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Der Makler, den ihr Vater empfohlen hatte, war ihr schon auf den ersten Blick unangenehm, Ende Fünfzig, sonnenbankfarben, und die Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen war irritierend. Sie hatte immer schon, zu ihrer Schande, Probleme gehabt, Leute mit diesem Manko wirklich ernstzunehmen. Er sprach sie stur mit »Frau von Steendijk« an, obwohl sie ihm gleich zu Anfang gesagt hatte, daß ihr »Steendijk« vollkommen reiche. Zuerst wäre sie am liebsten wieder gegangen, aber der Mann hatte ein paar ganz interessante Angebote. Nach einer Weile hörte sie einfach weg, wenn er von seinen guten Beziehungen sprach und die entsprechenden Namen nannte. Sein Blick klebte immer wieder an ihrem Busen, und das herablassend mitleidige Gesicht, das sie sich für solche Fälle angewöhnt hatte, schien ihm überhaupt nichts auszumachen. Sie nahm sich vor, niemals mit ihm allein eine Wohnung zu besichtigen. Er überzeugte sie, daß eine Wohnung, in der Größe und Ausstattung, die sie sich vorstelle, keine gute Wahl sei, er habe da ein paar »ganz schnuckelige Häuschen«, die sie sich vielleicht mal ansehen solle. Sie nahm eine Liste mit, die sie mit »ihrem Partner durchsprechen würde« und wollte sich in den nächsten Tagen wieder melden. »Lassen Sie sich nicht zu viel Zeit, Frau von Steendijk, diese Objekte sind sehr gefragt.«
Das Paar, das Astrid zuerst besuchte, wohnte in einem Flachdachbungalow in einer Seitenstraße vom Ruppenthaler Weg. Sie hatte, bevor sie hinfuhr, mit dem Mann telefoniert und ihren Besuch angekündigt. Trotzdem kam Herr Schimmelpfennig barfuß und im Bademantel an die Tür. Er sah todmüde und gleichzeitig aufgekratzt aus. Auf eine sehr nette Art zerknirscht entschuldigte er sich für seinen Aufzug.
»Ich versuche schon seit zwei Stunden, in die Kleider zu kommen, aber irgendwie habe ich kein Glück.«
Er führte sie ins Wohnzimmer, bat sie hastig, Platz zu nehmen, und flitzte wieder hinaus.
Astrid sah sich um: viel helles Holz, auch auf dem Fußboden, blaue Sofas und Gardinen, ein heller, gewebter Teppich. Es war ein wenig unordentlich – überall lagen Bücher und Zeitungen herum, Schnuller, Beißringe, auf dem Couchtisch zwei Babyflaschen mit angetrockneten Milchresten – aber trotz allem behaglich. Durch das große Fenster konnte man in den Garten sehen. Der Rasen war seit Wochen nicht gemäht worden.
Hinter ihr klapperte es. Herr Schimmelpfennig trug ein Tablett mit zwei Bechern, einer Glaskanne und einem nachlässig aufgerissenen Paket Würfelzucker. Er war jetzt angezogen, Jeans und ein langes Hemd, das er nur vorn in die Hose gestopft hatte, aber seine Haare standen ihm immer noch ungekämmt vom Kopf.
»Ich habe für Sie auch eine Tasse mitgebracht. Sie mögen doch bestimmt einen Kaffee.«
Er stellte das Tablett auf den Tisch, rieb sich beide Schläfen und lachte. »Ich hab das Gefühl, ich ernähre mich im Moment hauptsächlich davon.« Er ließ sich auf das gegenüberliegende Sofa fallen und goß ein. »Hoffentlich mögen Sie’s schwarz. Uns ist nämlich die Milch ausgegangen.«
Astrid bedankte sich und wollte ihre erste Frage stellen, aber der Mann erzählte ganz von allein. »Die Zwillinge kriegen gerade Zähne. Wir haben die ganze Nacht kein Auge zugemacht, meine Frau und ich. Meistens werden die beiden ja gleichzeitig wach, was schon schlimm genug ist, denn da kann man gar nicht genug Hände haben. Aber diese Nacht haben sie sich abgewechselt, von halb elf bis früh um acht. Ich kann Ihnen sagen! Meine Frau hat sich jetzt hingelegt. Ich würde sie gern ein bißchen schlafen lassen. Oder wollen Sie auch mit ihr sprechen?«
»Nein«, lächelte Astrid, »das ist nicht nötig.«
Jörg Schimmelpfennig war als Ingenieur bei der Stadt angestellt und hatte sich, als sie überraschend die beiden Kinder bekommen hatten, sofort unbezahlten Urlaub genommen. »Das geht aber höchstens noch eine Woche, sonst kann ich mir die Papiere abholen. Wir müssen eine andere Lösung finden. Allein schafft meine Frau das im Moment auf keinen Fall.«
Er holte ein Foto. »Hier: Janina und Mirko. Eigentlich aus Bulgarien, aber in einem knappen Jahr werden sie hoffentlich Ur-Klever sein.« So lange dauerte es noch, bis das Adoptionsverfahren abgeschlossen war.
»Eigentlich wollten wir ja nur ein Kind, aber als Herr Maywald anrief und sagte, wir könnten am nächsten Tag schon ein Pärchen haben, da war das gar keine Frage für uns.«
»Sie haben also über INTERKIDS adoptiert?«
»Aus gutem Grund«, meinte er.
Schimmelpfennings hatten sich zunächst an eine katholische Organisation vor Ort gewandt, die hin und wieder auch Kinder vermittelte, kostenlos, und mit besonders kurzen Wartezeiten warb. Schon nach einer Woche hatte man ihnen einen Säugling gebracht, als Kind afghanischer Asylbewerber in Kleve geboren. Keine vierzehn Tage später hatten sie ihnen das Mädchen allerdings wieder weggenommen, denn die Eltern waren mit einer Adoption überhaupt nicht einverstanden. »Wir haben uns ganz schön gelinkt gefühlt«, meinte Schimmelpfennig, immer noch wütend. »Offensichtlich haben die nur einen vorübergehenden Pflegeplatz gesucht, der nichts kostet.«
Danach hatte das Paar um kirchliche Träger einen Bogen gemacht und eine bekannte Organisation im Rheinland angesprochen. »Aber Sie glauben ja gar nicht, wo die Popen überall ihre Finger drin haben!«
Nachdem sie alle Papiere beigebracht hatten, wollte man plötzlich eine Leumundsbescheinigung von ihrem zuständigen Pastor. »Und nicht nur das. Wir sollten auch nachweisen, daß wir aktiv am Gemeindeleben teilnehmen. Tja, damit konnten wir nicht dienen. Und selbst wenn, den Teufel hätt’ ich getan!«
Bei INTERKIDS wurde so etwas nicht verlangt. »Dafür sind die eben ein bißchen teurer als die anderen, aber das hat uns nichts ausgemacht.«
Und wie ging es in den nächsten Monaten weiter?
»Theoretisch können wir jederzeit vom Jugendamt überprüft werden. Nach Ablauf des Jahres geht das Ganze zum Amtsgericht, und die Adoption wird rechtskräftig. Bis dahin sind wir nur die Pflegeeltern, und Herr Maywald ist der gesetzliche Vertreter.«
Astrid ließ sich die Papiere zeigen. Es war ein beachtlicher Stapel, fein ordentlich nach Datum abgeheftet. Astrid staunte, was man schon so alles brauchte, bis man überhaupt eine vorläufige Pflegeerlaubnis erhielt.
»Ja, es ist eine unheimliche Rennerei, und die wühlen ganz schön in deiner Intimsphäre herum. Aber was soll’s? Wir wollten eben gerne Kinder haben.«