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»Wollen wir nicht Schluß machen, Karin?«
Unter dem Segeltuchdach des kleinen Marktstandes – der freundlichen Leihgabe eines Gärtners aus Reichswalde – stand die Luft, dick und feucht. Die beiden Frauen fühlten sich alles andere als frisch. Seit viereinhalb Stunden verteilten sie am MEILE-Stand in der Kavarinerstraße Infomaterial und Anmeldeformulare. In unregelmäßigen Abständen präsentierte sich der Verein den Bürgern der Stadt. Heute baumelte eine enorme Vergrößerung des Times-Artikels mit dem Foto von Frau Salzmann-Unkrig vom Dach des Standes.
»Noch zwanzig Minuten, Liz.« Auch Karins Lächeln war inzwischen nur noch gemeißelt, und die Gespräche mit interessierten Passanten klangen auch in ihren eigenen Ohren geleiert und falsch. »Dann kommt Rainer und hilft uns einpacken.« Sie bückte sich, zog eine halbvolle Flasche Mineralwasser aus einem Korb und hielt sie fragend hoch.
»Du auch noch?«
Liz schüttelte angewidert den Kopf. »Das schale, lauwarme Zeug! Ich träume inzwischen von einem kühlen Bier.«
Karin lächelte säuerlich und goß sich das Wasser in den mitgebrachten Steingutbecher. »Alkohol, um diese Zeit! Der würde mich glatt umhauen.« Sie trank die Tasse in einem Zug leer. »Hat Heidi dich eigentlich auch schon angerufen?«
Liz drückte – ausgewähltes Betroffenheitsgesicht – einer staksigen Blondine mit Rieseldauerwelle, die nicht schnell genug ausweichen konnte, fünf Infoblätter in die Hand und drehte sich dann um. »Wegen dem Mißtrauensantrag? Die war gestern abend bei uns, und ich hab auch schon unterschrieben.«
»Echt?«
»Die hat doch völlig recht!« Liz schickte Salzmann-Unkrig und den Schokokindern einen niederschmetternden Blick. »Oder hast du diese Tussi schon mal am Stand gesehen?«
»Nö«, antwortete Karin. »Weißt du übrigens, daß Martin jetzt bei Heiderose einzieht?«
»Bei Heidi? Martin Klinger?« Liz ließ die Infoblätter auf den Tisch fallen. »Das gibt’s doch nicht!«
Karin verlor ein gelangweiltes Lächeln. »Wundert dich das? Martin und Anita trennen sich doch alle sechs Wochen.«
»Klar, weiß ich … Der kann doch nicht bei Heidi einziehen! Normalerweise wohnt der doch dann immer bei seinem Bruder.«
»Ich weiß. Oder die Anita geht zu ihrem Vater. Wenn die das rauskriegt, dann knallt’s aber, das kann ich dir sagen! Das war dann aber die letzte Trennung, glaub mir.«
Liz staunte noch immer stumm vor sich hin, als Karin anfing, die Kartons mit den Infoblättern zu verschließen. Die Tesafilmrolle zwischen den Zähnen, murmelte sie:
»Heidi hat ja wohl sowieso eine Vorliebe für abgelegte oder vorübergehend gefallene Ehemänner.«
»Wieso?«
»Na, hör mal! Klaus hat bei ihr gewohnt, bevor er zu Anne zurück ist, und der Wilfried war sogar mit seinen drei Kindern bei ihr, fast ein halbes Jahr.«
»Komm, du glaubst doch nicht …«
»Wer weiß? Könnte doch sein, die braucht so was, oder …?«
Toppe saß auf seinem Balkon und grübelte dumpf. Es war fast zehn, und das schwindende Licht paßte sehr genau zu seiner Stimmung. Breitenegger war nicht mal fünfzehn Jahre älter gewesen als er, sein Tod machte keinen Sinn. Na ja, gut, Tod war wohl immer sinnlos. Was war mit dem Leben? Er schaute zu Astrid hinüber, die ihm gegenüber saß, die Füße auf einem zweiten Stuhl, und die Tageszeitung las.
Er schlitterte schon wieder hinein. Oder war das nicht so? Da hatte er es geschafft, aus diesem trüben Leben herauszukommen, diesem Leben, in dem er sich selbst nicht mehr wahrgenommen hatte. Nicht weil Gabi so unerträglich war. Er hatte nur plötzlich gewußt, sie hatten es beide gewußt, daß das nicht das Leben sein konnte, das gemeint war, oder?
Sein Blick glitt über Astrids glatte, braune Beine. Sie hatte gebadet, ihr Haar war noch feucht und kraus, und sie trug nur ein halb transparentes schwarzes Hemd mit Goldsprenkeln. Er konnte ihre dunkle Scham sehen.
Nein, es war nicht nur Erotik. Aber was hieß da »nur«? Es war nicht nur Begehren, die Leidenschaft, die sie beide empfanden. Die Wellenlänge stimmte, sie fühlten, dachten fast immer in die gleiche Richtung, und der Altersunterschied machte dabei wenig aus. Manchmal, wenn es um Filme und Musik ging, um die Erinnerungen daran, an die ersten Momente, politische Ereignisse. Aber es gab kein Ungleichgewicht. Sie war nie das wißbegierige Mädchen, er nicht der souveräne Lehrmeister. Sie wußte verdammt genau um sich selbst, und so wie es aussah, hatte sie sich bewußt für ihn entschieden. Der Punkt war nur: er hatte sich nicht entschieden. Er hatte nicht nachgedacht, abgewogen und dann gesagt: ich will. Und jetzt auch noch ein Kind. Ein Baby, neu Vater sein, mit all dem, was er inzwischen wußte, gelebt hatte? Kleine intakte Familie!
Finster starrte er auf die Betonwand zum Nachbarbalkon.
Astrid legte langsam die Zeitung auf den Boden und sah ihm ins Gesicht.
»Ich hab dir das heute morgen schon gesagt, es muß nicht sein mit dem Kind. Nicht jetzt sofort. Ich bin dir zu schnell, nicht wahr?«
Er schüttelte automatisch den Kopf, schaute über das Balkongitter in die Ferne, die es nicht gab, und schwieg.
Sie nahm die Beine vom Stuhl und setzte die Füße sorgfältig nebeneinander.
»Du weißt, daß ich jederzeit zurück kann in meine alte Wohnung. Wenn du willst, bin ich morgen weg.«
»Nein.« Er glitt vom Stuhl, umfaßte ihre Schenkel, war nur traurig.
Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf. »Ich liebe dich.«
»Ja. Es ist nur.«
»Ich weiß.«
»Nein, ich will mit dir leben, aber. Laß uns eine größere Wohnung finden. Ich hab das Gefühl, ich brauche einfach mehr Luft.«
»Ich gucke dauernd in die Zeitung, Helmut, aber bis jetzt war da nichts. Sollen wir einen Makler einschalten?«
»Ja.« Er stand auf. »Soll ich das übernehmen?«
»Nein«, lächelte sie. »Laß mich das tun, mir macht so was Spaß.«
Er lehnte unschlüssig am Balkongitter.
Sie grinste. »Also, ich bleibe noch eine ganze Weile hier sitzen und lese.«
»Dann geh ich schon mal rein und höre ein bißchen Musik.«
»Gut.« Sie meinte es so.
Van Appeldorns Feierabend begann unbequem.
»Du glaubst doch wohl nicht, daß ich die ganze Strecke allein fahre, mit zwei Kindern hinten im Auto!«
Marion wühlte die Hände durchs Haar, bis ihr die Hennazotteln wirr vom Kopf abstanden.
Sie hatten für vierzehn Tage ein Ferienhaus in Dänemark gemietet und am Freitag losfahren wollen.
Van Appeldorn zuckte die Achseln und schlappte in die Küche. Sie kam gleich hinterhergeschossen. »Helmut und Astrid sind doch jetzt da, und Ackermann auch!«
Er öffnete den Kühlschrank, aber es war kein Bier da.
»Wenn du glaubst, ich hocke mutterseelenallein mit den Kindern in so ’ner Ferienbude mitten in den Dünen! Was soll das mit Urlaub zu tun haben? Da kann ich doch besser zu Hause bleiben.«
»Du könntest ja eine Freundin mitnehmen.«
»Eine Freundin?« Ihre Stimme kippte. »Welche Freundin?«
Er zog sein Portemonnaie aus der Tasche, zählte die Scheine, steckte es wieder weg und ging durch den Flur auf die Haustür zu.
»Das ist ja wohl typisch!« brüllte sie. »Wenn man mal mit dir reden will, wenn’s mal Probleme gibt …«
Im Kurfürsten stand die übliche Truppe am Tresen, nickte grüßend, nicht überschwenglich. Die ersten drei Bier kippte van Appeldorn schweigend auf Ex, die nächsten beiden auch nicht wesentlich langsamer. Dann stand er auf, nahm das frische Bier, hielt es in der typischen Art, das Handgelenk nach innen gewinkelt, so als müsse er das Glas schützen oder verstecken, und ging zum Spielautomaten.
»Hee«, rief einer der Thekenhocker ihm nach. »Scheint dir ganz schön an die Nieren zu gehen, der Tod von deinem Kollegen, wa?«
»Kann man wohl sagen«, nickte van Appeldorn dem Spielautomaten zu.