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»Dina Versteyl hat mit der ganzen Sache jedenfalls nichts zu tun, da bin ich sicher«, faßte Astrid ihre gestrigen Ergebnisse zusammen. Es war früh am Donnerstag morgen, und van Appeldorn war nicht zum Dienst gekommen. Offenbar hatte er sich durchringen können, Ackermann nach Hommersum zu begleiten.
»Damit wäre der Fall INTERKIDS für uns wohl endgültig abgeschlossen. Aber Maywald hat kein Alibi für die Brandstiftung. Und ich weiß nicht, der steht immer noch unter einem unheimlichen Druck.« Sie erzählte, wie er gestern einmal völlig die Beherrschung verloren hatte. »Und wenn die Jansen in den Unterlagen was Verdächtiges gefunden hat, dann hat Maywald ein la Motiv.«
»Du meinst, wenn die Jansen ihn mit ihrem Wissen erpreßt hat«, sagte Toppe zögernd. »Aber das paßt nicht zu der Frau. Die hätte so was sofort an die große Glocke gehängt. Und Maywald? Wenn man überlegt, wie dem in den letzten Wochen Stück für Stück der Boden unter den Füßen weggezogen wurde und daß er zum Schluß offenbar eine ganz schöne Angst hatte, es könnte ihm genauso gehen wie Rob de Boer …«
»Aber vielleicht gerade deswegen«, beharrte Astrid.
»Der muß wirklich verzweifelt gewesen sein. Ich meine logisch gehandelt hat er jedenfalls nicht mehr. Sonst hätte er doch zum Schluß die Bücher nicht mehr gefälscht. Der mußte doch davon ausgehen, daß das sofort rauskommt.«
»Trotzdem, Brandstiftung?« Heinrichs hörte auf, in den Akten zu blättern. »Nein, das paßt nicht. Aber in Ordnung, man erlebt die dollsten Dinger. Maywald bleibt also auf der Liste. Wenn ihr allerdings meine Meinung hören wollt: für mich hat der Exmann das wesentlich bessere Motiv. Da kommen auch nicht so viele ’Wenns’ zusammen: wenn die Jansen in den Papieren was Belastendes gefunden hat, wenn sie Maywald damit erpreßt hat. Daß sie versucht hat, ihren Mann fertigzumachen, das wissen wir, und der gibt ja sogar selbst zu, daß er sie gehaßt hat. Und wenn ich an das Gespräch mit der Nachbarin denke über sein Elternhaus und wie er dran gehangen hat.«
Toppe stand auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Fensterbank und knibbelte am Kinn. Es gab immer noch Momente, in denen er seinen Vollbart vermißte.
»Aber das spricht doch eher dagegen«, erwiderte Astrid.
»Wieso sollte er dann das Haus abfackeln?«
»Das kennen wir doch«, sagte Heinrichs. »Wenn ich es selbst nicht haben kann, dann soll die es auch nicht haben. Außerdem wußte der Mann ja wohl am besten, wo man das Feuer legen mußte, damit das Haus auch wirklich in Flammen aufging. So gesehen könnte man ihm sogar eine Tötungsabsicht unterstellen. Der wußte ja wohl, wo seine Exfrau schlief; nämlich direkt über der Hintertür.«
»Und damit seine eigenen Kinder in Gefahr bringen?«
Toppe stieß sich von der Fensterbank ab und kehrte zu seinem Platz zurück.
»Die waren ja gar nicht zu Hause. Der kann uns doch viel erzählen, von wegen das hätte er nicht gewußt!«
»Ich bin ziemlich sicher, daß Fred Jansen damit nichts zu tun hat«, sagte Toppe ruhig, »aber gut, er bleibt auf der Liste. Und nun?«
Das war für Heinrichs keine Frage: »Ich sehe immer noch jede Menge potentieller Täter in diesem Verein, und bei der Salzmann-Unkrig würde ich anfangen.«
»Gut, dann übernehmt ihr beiden das«, meinte Toppe schnell. »Ich bin in der Nachbarschaft noch nicht ganz durch.«
Astrid warf ihm einen weichen Blick zu und schmunzelte vor sich hin. Wenn er schon wieder am Fenster stand und sich unsichtbare Barthaare ausrupfte. Irgendwas beschäftigte ihn, aber er wollte allein daran puzzeln.
Toppe ging runter in die Zentrale und fragte nach Flintrop. Kollege Heiligers hatte Mühe, sein Befremden zu verbergen. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte Toppe Flintrop gemieden, als hätte der die Beulenpest, und Flintrop hatte jedem, der es nicht hören wollte, erklärt, was er von diesem arroganten Pinkel im feinen Anzug hielt, aber in letzter Zeit.
»Der ist nebenan«, zeigte er auf die Tür.
Flintrop hatte inzwischen in seiner Erinnerung gekramt und wußte genau, daß er einmal eine Anzeige von Heiderose Jansen aufgenommen hatte. Gegen wen, konnte er nicht mehr sagen, aber es war um die Höhe einer Hecke gegangen.
»Die Anzeige müßte doch eigentlich in eurem Computer sein, oder?« fragte Toppe mit vorsichtiger Freundlichkeit.
»Sicher.«
»So weit ich gehört habe, hat die Frau mehrere Anzeigen erstattet. Ich meine, es ist wohl nicht möglich, das aus dem Ding da abzurufen, wenn ich keine konkreten Daten habe?«
»Doch, klar ist das möglich.« Flintrop legte sein Frühstücksbrot aus der Hand und erhob sich gewichtig. »Ich bin nicht so furchtbar bewandert mit dem Teil, aber das müßte ich eigentlich hinkriegen.«
Toppe setzte sich und zündete in Ruhe eine Zigarette an, aber Flintrop war fixer, als er gedacht hatte.
»Mannomann«, pfiff der, »eine ganz feine Latte!«
Toppe beugte sich über Flintrops Schulter, um im schräg einfallenden Licht etwas auf dem Bildschirm sehen zu können.
Die beiden Anzeigen gegen Kleinmanns – einmal wegen einem abgeholzten Baum, einmal wegen einer angeblich zu hohen Hecke – waren ein Klacks gegen die Liste der Anzeigen gegen den Bauern Ewald Timmer. Die erste war vor vier Jahren erstattet worden wegen ruhestörenden Lärms, Anlegen einer Silage nach 22 Uhr. Die nächste, weil Timmer angeblich Jansens Katze erschossen hatte. Dann noch eine Ruhestörung, diesmal waren es Erntemaschinen. Bei der vierten Anzeige ging es um das Ausfahren von Gülle im November und bei der letzten, die ziemlich genau vor einem Jahr erstattet worden war, um unerlaubte Genmanipulation.
»Was soll denn das sein?« staunte Toppe.
Flintrop schüttelte den Kopf. »Seid ihr sicher, daß die Alte nicht aus der Psychiatrie entsprungen ist?«
Der Staatsanwalt stöhnte, als er den Namen Heiderose Jansen hörte, und Toppe mußte einiges an Überredungskunst anwenden. »Na gut, ich suche die Unterlagen raus und rufe Sie dann zurück.«
Es dauerte keine zehn Minuten. Die Staatsanwaltschaft hatte sich anfangs bemüht, die Kontrahenten zu einem Schiedsmann zu schicken. »Im Grunde handelt es sich ja um Nachbarschaftsstreitigkeiten, bei denen kein öffentliches Interesse vorliegt, verstehen Sie? Aber die Dame wollte sich darauf nicht einlassen. Zwei Sachen gegen Ewald Timmer sind schließlich zur Verhandlung gekommen: ein ruhestörender Lärm und das Ausbringen von Gülle im November. In beiden Fällen endete es mit einer Geldbuße für den Bauern.«
»Und was war mit der Katze?«
»Warten Sie, Katze erschossen, ja hier. Katzen, das galt damals noch als Sachbeschädigung. Außerdem hatte das Tier sich weiter als 200 Meter vom Grundstück entfernt, und Herr Timmer war im Besitz eines gültigen Waffenscheins. Ist wohl auch Jäger, der Mann.«
Toppe sah auf seinen Zettel. »Dann habe ich hier noch eine unerlaubte Genmanipulation.«
»Genmanipulation?« wunderte sich der Staatsanwalt.
»Darüber haben wir hier nichts. Was soll denn das sein?«
»Wenn ich das wüßte!«
»Also, in unseren Unterlagen finde ich da nichts. Sie muß die Anzeige wohl zurückgezogen haben.«
Bei der ersten Anzeige gegen Kleinmanns war es auch zur Verhandlung gekommen, und der Mann hatte eine Geldstrafe zahlen müssen. Frau Kleinmanns hatte Toppe also schlicht belogen, als sie gesagt hatte, bei den Streitigkeiten sei nichts rumgekommen. Außerdem hatte sie verschwiegen, daß sie selbst Heiderose Jansen vor zwei Jahren angezeigt hatten wegen Nichteinhaltung der Mittagsruhe. Eine wirklich sympathische Nachbarschaft!
Christa Salzmann-Unkrig empfing sie gnädig, bat sie, auf der Terrasse unter dem Sonnensegel Platz zu nehmen und ging zurück ins Haus, um »etwas Kühles zum Trinken zu holen«.
Heinrichs sah sich kleinlaut um; so viel Prunk und Protz kannte er nur aus dem Fernsehen. Von vorn hatte die Villa ganz bescheiden ausgesehen, aber sie war an einen Hang gebaut, und an der Parkseite strahlte sie in ihrer ganzen gläsernen Pracht. Der weiße Marmorboden der Halle zog sich über die Terrasse in breiten Stufen bis hinunter zum Pool. Heinrichs ließ seinen Blick über den Rasenteppich schweifen und staunte über die mannshohen Rosenhecken in allen Pinkschattierungen und die exakt geschnittenen Buchsbaumfiguren. »Die haben bestimmt einen Gärtner«, flüsterte er. »Und einen Fensterputzer. Gucken Sie mal, der Glaserker da oben, der sieht aus, als ob er frei in der Luft schwebt.«
Astrid war völlig unbeeindruckt. Derselbe Architekt hatte ihr Elternhaus gebaut. »Jede Wette, die bringt uns hausgemachte Limonade in einem Glaskrug.«
Sie hatte recht.
»Eis?« fragte Frau Salzmann-Unkrig und schenkte ein.
»Worum geht es denn? Was kann ich für Sie tun?«
»Wo waren Sie in der Nacht von Samstag auf Sonntag zwischen vier und sechs Uhr früh?« fragte Astrid und schlug ihren Notizblock auf.
»Wie bitte?« Die Empörung war nicht gespielt.
»Ja?« Astrid wartete.
»In meinem Bett selbstverständlich.«
»Zeugen?«
Ein harter Blick. »Mein Mann.«
Dann stand sie auf. »Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment.«
Heinrichs war richtig böse. »Was ist denn in Sie gefahren?«
»Wieso?« schnippte Astrid. »Das ist doch genau das, was wir wissen wollen, oder?«
»Nein, verflucht!«
»Nein? Lieber Herr Heinrichs, Sie glauben doch nicht allen Ernstes, daß Leute wie die hingehen und einen Brand legen.«
»Natürlich nicht, aber gerade Leute wie die haben ihre Lakaien für die Drecksarbeit.«
»Ach«, winkte Astrid ab. »Meiner Meinung nach sind Sie dabei, sich gründlich zu verrennen. Aber bitte, wie Sie meinen. Halte ich eben die Klappe.«
Christa Salzmann-Unkrig war schnell wieder da.
»Ihr Streit mit Heiderose Jansen …« begann Heinrichs.
Sie seufzte. »Es tut mir leid, aber ich muß sagen, langsam ist es genug. Vor ein paar Tagen erst habe ich Ihrer Kollegin versichert, daß es nie einen Streit, wie Sie es nennen, gegeben hat. Ich habe mit dieser Frau seit Monaten kein persönliches Wort mehr gewechselt. Und wenn Sie jetzt wieder auf meinen Leserbrief anspielen, kann ich nur wiederholen: ich habe dieses Mittel bewußt gewählt. Mir ist es niemals um persönliche Animositäten gegangen – gerade denen wollte ich aus dem Weg gehen. Deshalb der Leserbrief. Mir ging und geht es immer noch ausschließlich um die Sache.«
»Und die Sache ist die UNICEF-Schule?«
»Ganz recht.« Dann sprach sie einen minutenlangen Plaudermonolog über Chancengleichheit auch für Kinder aus sozial schwachen Familien, die ausländischen Mitbürger, und wie sie sich gerade in diesem Bereich seit vielen Jahren engagiere.
Astrid schickte Heinrichs ein freches Grinsen, aber er ließ sich nicht aufhalten, fragte, inwiefern Frau Salzmann-Unkrig bei INTERKIDS mitgearbeitet habe.
»Konkret hatte ich mit der Vermittlung nur insofern zu tun, als daß ich mich ein wenig um die Promotion gekümmert habe. Es ist sehr bedauerlich für die Organisation, daß Herr Maywald sich als so wenig vertrauenswürdig erwiesen hat.«
»Haben Sie eigentlich Kinder?« fragte Astrid.
»Keine eigenen, nein.«
»Ach, Sie haben selbst adoptiert?«
»Nein, aber mein Mann hat einen Sohn aus erster Ehe.«
Mit einem Ruck wurde die Glastür aufgeschoben, und ein älterer Mann in dunkelgrauem Anzug kam heraus, deutete eine Verbeugung an. »Unkrig, guten Tag. Wie ich von meiner Frau gehört habe, gibt es Probleme.«
Heinrichs erhob sich halb. »Probleme? Nein, überhaupt nicht. Wir haben lediglich ein paar Fragen gestellt.«
»Dürfen wir uns ein wenig bei Ihnen umsehen?« nahm Astrid ihm das Wort ab.
Unkrig musterte sie. »Haben Sie eine entsprechende Legitimation?«
»Nein.« Astrid reckte das Kinn.
»Dann weiß ich nicht, warum Sie uns belästigen. Guten Tag!«
»Diese scheinheiligen Arschlöcher!« Astrid rannte fast zum Auto.
»Mädchen«, Heinrichs legte ihr die Hand auf die Schulter, aber sie schüttelte sie ab und fuhr zu ihm herum:
»Charity begins at home, daß ich nicht lache! Wenn jemand die Knete hat, dann doch wohl die. Die könnten doch einen ganzen Stall Kinder adoptieren, ohne daß sie das überhaupt merken würden. Aber das könnte ja das Erbe des Kronprinzen schmälern. Engagement für die sozial Schwachen, Promotion! Lassen Sie sich das doch mal so nacheinander auf der Zunge zergehen.«
»Wir sind ’n verdammt gutes Team, wat Norbert? Der Typ hatte keine Schnitte gegen uns.«
Van Appeldorn reagierte nicht, was man ihm in diesem Fall allerdings nicht verübeln konnte, denn sie brausten mit 140 die Landstraße entlang. Mit links hielt er das Lenkrad, in der rechten Hand hatte er den Telefonhörer: »Hör zu, Berns. Es könnte sein, daß wir den Mercedes gefunden haben. Gehört einem Karl Braun aus Reichswalde.« Er gab die Adresse durch. »Was? Ja, wir sind auf dem Weg dahin, kurz vor Asperden. Prima, treffen wir uns bei dem vorm Haus.«
»Klappt et?« fragte Ackermann.
Van Appeldorn nickte, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
»Ach übrigens, Norbert.«
Ein Grunzen als Antwort.
»Vielleicht hilft et dir, wenn ich dir sach, dat ich et mir anders überlecht hab. Ich bewerb mich doch nich’ auf Günthers Stelle. Et is’ wohl besser, wenn ich Libero bleib. Wat meinst du?«
Van Appeldorn lachte. »Libero ist gut. Weißt du was, Jupp, ich sag’s nicht gern, aber als Libero bist du unschlagbar.«