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»Mußten Sie so grob sein zu der Frau?« fuhr Astrid ihn an, kaum daß sie zur Tür hinaus waren.

Van Appeldorn verzog das Gesicht. »Ach, kommt jetzt wieder der übliche Sermon, von wegen so zynisch wie ich wollen Sie nie werden, eher den Job schmeißen?«

»Ist doch wahr! Ehrliche Menschen scheint es in Ihrer Vorstellungswelt nicht zu geben.«

»Oh, nein, bitte nicht, bitte nicht das schon wieder! Wissen Sie was, unten bei Piva gibt’s leckeren Eiskaffee. Ich lade Sie ein.«

Astrid sah verblüfft zu ihm hoch, aber sein Gesicht war undurchdringlich wie immer.

Sie ließen das Auto stehen und gingen am Kermisdahl entlang in die Stadt.

Van Appeldorn schlackste so locker wie möglich, aber Astrid bemerkte es trotzdem. »Sie humpeln ja!«

»Nicht der Rede wert. Beim Training neulich, halb so schlimm.«

Sie fanden einen freien Tisch im Schatten.

»Ich sehe das einfach anders als Sie. Ich bin kein Seelsorger, ich bin Polizist. Meine Aufgabe ist es, was aus den Leuten rauszukriegen«, nahm van Appeldorn den Faden wieder auf.

»Das geht auch auf andere Weise.«

»Mag sein, aber ich bin sicher, daß die Leute durch mich auch keinen irreparablen seelischen Schaden davontragen.«

Die Kellnerin brachte den Kaffee, und van Appeldorn bezahlte gleich. Astrid steckte den Strohhalm in den Becher, trank einen kleinen Schluck. »Ich käme mir mies vor, wenn ich jemanden so behandeln würde.«

»Ich nicht.«

Sie gab es auf. Sie würden sich nie verstehen. Immerhin hatten sie es diesmal beide geschafft, sich nicht unter der Gürtellinie zu treffen, und das war wahrhaftig ein Fortschritt.

»Danke für den Kaffee.«

»Gern geschehen.« Er lächelte, und dann sprach er genau das aus, was ihr gerade durch den Kopf ging. »Wissen Sie, wir müssen uns ja nicht unbedingt lieben, Frau Kollegin.«

Sie lachte leise und nickte. »Also gut. Nach allem, was Frau Versteyl gesagt hat, ist es durchaus möglich, daß die Jansen etwas in den INTERKIDS-Papieren entdeckt hat, was sie stutzig machte.«

Van Appeldorn, den ganzen Mund voll Schlagsahne, wiegte den Kopf. »Die Anzahlungen der Eltern für die bulgarischen Kinder hat Maywald sicher erst nachgetragen, nachdem er wußte, daß die Kinder tot waren, und wir ihm auf den Zahn gefühlt hatten«, sagte er dann. »Aber vielleicht hat sie was anderes gefunden. Notizen, Telefonnummern, Adressen.«

»Und als das mit den toten Kindern durch die gesamte Presse ging, hat sie zwei und zwei zusammengezählt und Maywald unter Druck gesetzt.«

»Ist zumindest nicht auszuschließen. Auf alle Fälle sollten wir uns anhören, wo der ehrenwerte Herr Maywald zur Tatzeit gesteckt hat. Und zwar sofort. Der dürfte im Moment noch ganz schön von der Rolle sein, und da werden ihm so schnell keine neuen Märchen einfallen.«

Maywald öffnete ihnen die Tür, zeigte nicht die geringste Überraschung, ließ sie wortlos vorausgehen ins Wohnzimmer. Sie platzten mitten in die Familienkrise. Auf dem Sofa saß ein kleines Mädchen, das einen Berg Kissen auf seinem Schoß gestapelt hatte, neben ihm Frau Maywald, eine verhuschte Maus; die rotgeränderten Augen ließen ihr Gesicht noch blasser aussehen. Auch sie zeigte kein Erstaunen, als Astrid und van Appeldorn hereinkamen, sah sie ohne Ausdruck an.

Astrid unterdrückte ein Seufzen. Wenn es stimmte, was Maywald gesagt hatte, dann hatte seine Frau bis heute nicht einmal etwas von seinen Schulden gewußt, geschweige denn von allem anderen.

Als van Appeldorn sich vorstellte, stand die Frau auf, nahm das Kind an die Hand und zog es mit.

»Nein«, rief van Appeldorn, »bleiben Sie bitte hier, Frau Maywald.«

Sie blieb steif stehen. »Aber das Kind kann doch gehen?«

Ihre Stimme war trocken. »Lauf in den Garten, Sabine, geh ein bißchen schaukeln«, flüsterte sie.

Astrid wartete, bis die Tür sich hinter dem Mädchen geschlossen hatte. »Herr Maywald, wo waren Sie am Sonntag morgen zwischen vier und sechs Uhr?«

Er stierte sie an, vollkommen perplex. »Ich war im Bett.«

Aber dann begriff er, warum sie fragte, und seine ganze mühsam unterdrückte Wut entlud sich in einem wilden Gebrüll. Sie konnten ihn kaum verstehen, nur Bruchstücke wie »Leben ruiniert«, »meine Familie«, »mir nicht anhängen«, wüste Beschimpfungen.

Van Appeldorn trat auf ihn zu, ganz nah. »Es reicht«, sagte er, nicht einmal besonders laut.

Maywald schwieg, sah auf van Appeldorns Schuhe.

»Haben Sie ein gemeinsames Schlafzimmer, Frau Maywald?« fragte Astrid.

»Ja.«

»Kann ich es sehen?«

»Ja.«

Die Frau wußte ganz offensichtlich nicht, warum sie danach fragten. Sie ging voraus durch die Diele und öffnete eine Tür. Im Schlafzimmer war es kühl und dämmerig; die Rolladen waren halb geschlossen, um die Nachmittagssonne auszusperren; ein Kleiderschrank, eine Kommode, ein Doppelbett.

»Hat Ihr Mann die Nacht von Samstag auf Sonntag hier mit Ihnen im Bett verbracht?«

»Ja.«

»Die ganze Nacht?«

»Ja.« Man konnte das Fragezeichen hören.

»Hätten Sie es denn gemerkt, wenn er aufgestanden wäre?«

Maywald stand neben van Appeldorn im Türrahmen.

»Natürlich hätte ich das gemerkt. Warum sollte er aufstehen?« Sie sah Astrid an, die Pupillen weit in dem Schummerlicht. »Ich verstehe das alles nicht.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Ich kann es nicht glauben. Diese Kinder, sie waren noch so klein, und sie sind so jämmerlich.« Sie brach schluchzend ab.

»Aber ich habe keine Schuld!« schrie Maywald.

»Und ich habe keinen Durchsuchungsbeschluß«, meinte van Appeldorn kühl. »Können wir uns trotzdem ein wenig umsehen?«

»Sehen Sie sich um«, sagte Maywald. »Sehen Sie sich um, bis Ihnen die Augen aus dem Kopf fallen, aber lassen Sie uns endlich in Ruhe.«

Van Appeldorn ging in den Keller – Gasheizung, kein Öl – schaute in jeden Raum, jedes Regal, jeden Schrank, dann in die Abstellkammer neben der Küche. Auch unter der Spüle, im Topfschrank, nichts.

Astrid ließ sich die Garage aufschließen. Der BMW war ein Benziner und das einzige Auto der Familie. An der Rückwand der Garage ein offenes Regal mit Farbeimern und Lackdosen, Autowaschzeug. Sie entdeckte eine Büchse Pinselklar. War das Nitroverdünnung? Aus dem Handschuhfach in van Appeldorns Wagen holte sie einen Plastikbeutel, packte die Dose vorsichtig ein und nahm sie mit.

Heinrichs sah ganz zufrieden aus, als Toppe ins Präsidium zurückkam. »Du bist früher, als ich dachte. Was ist denn nun mit dem Exmann?«

Toppe hängte seine Jacke über die Stuhllehne. »Er hat kein Alibi. Er hat ein wunderbares Motiv. Aber er war es trotzdem nicht, wenn du mich fragst. Was hast du rausgefunden?«

Bei Bärbel Peters, die er aus dem Unterricht hatte holen lassen, hatte Heinrichs kein Glück gehabt. Sie wußte angeblich nicht, daß jemand bei Heidi Jansen hatte einziehen wollen, versprach aber, sich im Verein und auch sonst umzuhören.

»Ich habe den Namen des Mannes aber trotzdem rausgekriegt«, rieb Heinrichs sich die Hände. »Durch Zufall.«

Er hatte mit Heiderose Jansens Eltern telefoniert und auch mit Kassandra gesprochen. »Ein ganz vernünftiges Kind. Wie alt ist die, hast du gesagt?«

»Zehn, glaube ich.«

»Redet wie eine Dreißigjährige. Der Mann heißt Martin Klinger, wohnt auf der Horionstraße in Hau. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Kassandra sagt, sie kennt ihn schon seit Ewigkeiten, weil nämlich das Ehepaar Klinger mit der Jansen befreundet war, und auch die Kinder haben oft miteinander gespielt. Im letzten Sommer waren sie sogar zusammen im Urlaub auf Ameland. Ich habe den Mann herbestellt, müßte eigentlich schon hier sein. Ich wußte ja nicht, wann du zurück bist, und da hätte ich ja schon mal mit ihm sprechen können.«

»Hat der sich nicht gewundert?«

»Ich habe nur mit seiner Frau gesprochen. Der war auf der Arbeit, Krankenpfleger. Hat aber um zwei Dienstschluß. Sie wollte ihn dann sofort schicken.«

Toppe streckte sich. »Gut, warten wir also.«

»Bei der Rekonstruktion der letzten Stunden vor Jansens Tod gibt es fast nur blinde Flecken. Um halb vier ist sie mit ihren Kindern bei ihren Eltern in Rees angekommen, hat dann da noch Kaffee getrunken und ist so gegen fünf wieder abgefahren. Sie wollte das Spielzimmer der Kinder ausräumen, damit Klinger Platz für seine Klamotten hatte. Der wollte noch am selben Abend einziehen.«

Das Telefon schellte. Es war van Gemmern. »Herr Toppe? Ich bin jetzt durch an der Hamstraße. Könnten Sie hochkommen ins Labor? Ich habe einiges zusammengetragen.«

»Kommst du mit hoch, Walter?« Toppe war schon halb im Gehen.

Es klopfte, und die Tür wurde geöffnet. »Guten Tag. Sie wollten mich sprechen?«

Martin Klinger, blondes, lichtes Haar, eine dünne Nickelbrille. Er war älter, als Toppe gedacht hatte, sicher Ende Vierzig.

»Herr Klinger? Vielen Dank, daß Sie gekommen sind.«

Auch Toppes Stimme war geschäftsmäßig. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, ein paar Minuten hier zu warten?«

Er deutete auf die triste Stuhlreihe an der Flurwand. »Es wird nicht lange dauern.«

»Kein Problem«, nickte der Mann freundlich.

Berns Maulerei über den »bestialischen Gestank« schlug ihnen wesentlich lauter entgegen als der teerige Brandgeruch. Heinrichs riß sich weiß Gott nicht um »klare Worte«, womöglich noch weniger als Toppe, aber jetzt hatte er genug. »Paul, kannst du mal kommen, bitte?«

»Wieso? Willst du mich jetzt auch noch zusammenscheißen? Danke, kein Bedarf!« Damit stürmte Berns hinaus.

Van Gemmerns einzige Reaktion auf die Szene war ein kleines Zucken im Mundwinkel.

Sachlich erstattete er Bericht: sechs leere Weinflaschen hatte er gefunden, vier davon in der Küche, zwei im Wohnzimmer, dort auch, in der Nähe der Flaschen, ein Glas. Er zeigte es ihnen, ein kleines Wasserglas, von einem schwarzen Fettfilm überzogen.

»Nichts deutet auf eine zweite Person hin«, sagte er.

Weder Nitroverdünnung noch Öl oder Benzin hatte er im Haus entdeckt. »Nur ein paar Pötte Ökofarbe, da wo es zum Keller runtergeht.«

»Auch nicht draußen irgendwo?« fragte Toppe.

Van Gemmern schüttelte den Kopf, nahm eine lange Pinzette und hob ein stinkendes, schwarzes, schlammiges Etwas hoch. »Aber das hier lag gleich neben der Stufe vor der Hintertür.«

»Was soll das denn sein?« Heinrichs rümpfte die Nase.

»Ich mußte mir das auch erstmal gründlicher ansehen«, nickte van Gemmern. »Das ist eine Baskenmütze. Könnte wichtig sein, oder? Gleich an der Stelle, wo das Initialfeuer war.«

»Brandexperten!« schnaubte Toppe und sah sich das Ding genauer an. »Was ist das denn da?«

Van Gemmern drehte die Mütze. »Habe ich auch schon dran rumgedoktert. Irgendeine Plakette, ein Abzeichen, aber es ist so zusammengeschmolzen, daß ich es beim besten Willen nicht identifizieren kann. Ich schicke die Mütze heute noch zum LKA. Vielleicht haben die mehr Glück.«

Er warf Toppe einen knappen Blick zu. »Hadern Sie nicht allzu sehr mit den Brandexperten. Wenn ich an der Stelle nicht ausgerutscht wäre und mit meinem Schuh den Schlamm weggeschoben hätte, läge die Mütze da jetzt noch begraben.«