Wege zur Versteinerung 14

 

Die Anthroposophie ist der Katholizismus unter den esoterischen Lehren. Sie ist mittlerweile schon so alt, daß sie allein dadurch Würde gewonnen hat, die Patina auf den Bildern Steiners verleiht seiner Lehre den Ernst des Althergebrachten. Die Anthroposophen betreiben 168 Schulen in Deutschland, sie unterhalten sowohl ideologisch als auch ökonomisch starke Brückenköpfe in der Ökologiebewegung (»Weleda«, »Wala«, »Demeter«) und präsentieren sich insgesamt als eine sanfte Bewegung von Naturfreunden mit leicht schrulligen Ideen zur Architektur. Dann schlägt man einen der über 300 Bände auf, die die Äußerungen des Bewegungsgründers enthalten, und es hebt einem den Rock. Da werden zur Zeit des vollentwickelten Industriekapitalismus infantile Wirtschaftssysteme entworfen, die einer Agrarkultur aus dem Mittelalter entsprechen, da wird Atlantis für bare Münze genommen, da werden krause Theorien über Botanik geäußert, die jeder wissenschaftlichen Betrachtung Hohn sprechen, da wird eine Physik betrieben, über die Archimedes gelacht hätte, da werden hahnebüchene Ernährungslehren formuliert, da wird ekelhafter Rassismus mit wolkig-spirituellem Räucherwerk umgeben. Allein die Tatsache, daß er solchen Nonsens in Vorträgen und Schriften verbreitet hat, die über 300 Bände füllen, sollte sehr nachdenklich stimmen. Es hat echte Genies gegeben, die einen starken Mitteilungsdrang hatten; man denke nur an Aristoteles, der auch Unsinn erzählt hat, aber dabei wenigstens auf der Höhe seiner Zeit war. Nicht so Steiner. Er kümmert sich um den Kenntnisstand seiner Zeit gar nicht, weil er keine Hoffnung haben kann, ihn aufzuholen, und erfindet das Rad in Form einer privaten Pseudowissenschaft neu. Weil es seines ist, darf es dann auch Ecken haben. Was er nicht versteht, oder was ihm nicht paßt, redet er solange mit einer nichtendenwollenden Kaskade aus Geschwätz nieder, bis es völlig verdrängt ist. Die klaffenden cher in seiner eigenen »Theorie« stopft er mit raunenden Andeutungen von höheren Einsichten, die er entweder gar nicht oder nur durch Querverweise auf Gleichgesinnte belegen kann. »Gew« und »bestimmt« sind zwei seiner liebsten Vokabeln, und während sie Gewheit und Bestimmtheit simulieren sollen, bezeichnen sie das gähnende Nichts. Wo man das Lesezeichen auch hineinsteckt: Steiners Werk ist durchtränkt mit Bestimmtheiten und Gewißheiten, die er nicht belegen kann. Es besteht daraus.15 Die folgenden Zitate stellen weder die krassesten noch die kontroversesten Beispiele für den Nonsens dar, den Steiner verbreitet hat. Sie markieren den guten schlechten Durchschnitt. Es ist wirklich gleichgültig, wo man sucht, Äußerungen wie die folgenden finden sich immer.

»Durch diese Fähigkeit und das ist gerade das Ideal der britischen Geheimgesellschaften sollen gewisse, heute der Industrialisierung zugrunde liegende soziale Formen auf eine ganz neue Grundlage gestellt werden. Es weiß jedes Mitglied dieser geheimen Zirkel, daß man einfach durch gewisse Fähigkeiten, die heute noch beim Menschen latent sind, die sich aber entwickeln, mit Hilfe des Gesetzes der zusammenklingenden Schwingungen in großem Umfange Maschinen und maschinelle Einrichtungen und anderes in Bewegung setzen kann. Eine kleine Andeutung finden Sie in dem, was ich in meinen Mysteriendramen an die Person des Strader geknüpft habe. Diese Dinge sind heute im Werden. Diese Dinge werden innerhalb jener geheimen Zirkel auf dem Gebiete des materiellen Okkultismus als ein Geheimnis gehütet. Motoren gibt es, welche dadurch, daß man die betreffende Schwingungskurve kennt, durch sehr geringfügige menschliche Beeinflussung in tigkeit, in Betrieb gesetzt werden nnen. Dadurch wird es möglich sein, vieles, vieles, wozu man heute Menschenkräfte braucht, durch rein mechanische Kräfte zu ersetzen.« 16

Steiner behauptet hier allen Ernstes, daß eine Turbine unter Umgehung der Grundsätze der Physik in Gang gesetzt werden kann, indem man sie »andenkt« oder »anmeditier. Goldene Zeitalter standen uns bevor, als Herr Steiner noch wild in die Zukunft hineinphantasierte.

»Aber man wird, wenn das, was ich jetzt vor Ihnen mechanischen Okkultismus nenne, in das Gebiet der praktischen Wirksamkeit tritt, was ein Ideal jener geheimen Zentren ist, man wird nicht nur fünfoder sechshundert Millionen Menschenarbeit leisten können, sondern man wird etwa tausendundachtzig Millionen Menschenarbeit leisten können.« 17

Wenn nicht gar tausendfünfhundertzehn »Millionen Menschenarbeit«. Und der zeitgenössische Hinweis auf die Wunder der Zukunft? Ein Indiz dafür, daß das alles nicht nur die infantilen Wunschträume eines Spinners sind?

»Vielleicht ist Ihnen bekannt, daß Keely einen Motor konstruiert hat, der nur ging, wenn er selbst dabei war. Er hat damit den Leuten nichts vorgemacht, denn er hatte in sich selbst jene treibende Kraft, die aus dem Seelischen hervorgeht und Mechanisches in Bewegung setzen kann. Eine Antriebskraft, die nur moralisch sein kann, das ist die Idee der Zukunft; die wichtigste Kraft, die der Kultur eingeimpft werden muß, wenn sie sich nicht selbst überschlagen soll. Das Mechanische und das Moralische werden sich durchdringen, weil dann das Mechanische ohne das Moralische nichts ist. Hart vor dieser Grenze stehen wir heute. Nicht bloß mit Wasser und Dampf, sondern mit spiritueller Kraft, mit spiritueller Moral werden in Zukunft die Maschinen getrieben werden.« 18

Ein Motor, der nur geht, wenn sein Erfinder dabei ist, ist kein Motor, sondern ein Schwindel. Aber mit der Frechheit des routinierten Marktschreiers geht Steiner über das eigene implizite Geständnis des Betrugs hinweg und galoppiert einfach fröhlich weiter, hinaus in die weite Wallachei. Und er ist ohne Scham in der Lage, seine Ohrenbläsereien über moralische Maschinen mit den eigenen »Mysteriendramen« zu belegen. Wo sind die Motoren, von denen er faselt? Kann er die Kräfte demonstrieren, die er behauptet? Nichts davon. Konzepte Steiners wie das vom »mechanischen Okkultismus« könnten  noch als verschrobene Idee eines begabten Phantasten gelten, auch wenn es einem bei dem Gedanken kalt den Rücken herunterläuft, daß dieser Nonsens Schulkindern beigebogen wird. Bei anderen Ansichten Steiners vergeht einem das Lachen dann llig. Es ist nicht nur gerechtfertigt, ihn einen Rassisten zu nennen, es ist absolut zwingend. Seine Übernahme der Blavatskyschen »Wurzelrassenlehrmacht es unausweichlich.19 Sind alle Eltern, die ihre Kinder auf Waldorfschulen schicken, Rassisten? Wohl kaum. Die meisten kennen Steiners Schriften überhaupt nicht, sondern verlassen sich auf das mild-alternative Image der Anthroposophie in der Öffentlichkeit. Wenn sie einmal über die eine oder andere befremdliche Äußerung des Bewegungsgründers oder über seltsame Sitten an den Schulen stolpern, sind sie bereit, im Austausch für die diffuse Nestwärme, die ihnen die Anthroposophie in einer kalten Welt gibt, beide Augen zuzudrücken. War Steiner selbst ein Faschist? Nein. Er war nur ein Irrationalist, dessen spätromantische Schwärmerei, okkulte Geisteshuberei und dessen spirituell verbrämter Rassismus starke Affinitäten zur faschistischen Antiaufklärung haben. Er hatte es gar nicht nötig, sich selbst mit politischen Strukturen zu umgeben und Sturmabteilungen oder Schutzstaffeln zu gründen. Das Besondere an Steiner war die Fähigkeit, immer hart an der Grenze des vollentwickelten Wahns entlangzudelirieren und gleichzeitig mit einem ganz erstaunlichen Organisationsgeschick die Unterstzung der Mächtigen für seine Bewegung zu erlangen und zu erhalten. Bei einer extremen Begrenzung der sprachlichen Mittel mit allen reden zu können war eines seiner weiteren herausragenden Talente.20 Er war durchaus in der Lage, 1919 vor Stuttgarter Arbeitern Marx als großen Mann zu loben, um ihn nachher Stück für Stück zu verdrehen und ihn der Relevanz für seine Zuhörer zu berauben. Die Zahl von 168 Waldorfschulen in Deutschland zeugt einerseits von dem sozialen Geschick, mit dem die Anthroposophen ihren esoterischen Eintopf unter die Leute bringen, andererseits von einem brennenden Verlangen nach Heil, Genesung, Natur und Sanftheit in einer Gesellschaft, die all das planmäßig abbaut. Die Durchschlagskraft, mit der Steiner seinen sanften Kreuzzug gegen die Moderne und das kritische Denken von Etappensieg zu Etappensieg gehrt hat, machen ihn so bemerkenswert. Als soziologisches Phänomen ist die Anthroposophie interessant, ihre Lehre kann man dagegen getrost vergessen.