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Ein kalter Wind fuhr ihm unter die Jacke, als er über den Hügel kam, und Toppe vergrub fröstelnd die Hände in den Taschen.

Der Hof war ein Scherenschnitt im stahlgrauen Himmel. Das Küchenfenster dunkel, und auch im Flur brannte kein Licht. Die Hunde verbellten ihn, aber im Haus rührte sich nichts.

Toppe holte tief Luft. Der Klingelknopf war zugewuchert von wilder Clematis. Er drückte zweimal, aber es war nichts zu hören. Einen Augenblick noch wartete er, dann klopfte er hart gegen das Drahtglasfenster der Tür. Die Hunde waren außer Rand und Band.

Im Flur ging das Licht an, und Toppe sah eine durch das Glas verzerrte Gestalt auf sich zukommen. Der Schlüssel wurde gedreht.

Ewald Timmer sagte nichts, sah ihn an. Toppe zog den Plastikbeutel mit den Resten der Baskenmütze aus seiner Jackentasche, hielt ihn hoch, dicht vor Timmers Gesicht.

»Herr Timmer, Ihre Baskenmütze. Wir haben sie gefunden. Mit dem Abzeichen. Sie haben sie am Sonntag morgen gleich an Jansens Hintertür verloren.«

Timmers Augen flackerten kurz, dann senkte er den Kopf.

»Ja.« Es dauerte ein paar Sekunden, bis er wieder aufsah. »Nehmen Sie mich sofort mit?«

Toppe nickte.

»Ich sage meiner Frau Bescheid und hole meine Jacke.«

Die Haustür ließ er offen. Toppe kam in den Flur, hier zog es nicht so, und verstaute die Baskenmütze wieder in seiner Jackentasche.

Im Wohnzimmer hinten lief der Fernseher. Er hörte Timmers Stimme, knapp, abgehackt, dann wurde ein Schlüssel gedreht, und Frau Timmer schrie. Toppe lief los. Zwei Schritte. Vor ihm stand Timmer, in den Händen ein Gewehr mit kurzem Lauf.

Toppe schloß die Augen. Seine Dienstwaffe lag sicher verwahrt in seinem Schreibtisch, aber das war egal; er wußte, er hätte sie sowieso nicht gezogen.

»Raus«, knurrte Timmer, so leise, daß man es kaum hören konnte.

Toppe hob die Arme halb, die Handflächen Timmer zugewandt. »Herr Timmer, hören Sie doch auf. Es hat doch keinen Sinn.«

»Raus!« brüllte der Bauer und kam schnell zwei Schritte näher. »Raus, oder ich schieß dich übern Haufen!«

Toppe wich zurück, langsam.

»Sie wollten die Frau nicht töten, Herr Timmer, das weiß ich. Sie wollten ihr vielleicht eins auswischen, aber …«

»Schnauze! Ich will nichts hören. Ihr wollt mir alle mein Kind wegnehmen, aber das lasse ich nicht zu. Eher bring ich uns alle um. Runter von meinem Gehöft!« Sein Blick war auf Toppes Brust gerichtet.

Toppe stieß mit dem Rücken gegen den Türrahmen.

»Nein, Herr Timmer.« Er versuchte, seine Stimme zu kontrollieren. »Keiner will Ihnen Hanna wegnehmen.«

Timmer kam näher.

»Ich habe mit dem Jugendamt gesprochen. Sie dürfen Hanna behalten.«

Timmer versetzte ihm einen mächtigen Stoß gegen den Bauch, und Toppe flog in den Dreck vor der Haustür. Kies spritzte unter ihm weg. Timmer knallte die Tür und drehte den Schlüssel zweimal um.

»Frau Derksen!« schrie Toppe. »Rufen Sie Frau Derksen an!«

Die Hunde waren wie von Sinnen.

Zwei Lichtfinger zeigten in den Himmel, dann rollte van Appeldorns Wagen über die Kuppe.

Im Flur wurde es dunkel.

Toppe rappelte sich auf, aber Norbert van Appeldorn war schon neben ihm.

Zwanzig Sekunden später hatte er den Telefonhörer in der Hand und gab dem Diensthabenden seine Anweisungen.

»Und die sollen die Privatnummer von Frau Derksen rausfinden. Ich will, daß sie herkommt. Ihr wird er vielleicht glauben.« Toppe wippte unruhig auf und ab.

Van Appeldorn hielt ihm eine offene Packung Zigaretten hin. »Hier, rauch erst mal eine.« Er schirmte das Feuerzeug mit den Händen ab. Selbst im rötlichen Schein der Flamme sah Toppes Gesicht grau aus.

»Verflucht«, sagte er, »ich hab das verbockt.«

»Quatsch«, meinte van Appeldorn nur.

Sie hatten noch nicht aufgeraucht, als sie die ersten Sirenen hörten. Hinter dem Hügelkamm flackerte blaues Licht.

Scheinwerfer erfaßten die Haustür für den Bruchteil einer Sekunde nur, aber Toppe sah, daß Timmer immer noch hinter der Scheibe stand. Er machte unwillkürlich einen Schritt aufs Haus zu, drehte sich dann aber um, weil die Kette der Einsatzfahrzeuge, die auf den Hof rollte, nicht abriß. »Ja, was, um Gottes willen«, fuhr er van Appeldorn an. »Wen hattest du vorhin an der Strippe?«

»Look.«

»Himmel«, stöhnte Toppe und schloß die Augen. »Katastrophen-Willi. Der bringt es fertig und schickt noch die Hundestaffel.«

Er hatte es kaum ausgesprochen, da glitten am großen Wagen die Schiebetüren auf, und zwei junge Beamte sprangen heraus, jeder einen Schäferhund an der kurzen Leine.

»Ich werd bekloppt.« Toppe rannte ihnen entgegen, aber da kam auf einmal Flintrop aus dem Dunkel angeschossen – er mußte in einem der letzten Wagen gewesen sein.

»Weg!« brüllte er. »Weg! Zurück in die Karre mit den Biestern!«

Jetzt war Toppe da. »Lassen Sie die Hunde im Wagen.«

Die Beamten zögerten, sahen sich unsicher um.

»Ich bin hier der Einsatzleiter«, sagte Toppe, so ruhig, daß es einen schauderte.

Flintrop faßte ihn fest an der Schulter. »Herr Toppe. Der Ewald Timmer. Ich kenne den gut. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Lassen Sie mich mit ihm reden.«

Toppe sah ihm in die Augen. »Wissen Sie denn, worum es geht?«

»Er hat den Brand gelegt. Er hat sich verbarrikadiert und will eher seine Familie kaltmachen, als da rauskommen. Muß ich mehr wissen?«

»Ja«, antwortete Toppe schwer. »Hanna.«

Van Appeldorn hatte inzwischen das Chaos geglättet, dafür gesorgt, daß die Blaulichter abgeschaltet wurden und die Leute bei ihren Wagen blieben.

»Kommt Frau Derksen?« rief Toppe ihm zu.

»Die haben sie noch nicht erreicht.«

Flintrop wartete.

»In Ordnung«, sagte Toppe. »Versuchen Sie’s. Aber lassen Sie Ihre Waffe hier.«

»Blödsinn«, schnaubte Flintrop. »Ihr tut alle so, als war das hier ein Geiseldrama.« Aber er legte Toppe die Pistole in die Hand und ging dann mit schnellen Schritten zur Tür.

»Ewald.« Er sprach ziemlich leise. »Mach keinen Scheiß, Mensch, mach auf. Ich bin’s, Hubert Flintrop.«

Nichts.

»Jetzt hör endlich auf mit dem Mist, Jung. Ich komm alleine.«

Die Tür öffnete sich kurz, Flintrop verschwand im Flur, dann wurde wieder abgeschlossen.

In der Küche ging das Licht an. Toppe schlich um die Hausecke, aber da wurden schon mit einem Ruck die Vorhänge zugezogen. Hastig lehnte er sich mit dem Rücken flach an die Hauswand und wartete zwei, drei Minuten. Ein feiner Lichtstreifen fiel auf die Betonplatten unterm Fenster. Ein Spalt zwischen den Vorhängen. Toppe konnte die beiden Männer nicht sehen, nur ihre Hände auf dem Tisch. Dazwischen eine volle Schnapsflasche und zwei Wassergläser.

Er ging zurück zu van Appeldorn. Beide sahen auf die Uhr. Keiner sprach.

Nach zweiundvierzig Minuten sagte van Appeldorn:

»Werden diese verfluchten Köter eigentlich nie müde?«

Toppe zuckte die Achseln. Die Hunde sprangen immer noch geifernd gegen den Draht.

Leise ging er wieder zum Küchenfenster: ein Paar Hände auf dem Tisch, in der Flasche nur noch eine Pfütze.

Zurück neben van Appeldorn zählte er ungläubig noch einmal die Beamten durch: siebenundzwanzig Leute – zwei Hunde.

»Wenn ich Look zwischen die Finger kriege«, erriet van Appeldorn seine Gedanken. »Wie lange willst du warten?«

Toppe hob den Kopf.

Im Flur wurde es hell.

Er spürte den Ruck, der durch all die Leute ging, die bisher unbeweglich gewartet hatten. Langsam ging er auf die Tür zu, van Appeldorn schräg links direkt hinter ihm.

Flintrop hatte Timmer untergehakt. Der Mann schwankte, tappte auf den Hof hinaus, das Kinn auf der Brust.

»Selber fahren kann ich jetz’ aber nich’ mehr«, sagte Flintrop mit schwerer Zunge.

Van Appeldorn ließ die Handschellen zuschnappen, da wurde der ganze Hof plötzlich in gleißendes Licht getaucht. Sie standen wie vom Blitz getroffen.

»Ich glaub, et hackt«, lallte Flintrop und ließ sich prustend gegen die Wand fallen. »Dat SEK aus Düsseldorf!«

Als alles geregelt war und sie endlich aus dem Präsidium kamen, wurde es schon hell.

»Soll ich dich nach Hause bringen?« fragte van Appeldorn.

»Nein.« Toppe brauchte ein bißchen Zeit. Astrid hatte er angerufen, gleich nachdem Timmer gestanden hatte, selbst Heinrichs hatten sie aus dem Bett geklingelt. »Ich möchte zu Fuß gehen.«

Die Stadt lag in sonntäglicher Ruhe, nur die Vögel zwitscherten die Sonne heraus.

Astrid hatte nicht tief geschlafen, denn sie war schon im Flur, kaum daß er die Haustür hinter sich geschlossen hatte.

Lange standen sie da und hielten sich fest. Dann zog sie ihn mit ins Wohnzimmer, drückte ihn in den Sessel und holte den Whisky aus dem Schrank.

Er lächelte müde. »Andere Leute frühstücken um diese Zeit.«

»Wir nicht. Prost!« Sie beugte sich zu ihm hinunter, gab ihm sein Glas, und er sah, daß sie wirklich nur das T-Shirt trug.

In ihren Augen saß ein leiser Schalk. »Ich habe eine Überraschung.«

»Ja?«

»Gabi und ich haben uns überlegt, also wir finden, das schöne Haus, der Bauernhof, also, wir sollten zusammenziehen.«

Toppe ruckte so heftig herum, daß ihm der Whisky über die Finger schwappte. »Wie, zusammen? Wer?«

»Na, Gabi, die Jungs, du und ich«, lachte Astrid. »Wir beide wohnen unten, die anderen oben. Ist doch ganz einfach!«

»Das soll doch wohl nur ein blöder Witz sein!«

»Nein«, antwortete sie schlicht und ließ sich auf seinem Schoß nieder.