Jungbrunnen

 

Alle sind ständig krank. Das paranoide Gefühl, immer bedroht zu sein, schlägt um in die immerwährende Vorsorge. Da man sich gegen das Atomkraftwerk zehn Kilometer weiter machtlos fühlt, bekämpft man die Strahlung wenigstens im eigenen Wohnzimmer, auch wenn es eine ganz andere ist. Plötzlich ist die simple Steckdose in Bettnähe brandgefährlich und muß mit Salzlampen bekämpft werden, die so häßlich sind, daß sie allein dadurch schon die Atmosphäre im Raum vergiften, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß sie von innen elektrisch beleuchtet werden. Die trockenen Augen, der trockene Hals, das Jucken hier und das Zwicken da veranlassen unter dem Einfluß einer neuen Quacksalberkaste zu einem Verhalten, das eigentlich nur als schwer gestört bezeichnet werden kann. Man trinkt den eigenen Urin, qlt sich durch Enthaltsamkeit von jahrzehntelang genossenen Lebensmitteln, pflanzt Gewürzkräuter nur noch bei zunehmendem Mond an, vertraut seine ganzen Ersparnisse totalitären Sekten an, um von ihnen als Mitglied akzeptiert zu werden, murmelt über dem Essen obskure Beschwörungsformeln, bastelt am Feierabend in Geheimgesellschaften an der Weltherrschaft. Aus dem Illustriertenhoroskop, dem Amulett am Hals, der Vermeidung schwarzer Katzen, die die Ängste vor Krankheit, Alter und Tod beschwichtigen sollten, ist eine Dauerolympiade des Abwehrzaubers geworden, inklusive Rekordhaltern, Werbeeinnahmen, Kampfrichtern und Doping. Ärzte und Akademiker an hrender Stelle immer mit dabei. Die wahre Krankheit, daß wir nämlich nicht wie Menschen leben, obwohl wir alles haben und uns zu Tode fressen können, während zwei Drittel der Weltbelkerung nicht wie Menschen leben, weil sie nichts haben und vor Hunger sterben, wird nie benannt.