel rammte er in ihre Brüste.

»Sie sind zwar nicht so widerstandsfähig wie du, … sie sind so schwach, sie sterben schon, wenn man ihnen ein Bein oder eine Hand abtrennt. Viele sterben sogar, wenn man nur ihre Augen aus den Höhlen herausätzt. Kannst du dir das vorstellen? Erbärmlich, oder? Sie sind eben nicht wie du. Aber das macht nichts. Es gibt Unzählige da draußen im Lager, die Auswahl ist …«

Er führte einen Katheter aus Glas in die Harnröhre ein. Mehrere Male, bis er zerbrach. Er genoss den Anblick ihres schmerzverzerrten Gesichts.

»Hab ich dir wehgetan? Das tut mir leid.«

Er stieß ihr einen zweiten Katheter in den Unterleib. Blut tropfte auf den Tisch.

»So besser?«

Sie biss ihre Zähne zusammen. Hass flackerte in ihren Augen auf.

»Wo waren wir? Ach ja, die Auswahl. Man könnte fast sagen, wie im Paradies. Und die vielen Zwillingspaare, die extra für unsere Forschungen hierher gebracht werden. Man weiß gar nicht, wo einem der Kopf steht und wie man das alles bewältigen soll.«

Er schickte die beiden Assistenten hinaus.

»Wir arbeiten in Schichten. Doch keine ist wie du. Du bist etwas Besonderes. Deshalb hast du jetzt meine ungeteilte Aufmerksamkeit.«

Sie versuchte den Kopf ein wenig zu drehen, um zu erkennen, was er vorhatte. Doch sie konnte ihn nicht bewegen, er war fest zwischen zwei Stahlplatten eingeklemmt.

»Ich muss dir jetzt deinen Arm aufschneiden, du kennst das ja schon. Also bitte nicht schreien, sonst muss ich dich unter die Glaskugel stecken, und das willst du doch nicht?«

»Doch zuerst habe ich noch eine kleine Überraschung für dich.«

Er nahm einen Infusionsbeutel, las, was darauf stand und lächelte zufrieden.

»Salzsäure. 37%.«

Er schloss den Beutel an einen Schlauch und diesen an die Kanüle an, die im Bauch steckte. Sofort schoss die Flüssigkeit in die Bauchhöhle und begann dort ihr zerstörerisches Werk. Er legte den Beutel zwischen ihre Brüste und stach mit einer Nadel Löcher hinein. Salzsäure tropfte auf ihre Brust und fraß sich durch die Haut. Ein beißender Geruch verbreitete sich im Raum. Er setzte sich eine Atemmaske auf und schloss zwei weitere Salzsäureinfusionen an die Kanülen in den Brüsten an.

Sie schrie.

»Ich sagte doch, du sollst nicht schreien. Die Säure ist nur zu deinem Besten. Es erspart dir die unangenehme Prozedur des Bauchöffnens und das Aufschlitzen deiner Brüste. Das dauert alles zu lange. So wird deine Schmerzschwelle schneller überschritten, weil die Prozesse schneller ablaufen. Du musst daher nicht so lange leiden.«

Sie verstand nicht, sie spürte nur, wie sich die Salzsäure einen Weg durch ihre Gedärme fraß und wie ihre Brüste von innen verbrannten. Schnell bekam sie Probleme mit der Atmung. Die Salzsäure durchlöcherte ihre Lungen. Die Dämpfe verätzten ihre Luftröhre.

Sie hörte sich immer noch schreien.

Gottlieb nahm ein Skalpell und Schnitt ihren Unterarm der Länge nach auf, wie er es schon Dutzende Male bei ihr gemacht hatte.

»Jetzt noch das Präparat injizieren … und diesmal bleibst du stabil, versprochen? Denn dann können wir die Experimente abbrechen und du gehörst mir alleine. Mir ganz alleine. Verstehst du?«

Sandra Hoover hatte verstanden. Die Worte waren der Schlüssel. Ihr Verstand durchbrach die Mauer des Vergessens. Er funktionierte wieder so, wie er es vor der Gehirnwäsche getan hatte. Sie wusste wieder, wer sie war.

In sechs Monaten bist du tot. Wie recht du doch hattest. Isobel.

Sie fühlte, wie sich ihr Körper veränderte.

Das ist es also, was den Unterschied ausmacht.

Rasend schnell gruppierten sich Zellen um. Die Salzsäure, die noch vor Sekunden in ihrem Körper brannte, wurde von den Zellen aufgesogen und als Energiequelle genutzt. Ihre Knochen wurden weich, verformten sich wie klebriger Asphalt, wurden zum schwarzen, klebrigen Asphalt. Die Haut wurde durchsichtig wie Gelee auf einer Obsttorte. Das Blut verfärbte sich schwarz, floss zäh wie Rohöl durch die Adern; es war Rohöl.

Sie richtete sich auf, die Fesseln waren keine Hindernisse mehr. Arme und Beine flossen aus ihnen heraus, wie weicher, formbarer Kunststoff, wie Thermoplast. Gottlieb starrte sie fassungslos an. Er wich langsam zurück, als fürchtete er, durch eine unachtsame Bewegung einen Angriff zu provozieren.

Ein zwei Meter großer, schwarzer Körper floss auf ihn zu. Panik überkam ihn.

Die Tür, ich muss zur Tür.

Doch seine Beine bewegten sich nicht. Als wäre er auf dem Boden festgenagelt, als würde er langsam in einem Sumpf versinken. Er schrie um Hilfe, doch nur ein leises Gurgeln verließ seine Kehle. Ein Tentakel schoss aus der zähflüssigen Masse, formte eine Hand. Eine zweite Hand. Und noch eine. Ein Kopf bildete sich. Schwarze Augen sahen ihn an. Hass.

Sein angstverzerrtes Gesicht spiegelte sich in der glatten Oberfläche ihres Körpers. Sein Mund stand immer noch offen, würde sich nie mehr schließen.

Ihre Lippen formten drei Worte, die wie eine Maschinengewehrsalve durch seine Gehörgänge hämmerten.

»Du. Bist. Tot.«

Immer wieder nur drei Worte.

»Du. Bist. Tot.«

Vier starke Hände packten ihn, warfen ihn auf den Boden, hielten ihn dort fest wie Stahlklammern. Schwarze Flüssigkeit drang in jede seiner Körperöffnungen ein, füllte jede Ritze.

»Hast du noch etwas zu sagen?«

Seine Augen weiteten sich. Er wusste, was sie vorhatte.

»Nein?«

Ihr Kopf löste sich auf, ebenso ihre Hände. Sie füllte seinen Körper aus, dehnte sich langsam aus, ganz langsam. Genoss das Gefühl, das Innere seines Körpers einzunehmen. Sie fühlte, wie Knochen barsten, Blutgefäße platzten, Organe explodierten, Bindegewebe und Muskelfaser rissen und in einer letzten Expansion sein Körper in Hunderte Teile zerfetzt wurde.

Sie war wieder Sandra Hoover und niemand würde ihr jemals wieder Leid zufügen können. Sie legte sich auf den Tisch und kurze Zeit später war sie eingeschlafen. Sie träumte. Seit ewigen Zeiten träumte sie wieder. Sie träumte von Pangäa.