Anything goes
Glauben heißt nicht wissen. Was gedacht werden kann, ist nicht dadurch schon real. Wer diese simple Unterscheidung nicht treffen kann, ist schon auf dem besten Weg zum Esoteriker. Planvoll soll alles zu einem indifferenten Nebel von Gewißheiten verschiedener Herkunft vermischt werden, damit zunächst alles denkbar und dann, im Handstreich, auch real wird. Es gibt Esoteriker, die sich nicht entblöden, ihre »Methode« als »phantastischen Realismus« zu bezeichnen, und sie versinken weder vor Scham im Boden, noch werden sie so lange ausgelacht, bis sie schweigen. Kants Rede von den vorgestellten Talern und den wirklichen Talern, die einstmals gegen die sogenannten Gottesbeweise gerichtet war, würde greifen, wenn die kritische Bestimmung der Philosophie noch Autorität hätte und so etwas wie Kritik im Handgemenge überhaupt noch möglich wäre.4 Aber statt eines rationalen Diskurses zwischen Gleichberechtigten ist in unserer Form der Demokratie die Talkshow das Mittel der Wahl, um Wahrheit auszuloten, entsprechend die Ergebnisse. Hinzu kommt, daß die betrogenen Betrüger der Esoterik ja tatsächlich aus Phantasien Geld machen. Wenn auch schon ihre geneppten Kunden nicht reich werden, so doch immerhin sie selbst, und es grenzt wirklich ans Wunderbare, mit wie wenig wie viel verdient werden kann.
Die Kirche der Vernunft jedoch, zu der die Wissenschaft verkommen ist, hat gegen den Irrationalismus schon längst ausgepfiffen. Jeder neue Wahnsinn, den sie ausheckt, gibt ihren Gegnern mehr Kraft. Lügen, kleinliche Streitereien zwischen wissenschaftlichen Genies um Patente und Forschungsgelder, die prompte Bereitwilligkeit, jedem Machtirren jedes gewünschte Mordgerät an die Hand zu geben, billiger Betrug, Kurzsichtigkeit und bisweilen niederschmetternde Inkompetenz auf den selbst gesuchten, bis ins kleinste ausgeschnipselten Spezialgebieten haben die Autorität der Vernunftskirche so stark ausgehöhlt, daß sie ihren Gegnern ein allzu leichtes Opfer wird. Wie die Pfaffen aller Jahrhunderte haben die Weißkittel jedem Terror, jedem Unsinn, jedem Abgrund an Dummheit ihren Segen gegeben. Sie haben Verbrecherregierungen beraten und unterstützt, sie haben im Auftrag dieser Regierungen Waffen gebaut, die offensichtlich das Produkt kranker Hirne sind, sie haben in Konzentrationslagern grausamste Experimente an Wehrlosen durchgeführt, sie haben sich in Berechnungen vertan, die ein Gymnasiast fehlerfrei beherrschen muß, sie haben wissentlich Produkte und Technologien für gut befunden, die für ihre Anwender tödlich waren, sie haben alle Arten von Rassismen »wissenschaftlich« begründet und gerechtfertigt, sie haben gefälscht, gelogen, gestohlen und, wenn es opportun schien, gemordet. Mit ihnen war immer Staat zu machen. Alles war erlaubt, solange der Befehl von oben kam. Auf diese Weise sind die Kosten der Aufklärung so angestiegen, daß die Antiaufklärer sie mit Wohlbehagen gegen ihren Nutzen aufrechnen können. Die Kirche der Vernunft wird leichte Beute für das, was sie erledigt zu haben glaubte: das magische Denken. Allerdings werden wir nicht erleben, daß die Esoteriker auf die Kniffe der Wissenschaft verzichten. Ganz im Gegenteil, sie fallen ihnen wie reife Früchte in die Hände. Seit hundert Jahren sehen wir das seltsame Phänomen, daß sich die antimodernen Erben der Moderne mit den jeweils fortschrittlichsten Produktionsund Propagandamethoden bestens auskennen. Heute sind sie alle im Internet. Die magisch-naturbegeisterten Anthroposophen ringen schwer mit sich, bevor sie Homepages für »Weleda«,
»Wala« und »Demeter« erstellen, und der Ringkampf dauert so lange, bis ihnen die Marketingabteilung erzählt, daß ihnen Umsatzverluste drohen. Andere heillose Heilssucher steigen, frisch von der Universität, das Betriebswirtschaftsdiplom in der Tasche, bei amerikanischen Sekten ein, deren Spiritualität darin besteht, aus möglichst vielen Leuten möglichst viel Geld herauszuholen. So spiegelt das kühl rationelle Verhalten der Irrationalen die Irrationalität einer Vernunft, die jede wirklich humane Perspektive verloren hat.
»Trotzdem« zu sagen ist immer das letzte Mittel. Wer »trotzdem« sagt, kämpft auf verlorenem Boden. Es hat einen Geschmack von Wagenburgmentalität, von Verbohrtheit an sich, gegen die zigfache Übermacht des Gegners auf Positionen zu beharren, die kaum einen mehr interessieren. Trotzdem bleibt uns gegen die planvolle Vermischung von Wissen und Glauben, von Phantasie und Erfahrung nur das Beste an der wissenschaftlichen Tradition: die Skepsis. Ockhams Razor, das Bestehen auf empirischer Prüfung und auf der Reproduzierbarkeit von Experimenten, die Beachtung von Logik und common sense, die Frage danach, wem es nützt, die Forderung nach Transparenz, das Wissen darum, daß die Forschung oft dahin fällt, wo Geld und Macht schon liegen, die kritische Prüfung autoritärer Lehrsätze, all das ist heute wichtiger denn je. Ufologen und Pendelschwinger fürchten es wie die Pest, und zu Recht, denn es ist das einzige, was sie davon abhält, die Christen und die Aufklärer in einer Weise zu beerben, die keinem denkenden Menschen recht sein kann.