Asien, Asien oder:
Ein Tibeter in meinem Büro 6
Sich offenen Auges zur europäischen Kultur zu bekennen macht nicht froh. Es heißt, sich zu einer Kultur der Schuld zu bekennen. Die letzten fünfhundert Jahre hat Europa eine höchst unglückliche Rolle in der Welt gespielt, und es ist vor diesem Hintergrund eben kein Zufall, daß der Faschismus hauptsächlich in Europa stattgefunden hat. Also sucht man nach dem reinen Land woanders. Indien war ein must für die Hippies, dann kam die Indianermystik Nordamerikas, heute ist es Tibet. Hohe Berge, tiefe Mysterien. Es kommt zu der eigenartigen Erscheinung, daß der Buddhismus in Tibet aufgrund der chinesischen Repression abstirbt, während er im Westen eine Renaissance erlebt, die stark neurotische Züge trägt. Um das Ideal der Projektion aufrechtzuerhalten, wird Realität einfach wegradiert. Weder die Tatsache, daß der Buddhismus wie jede andere Weltreligion seine Kriege, seine Schismen, seine Scharlatane und Perversionen kennt, noch die überaus starke Anziehungskraft speziell des tibetischen Buddhismus für okkultistische Quatschköpfe fallen ins Gewicht. Schon eine oberflächliche religionswissenschaftliche Betrachtung würde ergeben, daß der Buddhismus in seiner tibetischen Variante eine höchst eigenartige Verbindung mit einer animistischen Naturreligion eingegangen ist, der BonReligion.7 Daher der okkulte Geschmack des tibetischen Buddhismus, den man sonst kaum in der buddhistischen Welt antrifft. Daß die Blavatsky, die Urmutter des Unsinns, ihre verquaste Rassenmystik auch mit angeblichen Reisen nach Tibet und dahergeraunten »tibetischen Mysterien« begründet hat, müßte eigentlich ein starker Hinweis darauf sein, daß hier, zumindest für Europäer, Abgründe lauern. Daß eine ganze Reihe ranghoher Nazis sich für Tibet begeisterte, und zwar unter Rückgriff auf eine militante Form genau dieser Blavatskyschen Rassenmystik, daß Himmler die Judenvernichtung mit der Behauptung rechtfertigte, die Juden würden eben für schlechte Taten in früheren Leben bestraft, daß jemand wie C. G. Jung, der zeitweise ein glühender Anhänger des Nationalsozialismus war, das tibetische Totenbuch kommentiert hat, von all dem wollen die tibetisch-buddhistischen Proselyten nichts wissen. Es müßte doch nachdenklich stimmen, wenn sich der Dalai Lama selbst über die tibetischen Mysterien sehr skeptisch äußert, während seine Bewunderer in Europa alles glauben, was ihnen unter dem Etikett »Tibet« untergejubelt wird. Wäre der Weihnachtsmann Tibeter, sie würden wieder an ihn glauben. Für sie ist Fakt und nicht Legende, daß sich »hohe« Lamas unsichtbar machen können. Das sind in Wahrheit religiös bemäntelte Allmachtsphantasien, die heute schon wieder durchaus politische Konsequenzen haben, wenn Neonazis Tibet für ihren eigenen Rassenokkultismus ausschlachten. Alles ist mißbrauchbar, aber es ist doch höchst merkwürdig, wie natürlich und harmonisch sich in der gegenwärtigen Tibetbegeisterung der rassistische Quark einer Blavatsky mit durchaus verständlicher Europamüdigkeit mischt. Schon hört man von esoterischen Veranstaltungen mit tibetischem Hintergrund, auf denen Flugblätter verteilt werden, die den Holocaust leugnen. Der Weltherrschaft müde, begeben sich die Europäer auf den langen Weg nach Tibet und begegnen dort ihren eigenen Schattenseiten in Form des Hakenkreuzes. Die anderen sparen sich den Umweg und gehen bei »germanischen Glaubensgemeinschaften« und ähnlichem Gesummse lieber gleich in die richtigen Startlöcher.