Bedeutung und Ordnung
Man möchte so gerne etwas bedeuten. Entgegen einer Realität, die ihr tagtäglich die eigene Nullität beweist, sucht eine zu Recht verletzte Menschenwürde nach Bedeutsamkeit und Sinn. Die ständige Beleidigung, die das Leben im allzu späten Kapitalismus darstellt, wird von den Nonentities umgangen, indem sie sich an phantasierten Sinnzusammenhängen berauschen, die keinen Sinn machen. Und so wird der Arbeitslose, der im Wohlfahrtsstaat ohne Wohlfahrt keine Aussicht mehr auf eine Anstellung haben kann, im mittelalterlichen Rollenspiel zu Barbarossa. Die Hausfrau erfährt im Turnanzug zu Klangschalengebimmel von ihrem Vorleben als germanische Heilerin. Leute, die weder wissen, wie sie mit ihrer Einkommensteuererklärung zurechtkommen, noch, woher sie das Geld für die nächste Miete nehmen sollen, finden sich zu sektiererischen Clubs zusammen, die die schwachsinnigen Plots billiger Science Fiction-Serien nachspielen, oder bekennen weinend vor laufenden Fernsehkameras, von Ufos nach Alpha Centauri entführt worden und dort mehrfach vergewaltigt worden zu sein. Jugendliche, die ansonsten nichts zu melden haben, erträumen sich in satanistischen Ritualen Allmacht und schlachten ein Huhn, um ihre Träume wahr zu machen, oder, wenn sie wirklich aufs Ganze gehen, einen Klassenkameraden. Ein ganzer Karneval aus Verzweiflung, Sehnsucht und Idiotie. Nichts ist absurd oder dämlich genug, die verzehrende Sehnsucht nach einer Aufwertung des eigenen Lebens zu befriedigen, wenigstens für eine kurze Zeit. Wenn der Massenwahn woanders hinstrebt, folgen die Jünger willig. Sie sind genauso reif für den nächsten Glauben wie für den Führer in den nächsten Untergang.
Man sähe die Welt so gern geordnet. Unser evolutionärer Apparat, die Verschaltung unserer Augen schon, ist so sehr auf das Erkennen von Mustern und Ordnungen getrimmt, daß unser Gehirn sie selbst erzeugt, wenn sie nicht da sind. Wir Menschen brauchen als Gattungswesen Bedeutung, das heißt, sinnvoll geordnete Wirklichkeit. Die herrschende Ordnung, die die Riesenmächte von Staat und Kapital jeden Tag neu ausfechten, sei es in den Fabrikstillegungen hier oder den neoimperialen Kriegen in der sogenannten Welt, frustriert das Bedürfnis nach einer menschlichen Ordnung aufs äußerste. Verschiedene Auswege bieten sich an. Der Rückzug auf Inseln, die scheinbar dem Getriebe enthoben sind, ist die Lüge schlechthin. Das Sektiererische, Hinterwäldlerische alternativer Kommunen kann schnell in die Bewußtseinslage des Kleinbürgers umschlagen, der hinter seinem Jägerzaun hervorgeifert, wenn man ihm zwei Kirschen stiehlt. Der Versuch, den alltäglichen Terror zu übertrumpfen und immer einen Schritt schneller zu sein als der Wahnsinn, der einen umgibt, endet in einem bunten Strauß an Zivilisationskrankheiten, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Die Winner, die nicht an ihnen leiden, weil sie an nichts mehr leiden können, sind schon die Zuchthengste und -stuten einer neoliberalen Eugenik, in der nur zählt, wer alles aushält. Ihr Idealtyp grinst uns aus den Werbeanzeigen für Luxusautos und Luxusmode kühl an, und in der dressierten Freundlichkeit des präparierten Grinsens blecken sie das Gebiß zur Drohung an den Rest der Welt. Die Esoterik hingegen bietet den wohlfeilen Notausgang zum universalen Sinn. Je chaotischer, wahnsinniger und menschenfresserischer sich uns die Realität darstellt, desto besser. Es hat alles einen Sinn. Zwei Hauptvarianten sind unterscheidbar. Erstens die milde, resignative Variante der Schafsgeduld, die alles hinnimmt und postwendend mit einem Sinn versieht, den es nicht hat. Zweitens die militante und katastrophische Variante, die das Blutbad bejaht, weil es nur die Rechtgläubigen aus dem Maelstrom des Chaos unbeschadet hervorgehen läßt, die Auserwählten, die treu zu Herr und Herrin gestanden sind und nicht wichen und nicht wankten, solange der Sturm tobte. Die Esoterik wuchert auf einem fruchtbaren Boden, den jahrhundertelang das Christentum abgeerntet hat. Was immer die realen politischen und ökonomischen Mächte über die Menschen hereinbrachten, für wahre Christen war alles Gottes Wille. Als ein katholischer Priester, Führer einer rechtsradikalen französischen Jugendorganisation, 1998 vier der ihm anvertrauten Jugendlichen während eines Feriencamps in den Tod segeln ließ, weil er sie abhärten wollte 3, sagte ein 13jähriger bei dem Begräbnis seiner Blutsbrüder: »Gott gibt und Gott nimmt. Dies war Gottes Wille.« Man setze in den Reden dieser Leute für »Gott« ein, was sich gerade anbietet, es ist immer derselbe.