42 Glaspuppe

Christine Cayce lag auf dem Bett und kaute an einem Bleistift. Sie hatte die Festplatte an das Fernsehgerät angeschlossen und sah sich die gespeicherten Filme an. Wenn die Szenen zu grausam wurden, benutzte sie die Schnellvorlauftaste. Und diese drückte sie immer häufiger. Durch die höhere Geschwindigkeit wurde das Grauen zwar nicht weniger, doch die Details brannten sich nicht so schmerzhaft ins Gehirn. Den Ton hatte sie längst abgestellt, die Schreie waren unerträglich gewesen.

Conchita Garcia lag neben ihr und starrte auf den Bildschirm ihres Notebooks. Sie suchte in den Geheimakten nach Hinweisen, wer hinter der Garde steckte und wo man ihre Folterkeller finden konnte. Die Garde. Schon der Name sagte einiges über die Mitglieder dieser Gruppe aus.

Für Conchita waren es allerdings nichts anderes als perverse Spinner, die unter Größenwahn litten; und sie wollte sie hinter Gitter sehen. Christine war sich sicher, dass sie diese Männer eigenhändig erschießen würde, wenn sie ihr über den Weg laufen würden. Doch das würden sie nicht. Sie waren wahrscheinlich längst tot.

»What the Fuck! Sieh dir das an!«

Conchita sah erschrocken hoch. Christine schrie beinahe. Sie zog hektisch an Conchitas T-Shirt und deutete auf das LCD-Display.

»Was hast du?«

»Sieh selbst. Die Frau!«

Christine hatte das Video angehalten und spulte es ein paar Sekunden zurück. Dann drückte sie die Play-Taste. Mehrere Stahlbänder fixierten die Frau auf einem Tisch. Ein Arzt öffnete gerade ihre Bauchdecke. Man konnte sehen, wie die Frau schrie. Ihr Mund stand offen, die Augen waren weit aufgerissen. Die Hände zu Fäusten geballt. Christine schaltete den Ton ein. Conchita hielt sich die Ohren zu.

»Mach leiser, bitte!«

Der Arzt nahm eine Spritze und injizierte der Frau eine gelbe Flüssigkeit in ihre Brust. Sie bäumte sich ein letztes Mal auf und fiel in die rettende Bewusstlosigkeit.

»Verdammt. Schalt das aus.«

»Warte, gleich kommt‘s«

»Was? Warum tun die das? Warum quälen sie die Opfer, warum immer dieses Bauchaufschlitzen?«

Sie sah jetzt, was Christine meinte. Die Hautfarbe der Frau veränderte sich. Sie wurde zuerst schwarz und dann, von einer Sekunde auf die andere, durchsichtig. Man konnte die Blutgefäße und die Organe sehen. Die Knochen schimmerten in einem hellen Blau und kurz darauf waren sie unsichtbar. Christine stoppte das Video.

Conchita sah gebannt auf das Bild auf dem TV-Gerät. Die Frau war fast nicht mehr zu erkennen. Eine Hand war angewinkelt. Das hieß, sie hatte es irgendwie geschafft, die Hand aus den Stahlfesseln zu befreien. Christine ließ das Video weiterlaufen. Die Frau verwandelte sich in eine formlose Masse, die in allen Regenbogenfarben schillerte.

Conchita hielt die Luft an.

»Was ist das?«

»Mein Gott!«

Die Masse teilte sich und floss links und rechts klatschend auf den Boden. Die Struktur veränderte sich wieder. Langsam formten sich zwei menschliche Körper.

Aus den Gesichtern von Christine und Conchita konnte man zuerst Erstaunen, danach Unglauben und zuletzt Entsetzen lesen.

»Das kann doch nicht sein!«, schrie Conchita hysterisch. »Was haben die mit ihr gemacht. Was ist das?«

»Was kann nicht sein?«

Die beiden schraken zusammen.

Abarell war in das Schlafzimmer gekommen und sah die beiden fragend an. Christine Blick zeigte in die Richtung des Fernsehapparates. Abarell zuckte mit den Schultern.

»Na und? Zwillinge in einer der Folterkammern und daneben steht unser Herr Blome höchstpersönlich. Nichts Außergewöhnliches. Leider.«

»Nein, keine Zwillinge. Es sind vermutlich nicht einmal Menschen. Zumindest jetzt nicht mehr. Und wenn doch, dann … sieh selbst.«

Christine tippte einen Zahlencode in die Fernsteuerung und stellte den Ton ab. Sie wollte die Schmerzensschreie der Frau nicht noch ein weiteres Mal anhören müssen. Das Video startete an dem Punkt, als Blome der Frau den Bauch aufschlitzte.

»Das ist entsetzlich! Egal, wie oft ich so etwas sehe, ich kann mich nicht daran gewöhnen.«

Abarell zwang sich, trotzdem hinzusehen. Auch wenn sich alles ihn ihm dagegen sträubte. Er setzte sich auf die Bettkante und umklammerte ein Kissen, als wollte er es erwürgen.

»Mach dich bereit. Gleich kommt etwas ziemlich Abgefahrenes.«

Das Aussehen der Frau veränderte sich. Abarells Augen weiteten sich.

»Was passiert mit ihr?«

Die gelartige Masse tropfte auf den Boden und fand sich in Sekunden zu einem Körper zusammen. Es dauerte nicht lange und aus der einen Frau waren zwei geworden. Sie lagen regungslos auf dem Boden. Blome und zwei Assistenten hoben eine Frau zurück auf den Operationstisch. Die andere zerrten sie in eine Ecke und beachteten sie nicht weiter. Conchita schlug die Hände vor das Gesicht.

»Wie bei einer Fettabsaugung. Nur dass hier der gesamte Körper in flüssiges Fett umgewandelt wird und das Fett plötzlich ein Eigenleben entwickelt.«

»Das ist doch unmöglich! Das ist … dann sind die Texte …«

Er riss Christine die Fernsteuerung aus der Hand und sah sich die Szene ein weiteres Mal an. Und danach noch einmal. Immer wieder.

»Ist das ein Mensch? Das kann doch nicht menschlich sein?«

»Der Mythos von den Gestaltwandlern.«

Abarell sah Conchita an, als wäre sie von einem anderen Stern.

»Gestaltwandler? Wenn du jetzt noch sagst, es wäre ein Werwolf, dann muss ich dich leider töten. So ein Schwachsinn.«

»Deine Fantasie ist in diesem Fall nicht sehr ausgeprägt. Ich spreche von viel älteren Mythen. Wie etwa keltische …«

»… oder indianische«, ergänzte Christine.

»Das sind Mythen«, protestierte Abarell. »Diese, diese … dieses Ding ist real!«

Conchita lachte kurz auf.

»Real? Das sieht für mich aus, wie ein Ausschnitt aus einem Hollywoodfilm. Das Fettpolster schlägt zurück.«

Christine speicherte die Sequenz der Transformation auf einer zweiten Festplatte und versah die Datei mit dem Hinweis »Gestaltwandler Klon«.

»Ist ja egal, ob es Mythen sind. Es hilft uns nicht weiter, darüber zu spekulieren, was es ist. Wir wissen ja immer noch nicht, wo das passiert ist und auch nicht wann. Wer weiß, vielleicht laufen diese … Dinger zu Tausenden auf der Erde rum. Vielleicht sind sie schon die heimlichen Herrscher …«

»Ja, die Gründer erobern die Erde.«

»Gründer?«

»Ach, nichts. Vergiss es. Scifi.«

»Noch so eine Verschwörungstheorie? Die geheime Weltregierung, eine Bande von Gestaltwandlern. Habt ihr auch vernünftige Vorschläge? Etwas, was man auch logisch nachvollziehen kann.«

»Für mich klingt das ganz vernünftig. Zumindest ist es nicht weniger glaubwürdig als eine Organisation, die seit Jahrzehnten nach dem Jungbrunnen sucht und ihn auch findet. In Form von … Tortengelee.«

Abarell legte die Akten auf das Bett, die er vor wenigen Stunden gefunden hatte. Obenauf die handgeschriebenen Blätter des unbekannten Mädchens.

»Vielleicht hilft uns das weiter. Das habe ich heute gefunden. Wenn man den Daten im Archiv trauen kann, dann sind es Aufzeichnungen aus dem Jahr 1992. Und ihr werdet es nicht glauben, sowohl Gottlieb als auch Blome sind in diesem Jahr gestorben. Das heißt, wir können davon ausgehen, dass diese Experimente noch im Jahre 1992 durchgeführt worden sind. Jedenfalls in Südafrika«

»1992? Südafrika?«

Christine schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wie alt war Blome da? 85? Das ist würde ja bedeuten, er hat 60 Jahre seines Lebens damit verbracht, Menschen zu verstümmeln. Wie krank muss man sein …«

»Krank? Besessen trifft es wohl eher. Er wollte unsterblich werden, und das nicht nur sprichwörtlich. Das kann schon zur Sucht werden.«

Abarell blätterte in den Akten.

»Und noch etwas habe ich gefunden.«

Er reichte Christine ein Blatt Papier.

»Lies den letzten Absatz.«

Christine las schnell und ihre Augen wurden bei jeder Zeile größer und größer.

»Die letzten ihrer Art …«, sagte sie nach einer Weile.

»Darf ich auch?«

Conchita schnappte sich das Blatt und überflog den Text.

»Puppe aus Glas? Jetzt wird es langsam wirklich abgefahren.«

Christine hatte das Video gestoppt. Die durchsichtige Frau füllte jetzt den gesamten Bildschirmbereich aus.

»Das Ding auf dem Video ist auch für kurze Zeit durchsichtig. Das kann kein Zufall sein, oder?«

»Carruaca wird mir ein paar Fragen beantworten müssen. Ich glaube, er hat mir da einiges verschwiegen. Ich bin mir sicher, er weiß, was das da ist. Sucht ihr inzwischen weiter nach Hinweisen?«

»Ja, Boss. Machen wir. Und wohin gehst du?«

»Sag ich dir, wenn ich zurück bin. Die Macht wird mir den Weg weisen. Bis später.«

Abarell verließ den Raum. Er wusste jetzt, wie er Carruaca erreichen konnte.«

»Die Macht?«

Conchita sah fragend in Christines Richtung.

»Dreht er jetzt durch?«

»Keine Ahnung, aber es würde mich nicht wundern. So ein Fall wie dieser ist wirklich nicht alltäglich.«