Für Helmut Toppe wurde es ein ruhiger Dienstag morgen. In der Frühe hatte Arend Bonhoeffer angerufen: er müsse sowieso nach Kleve und würde den Pathologiebericht von Heiderose Jansen gleich selbst vorbeibringen.
Toppe trank Kaffee, rauchte, las die Tageszeitung und wartete.
Warten, das taten sie im Grunde alle: sie warteten auf die Rückmeldung aus Krefeld, ob es sich wirklich um Brandstiftung handelte, sie warteten auf einen eindeutigen Hinweis, daß Jens Maywald tatsächlich in diesen illegalen Kinderhandel verwickelt war, sie warteten darauf, daß irgendeine Autowerkstatt anrief, in der ein roter Mercedes der C-Serie repariert wurde. Aber sie konnten ja schlecht die Beine hochlegen und Däumchen drehen.
Also hatten sich Heinrichs und van Appeldorn zu Heino Müller aufgemacht, um etwas über die Jansen herauszufinden und um Heinrichs’ Neugier zu befriedigen, was das für ein Verein war, in dem man sich öffentlich den Dreck um die Ohren schleuderte.
Astrid war zur Schreiberin des zweiten Leserbriefes gefahren, Frau Salzmann-Unkrig, die ja wohl mit der Jansen ein Hühnchen zu rupfen gehabt hatte.
Um halb zehn tickerte ein Fax aus Krefeld herein. Die Herren Brandexperten hatten doch zügiger gearbeitet als erwartet. Toppe kämpfte sich durch das Fachchinesisch. Brandstiftung, ganz ohne Zweifel. Der Täter hatte Dieselkraftstoff auf der Stufe vor der Hintertür ausgegossen, und ein großer Teil davon war unter der Tür hindurch in den Flur geflossen. In Brand gesetzt hatte er den Kraftstoff mit Hilfe eines Lappens (Baumwolle), der mit Nitrobenzol getränkt war. Netterweise hatten die Krefelder hinzugefügt, daß man Nitrobenzol in Form von Nitroverdünnung in jedem Malergeschäft kaufen könne.
Um Hinweise auf den Täter, eventuelle Spuren am Tatort hatten sich die Experten natürlich nicht gekümmert. Der Erkennungsdienst mußte raus, und das möglichst sofort.
Berns freute sich, Toppes Stimme zu hören. »Der Herr Hauptkommissar, wie reizend! Sofort? Also das tut mir jetzt aber leid, wir sind bis oben zu mit Arbeit.«
Toppe blieb dienstlich.
»Wissen Sie eigentlich, wieviele Abteilungen es in diesem Hause gibt, Herr Toppe? Soweit ich informiert bin, ist der ED kein Sonderkommando vom K 1, oder sehe ich das falsch?«
Toppe ließ sich auf gar nichts ein. »Geben Sie mir van Gemmern.«
»Der kann auch nicht. Den brauche ich hier.«
»Geben Sie mir van Gemmern!«
»Wie Sie wünschen. Es kann aber dauern, der ist mitten in einer Analyse.«
»Ich warte.« Er klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr und zündete sich eine neue Eckstein an.
Bonhoeffer lugte fragend um die Ecke.
»Komm rein, ich bin gleich fertig.«
Bonhoeffer kam auf Zehenspitzen näher, stellte eine schwarze Ledertasche auf dem Stuhl ab und legte Toppe den Bericht auf den Schreibtisch.
Toppe las was von thermischen Oberflächendefekten, Inhalationsintoxikation, Pyrolysetoxinen und schob die Blätter sofort wieder weg.
»Setz dich doch. Herrgott, wieso dauert das so lange?«
Dann legte er die Hand über die Muschel. »Was hast du denn in diesem Hebammenkoffer?«
Bonhoeffer griente spitzbübisch und holte erst eine blaue Thermoskanne heraus, zwei Gläser und dann eine Flasche Calvados.
Toppe lachte laut. Dieser Calvados war zu einem Ritual geworden. Oft genug mußte Toppe bei Leichenöffnungen anwesend sein, und dabei wurde ihm regelmäßig übel. Bonhoeffer ließ ihn meistens in der hintersten Ecke der Prosektur sitzen und tröstete ihn, wenn die Sektion vorbei war, immer mit einem Calvados.
»Na endlich, van Gemmern!«
»Wieso? Warten Sie schon lange?«
»Ach, egal.« Toppe hatte einfach keine Lust sich aufzuregen. Er erklärte van Gemmern, was los war, und beobachtete dabei, wie Bonhoeffer aus der Thermoskanne zerstoßenes Eis in die Gläser gab, bevor er den Calvados einschenkte.
»Alles klar«, meinte van Gemmern. »Die Adresse hab ich notiert. Vor heute abend werde ich es nicht schaffen, aber es ist ja lange hell.«
Toppe hob sein Glas. »Prost, Arend!«
»Prost, mein Jung!«
Sie waren seit Jahren befreundet, und auch wenn sie sich nur selten sahen, verstanden sie sich doch, ohne viele Worte machen zu müssen.
»Den kannst du gebrauchen. Kommt ja ganz schön dicke bei dir in den letzten Wochen.«
Toppe nickte nur und hielt das Glas gegen das Licht. Der Calvados schimmerte goldgelb.
»Was ist mit Breitenegger? Habt ihr da schon was?«
»Keine Spur. Wir wissen, daß es ein roter Mercedes war, das ist alles. Wir wissen nicht, ob der Unfall was mit diesem Kinderhandel zu tun hatte. Und ob Günther zufällig da war oder ob er einen Tip gekriegt hat, kann uns auch kein Mensch sagen.«
Bonhoeffer goß noch mal nach. »Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß Breitenegger auf eigene Faust ermittelt hat. Den kriegten doch keine zehn Pferde hinter seinem Schreibtisch hervor.«
»Stimmt schon. Er hatte an dem Tag frei, und seine Frau sagt, daß er nur kurz mal Spazierengehen wollte.«
»Und? Wie werdet ihr fertig mit der ganzen Geschichte?«
Toppe lehnte den Kopf zurück und rieb sich die Schläfen mit den Handballen. »Gar nicht. So richtig kapiert hab ich das immer noch nicht, daß er tot ist, geschweige denn verdaut. Wie auch? Es ist doch seitdem in einer Tour weitergegangen.«
Er erzählte Bonhoeffer, was sie inzwischen über die beiden Säuglinge wußten, daß der Fahrer des Wagens in Amsterdam ermordet worden war und daß es ganz so aussah, als habe INTERKIDS etwas damit zu tun. »Zumindest der Geschäftsführer, ein gewisser Maywald, aber auch das haben wir noch nicht sicher. Die Holländer wissen wohl eine ganze Menge mehr als wir, bloß bis jetzt halten die damit hinterm Berg. Weiß der Teufel, was das soll. Ich zumindest komme mir ziemlich dämlich vor bei dieser Klein-klein-Ermittlerei, wenn ich den Hintergrund und die Zusammenhänge nicht kenne.«
»Hm, versteh ich. Willst du denn jetzt was über die Brandleiche hören?«
»Das ist auch so was«, nickte Toppe. »Irgendwie gibt es eine Verbindung zwischen den drei Fällen, oder zumindest scheint es so. An Günthers Unfallort die toten Kinder, die uns zu INTERKIDS und Maywald führen. Und jetzt stellt sich raus, daß die Frau, die verbrannt ist, auch was mit diesem Verein und Maywald zu tun hatte.« Er richtete sich auf. »Was hilft’s? Ich hör jetzt auf zu jammern. Schieß los.«
Heiderose Jansen war an einer CO-Vergiftung gestorben, Kohlenmonoxid, quasi in ihrem Bett erstickt. »Daß die von dem Feuer nichts mitgekriegt hat, ist nicht weiter verwunderlich. Die Dame hatte nämlich ganz schön gebechert: 1,6 Promille. Rotwein war’s, mehr als ein Liter.«
Toppe sah ihn nachdenklich an. »Gebechert, Rotwein.
Vielleicht hatte sie ja Besuch.«
Bonhoeffer drehte die Handflächen nach oben.
»Da wollte doch ein Mann bei ihr einziehen«, murmelte Toppe und war schon dabei, die Nummer vom Labor zu wählen.
»Van Gemmern? Glück muß man haben. Hören Sie mal, die Frau hatte Wein getrunken, eine ziemliche Menge. Vielleicht finden Sie ja die Flaschen, aber vor allem, gucken Sie mal, wieviele benutzte Gläser da sind. Falls man so was noch feststellen kann.«
Astrid kam als erste zurück, so eifrig, daß sie ihn nicht, wie sonst, wenn keiner im Büro war, erst einmal küßte.
»Diese Salzmann-Unkrig, das ist vielleicht eine aufgeblasene Pute! Und so richtig katzenfreundlich. Genau der Typ Frau, den ich liebe. Also, erst einmal sind sie und ein paar andere gestern abend aus der MEILE ausgetreten und haben einen neuen Verein, einen sogenannten Trägerverein gegründet, weil die nämlich was Größeres vorhaben.«
Sie erklärte ihm, was es mit der UNICEF-Schule auf sich hatte. »Das scheint der Salzmann-Unkrig unheimlich wichtig zu sein, hatte ich den Eindruck. Zu Heiderose Jansen konnte ich ihr nicht viel entlocken, nur daß … warte mal, das hab ich mitgeschrieben …« Sie suchte auf ihrem Block.
Astrid kam oft mit dem genauen Wortlaut, weil sie als einzige im K 1 noch Steno konnte. »Ach ja, hier: ’Heidi Jansen war eher basisdemokratisch orientiert und manchmal ein wenig verbissen in ihren Ansichten. Es hat ein paar Mißverständnisse gegeben, weil sie die Entwicklung des Vereins, meiner Meinung nach, falsch interpretiert hat.’ Ich wollte wissen, was das bedeutet, aber da ließ sie sich auf gar nichts ein, meinte nur, das sei ja alles Schnee von gestern, denn man habe sich ja nun von der MEILE getrennt, damit die Schule schnell gebaut werden könne. Das war mir dann alles doch ein bißchen zu konfus und zu dünn. Mein Vater ist ja in der CDU, und ein Parteifreund von ihm sitzt im Schulausschuß. Zu dem bin ich dann gefahren. Also, diese UNICEF-Schule scheint ein ziemliches Prestigeobjekt zu sein für eine ganze Reihe von Leuten, besonders wohl für die Salzmann-Unkrig und diesen Heino Müller. Sogar die Stadt hat sich da ordentlich mit reingehängt. Ich kenne mich ja mit Vereinen überhaupt nicht aus, aber so wie ich das verstanden habe, war Heiderose Jansen dagegen, daß MEILE diese Schule gründet, und sie hatte wohl auch schon eine ganze Menge Leute auf ihre Seite gezogen und war auf dem besten Weg, das Projekt zu verhindern. Die Stadt zum Beispiel war nämlich überhaupt nicht begeistert, als die Querelen öffentlich ausgetragen wurden. Außerdem gibt es ein paar Sponsoren, von denen die Schulgründung abhängt, und die kriegen wohl auch schon kalte Füße. Deshalb haben die jetzt ganz schnell diesen Trägerverein gegründet, über den sie das Projekt UNICEF abwickeln wollen.«
»Und was ist mit INTERKIDS?«
»Was meinst du? Vereinstechnisch? Die gehören wohl noch zur MEILE.«
»Nein, das ist mir egal. Was hat die Salzmann-Unkrig zu der Anschuldigung gesagt, es würden Profite erwirtschaftet?«
»Wenig. Sie sei nicht im Vorstand und habe auch überhaupt keine Ahnung vom Geschäftlichen. Ihres Wissens nach würden kleine Profite erwirtschaftet, die für wohltätige Zwecke verwendet würden.«
»Hast du sie gefragt, wo sie am Sonntag morgen zwischen halb fünf und sechs war?«
»Nein.« antwortete Astrid gedehnt.
»Es ist nämlich Brandstiftung gewesen.«
Van Appeldorn war mit seiner direkten Art bei Heino Müller gerade an den richtigen geraten. Der wollte sich noch einmal in aller Breite über die »Beschlagnahmung« der INTERKIDS-Bücher auslassen. Van Appeldorns »Was regen Sie sich eigentlich so auf?« hatte die Dinge nicht gerade vorangetrieben, aber schließlich war Müller doch mit einer Vorstands- und einer Mitgliederliste herausgerückt, allerdings nicht ohne die Bemerkung, sie mögen ihn nicht weiter behelligen, er habe nämlich sein Amt gestern zur Verfügung gestellt. Es war Heinrichs zu verdanken, daß er ihnen dann doch noch was erzählte. Die Informationen über die Schule und den Ärger im Verein deckten sich mit dem, was Astrid auch schon gehört hatte. Müller machte allerdings keinen Hehl daraus, daß er eine Stinkwut auf Heidi Jansen hatte und sie für ausgesprochen dämlich hielt.
»Dann haben wir ja jetzt einiges zu tun«, meinte Toppe und nahm Kuli und Papier, um einen vorläufigen Plan für die nächsten Tage zu machen.
»Och nee«, maulte Heinrichs. »Können wir das nicht in der Kantine besprechen? Ich komme um vor Hunger.«
Die Kantine war zwar seit der Renovierung gemütlicher geworden – man hatte Holzboden verlegt und statt der orangefarbenen Resopaltische Kiefernmöbel reingestellt – der Koch jedoch war derselbe geblieben, und die Qualität des Essens war nach wie vor abhängig von seiner Tagesform. Heute mußte er strahlender Laune sein: das Wiener Schnitzel war zart, die Bratkartoffeln kroß, und selbst die Erbsen waren als solche zu identifizieren. Heinrichs hatte ganz schön mit sich zu kämpfen, daß er sich nicht noch eine zweite Portion holte.
Toppe knüllte seine Serviette zusammen und warf Astrid einen finsteren Blick zu. Sie hatte ihn während des Essens kein einziges Mal angesehen. Was hatte er denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Er spürte, wie vom Nacken her der Kopfschmerz hochkroch. Auf Knatsch zu Hause und fruchtlose Diskussionen über die Tiefe seiner Gefühle und ihre gemeinsame Zukunft konnte er im Moment wahrhaftig verzichten. Hier ging doch sowieso schon alles drunter und drüber.
»Um wieviel Uhr kommt Frau Peters?« fragte er van Appeldorn.
»Um drei.«
»Dann übernehmt ihr die, und ich fahre in die Hamstraße und klappere die Nachbarn ab. Möglicherweise hat ja doch irgendeiner was beobachtet.«
»Sonntag morgens um fünf?« meinte Heinrichs zweifelnd.
»Du hast natürlich recht, aber soll ich es deshalb bleiben lassen?« gab Toppe gereizt zurück.
Heinrichs zog den Kopf ein. »Bitte nicht schlagen!« grinste er.
Toppe sah weg.
»Und ich?« fragte Astrid. »Soll ich meinen Bericht schreiben, oder was?«
»Ja«, erwiderte er knapp. »Und bleib im Büro. Kann sein, daß Ackermann gleich kommt.«