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Zur selben Zeit fand im K 1 eine Teamsitzung statt, an der auch der Staatsanwalt teilnahm. Dr. Stein, ihr Lieblingsstaatsanwalt, war leider in Urlaub. Sein Vertreter hatte nur einen sympathischen Charakterzug: er hielt meist den Mund und sich aus allem raus.

Sie mußten sich zu acht in dem miefigen Büro zusammendrängen, denn auch van Gemmern und Berns waren gekommen. Es fehlte nur Stanislaus Siegelkötter, von dem niemand seit heute morgen was gehört hatte.

Als Heinrichs gerade von der mageren Ausbeute der Mithilfe aus dem Volk berichtete, kam Flintrop mit einer Liste herein.

»Ich wollte bloß ebkes sammeln kommen wegen dem Kranz«, sagte er schnell, und ihm war sichtlich unbehaglich bei dem Anblick der Versammlung.

»Meine Güte!« schimpfte Toppe. »Das muß doch wohl nicht ausgerechnet jetzt sein.«

»So geht mir das schon den ganzen Tag«, maulte Flintrop und blieb mit durchgedrückten Knien in der Tür stehen.

»Na gut«, gab sich Toppe geschlagen. »Bringen wir’s hinter uns. Wer ist auf die Idee mit dem Kranz gekommen? Breiteneggers wollen keine Blumen. Sie bitten um eine Spende für den Kinderschutzbund.«

»Das kann jeder halten, wie er will«, beharrte Flintrop.

»Einige Kollegen wollen jedenfalls einen Kranz mit Schleife. Also, was ist jetzt?«

Sie sahen sich unschlüssig an.

»Wenn ich richtig verstehe«, Flintrop faltete pikiert seine Liste, »will hier also keiner was geben.«

»Nee, hier will keiner was für einen Kranz mit Schleife geben«, sagte van Appeldorn. »Und jetzt: tschüs!«

Heinrichs druckste herum. »Wir müssen da sowieso drüber reden. Ich weiß, die wollen eine Beerdigung in aller Stille, aber ich finde, es gehört sich doch wohl, daß wenigstens einige von uns … also, ich würde gern hinfahren.«

»Die Beerdigung ist am Freitag«, blockte Toppe ab. »Wir haben also noch Zeit genug, uns das in Ruhe zu überlegen.« Er war verschwitzt, müde und gereizt. Die ganze Rennerei zu den Autowerkstätten heute hatte nichts gebracht.

Van Appeldorn berichtete von der Vernehmung de Witt.

»Ich habe den UnCo Markt überprüft. Die beziehen seit Jahren Räder von der Firma de Witt und sind absolut sauber.« Dann erzählte er von Lowenstijn und der SOKO Kinderhandel. »Daraufhin habe ich mich beim Jugendamt sachkundig gemacht. Zuständig für Adoptionen ist hier in Kleve das Kreisjugendamt, und zwar eine Frau Derksen. Die war übrigens sehr hilfsbereit. Also Folgendes: man kann sich nicht so einfach irgendwo ein Kind kaufen und dann großziehen. Jeder Adoptionswillige muß zunächst mal einen Antrag beim Jugendamt stellen. Dann werden die Leute auf Herz und Nieren geprüft: geeignetes Alter, Lebensgewohnheiten, Leumund, sie brauchen ein ärztliches Attest, polizeiliches Führungszeugnis.« Er fuhr mit dem Zeigefinger auf seinem Zettel entlang. »Ach, tausend Sachen, persönliche Gespräche und so weiter. Jedenfalls verfaßt Frau Derksen zum Schluß einen Eignungsbericht, und wenn der positiv ist, dann erhalten die Leute eine sogenannte vorläufige Pflegeerlaubnis und sind damit zur Adoption zugelassen.«

»Ja«, bestätigte Heinrichs. »Das hätte ich dir auch erzählen können, wenn du mich gefragt hättest. Das haben meine Frau und ich auch schon hinter uns.« Sprachlos starrten sie ihn an. Er lächelte linkisch. »Na ja, als wir geheiratet haben, hieß es, meine Frau könnte keine Kinder kriegen.«

Nur der Staatsanwalt konnte mit dem allgemeinen Heiterkeitsausbruch nichts anfangen.

Schließlich fuhr van Appeldorn fort: »Mit dieser vorläufigen Pflegeerlaubnis läßt man sich dann beim Jugendamt auf eine Warteliste setzen, und dann kann das Jahre dauern. Es gibt nämlich nicht so viele Kinder, die adoptiert werden können.«

»Nicht so viele Babies, um genau zu sein«, warf Astrid ein.

»Stimmt«, bestätigte van Appeldorn. »Die meisten Leute wollen Säuglinge adoptieren, versteht sich. Wenn einem das zu lange dauert, kann man sich an eine private Adoptionsvermittlung wenden. Da kostet ein Kind dann allerdings eine schöne Stange Geld.«

»Wieviel?« fragte Toppe.

»Frau Derksen sagt, 10.000 Mark Vorkasse wären nicht unüblich, und dann noch mal derselbe Betrag nach erfolgter Adoption. Die privaten Vermittlungen müssen übrigens von den Jugendämtern anerkannt sein. Da gibt es eine ganze Reihe, Terre des hommes hat das auch mal gemacht. Wir haben eine hier in Kleve, INTERKIDS, die nächsten sitzen dann in Bocholt und Krefeld. Jetzt aber zu den Dingen, die für uns interessant sind.« Van Appeldorn suchte wieder auf seinem Zettel. »Wenn so ein Kind aus dem Ausland kommt, dann benötigt es eine Geburtsurkunde aus dem Ursprungsland, eine Einwilligung der Mutter zur Adoptionsfreigabe und ein Einreisevisum.«

»Mit den richtigen Leuten vor Ort kann man so was ja alles fälschen«, sagte Heinrichs. »Wird ja auch gemacht.«

»Schon«, meinte van Appeldorn, »aber das müssen schon wirklich gute Fälschungen sein, denn wenn das Kind hier ist, geht noch mal alles von vorn los: ärztliches Attest, diesmal auch vom Kind, polizeiliches Führungszeugnis, Änderung der Staatsangehörigkeit. Das muß alles über einen Notar laufen, und das Amtsgericht entscheidet dann schließlich. Für die Dauer des Verfahrens braucht das Kind einen gesetzlichen Vertreter, in der Regel ist es das Jugendamt. Frau Derksen meint, es gäbe praktisch keine Möglichkeit, am Jugendamt vorbei eine Adoption durchzuziehen. Ohne Papiere sind die Kinder ja illegale Ausländer, und spätestens bei der Einschulung würde so was auffliegen.«

»Und das Jugendamt hat eine Liste von den Leuten, die adoptieren wollen«, überlegte Toppe. »Können wir die kriegen?«

Van Appeldorn hob die Schultern. »Ich habe noch nicht gefragt.«

Astrid und Toppe machten als letzte Feierabend, es war schon nach sieben. Auf dem Parkplatz hakte sie sich bei ihm ein. »Komm, laß uns zum Erfgen fahren, eine Runde schwimmen. Ich fühl mich ganz klebrig.«

»Ach nein, nicht in die Kuhscheiße«, muckte Toppe und schloß das Auto auf.

Das Erfgen war ein Kolk an der Sommerlandstraße, der inmitten einer Kuhweide lag. Es war eigentlich ein Angelgewässer, aber in einem kleinen Teil konnte man auch schwimmen, wenn einem das morastige Ufer und die Schlingen der Teichrosen nichts ausmachten.

»Ach komm, sei doch nicht so gnatzig«, schmuste Astrid. »Um diese Zeit ist da kein Mensch mehr. Wir sind ganz alleine.«

»Außerdem haben wir kein Schwimmzeug hier«, beharrte Toppe.

»Rate mal, wer an alles denkt«, stupste sie ihn und deutete durch die Scheibe auf die Badetasche, die auf der Rückbank stand.

Toppe gab sich noch nicht geschlagen. »Ich muß nach den Kindern sehen.«

Sie verdrehte die Augen. »Okay, ich rufe sie an.« Damit war sie schon wieder im Präsidium verschwunden und ließ sich das Telefon über den Tresen schieben.

»Kein Problem«, freute sie sich, als sie zurückkam. »Sie sitzen beide vor der Glotze. Und noch eine gute Nachricht: Gabi ist auf dem Rückweg. Sie hat gerade eben aus der Nähe von Köln angerufen und ist in spätestens zwei Stunden bei uns.«

Sie schwammen ausgiebig, schweigend, und Toppe merkte, wie sich der dumpfe Knoten in seinem Hirn langsam löste. Als sie aus dem Wasser kamen, trockneten sie sich nicht ab, die Sonne wärmte immer noch kräftig. Sie suchten einen Flecken Gras ohne Disteln und Kuhfladen. Toppe legte seinen Kopf auf ihren Bauch, überließ sich ihren weichen Händen und döste schließlich ein.

Kinderjauchzen weckte ihn auf. Die Zunge klebte ihm am Gaumen; er fröstelte. Im Kolk tummelte sich ein junges Paar mit einem Kleinkind. Er grunzte mißmutig.

»Was ist?« fragte Astrid. »Seid ihr mit den Jungs nie zum Schwimmen gegangen, als sie noch klein waren?«

»Sicher, aber doch nicht mitten in der Nacht, wenn Leute wie ich zum Beispiel ihre Ruhe brauchen.«

»Ach«, sagte sie. »Bei dieser Hitze kann so ein Baby bestimmt auch nicht schlafen. Guck mal, ist das nicht süß?«

Er kannte den Tonfall, sah ihr ins Gesicht.

Sie lachte. »Ja, ich weiß, du fühlst dich zu alt.« Es sollte neckisch klingen, aber da war auch Trauer in ihrer Stimme, in ihren Augen.

Er strich ihr leicht über den Bauch. »Ich habe ein bißchen nachgedacht im Urlaub«, sagte er.

Sie hielt seine Hand fest. »Wirklich?«

»Hee!« Er richtete sich auf und küßte sie. »Nur nachgedacht, sonst nichts.«

Gabi kam und brachte laute Fröhlichkeit und Urlaubslaune.

»Kann das sein, daß du immer mehr vom Fleisch fällst?« fragte Toppe, nur halb im Scherz.

Sie hatte sich seit der Trennung sehr verändert, war jetzt dünn, hatte raspelkurzes Haar, schminkte sich, trug Kleider, die auffielen.

»Nun ja, ich habe in den letzten vierzehn Tagen nicht so viel Schlaf gekriegt«, lachte sie frech. »Aber wer braucht schon Schlaf?« Sie war herrlich verliebt.

Astrid kicherte. »Lernen wir den Glücklichen bald mal kennen?«

»Mal sehen, ob ich mich traue. Er ist jünger als ich.«

Dann schaute sie zwischen Toppe und Astrid hin und her.

»Wenn ich’s genau bedenke, ist es eigentlich nur gerecht.«

Sie lachten alle drei, aber Toppe fand es eigentlich nicht besonders komisch.