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»Ich möchte Sie heute alle recht herzlich zu unserer ordentlichen Mitgliederversammlung begrüßen …« Weiter kam Bärbel Peters, die erste Vorsitzende der MEILE e.V., nicht.
Heiderose Jansen hob die Hand, wartete aber nicht, bis ihr das Wort erteilt wurde. »Ich stelle den Antrag auf Rauchverbot!«
Das war sicherlich eine vernünftige Idee, denn obwohl alle Fenster weit geöffnet waren, stand die Hitze dick und stickig im Kneipensaal. Trotzdem wurde vereinzelt gemurrt; vielleicht lag das am Gouvernantenton, in dem die Schriftführerin ihren Antrag gestellt hatte. Die langen Tische waren in Hufeisenform aufgestellt; an der Stirnseite saß der Vorstand – bis auf Heiderose Jansen. Sie hatte es vorgezogen, unter den Mitgliedern an der rechten Tischreihe Platz zu nehmen.
Bärbel Peters bat um Ruhe. »Der Vorschlag erscheint mir sinnvoll. Ich finde, wir können zwischendurch ja mal eine Rauchpause einlegen. Lassen Sie uns darüber abstimmen.«
Der Antrag wurde mit zwei Gegenstimmen angenommen; auffällig war die Zahl der Enthaltungen auf der linken Seite des Hufeisens.
Die Vorsitzende verlas die Tagesordnung. »Leider hat sich unser Geschäftsführer, Herr Maywald, verspätet. Möglicherweise muß ich den Kassenführer bitten, den Jahresbericht vorzutragen.«
Der zweite Vorsitzende beugte sich zu ihr hinüber und flüsterte ihr etwas zu. Sie nickte. »Es wird hier gerade der Vorschlag gemacht, die Reihenfolge der Tagesordnung zu ändern und den Geschäftsbericht an Punkt 4 zu stellen.«
Heiderose Jansens Hand schnellte in die Höhe. »Ich kann den Vorschlag nur unterstützen. Eine Menge von uns findet, daß es wesentlich Wichtigeres zu besprechen gibt als schnöde Zahlen.« Auf ihren Wangen zeichneten sich zwei scharf begrenzte rote Flecken ab.
Die Zustimmung, die rechts und links von ihr laut wurde, war zu vehement, um spontan zu sein.
Bärbel Peters entdeckte mehrere Vereinssatzungen auf dem Tisch an der rechten Seite und hatte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Noch während sie ihre nächsten Worte überdachte, kam Jens Maywald, einen dicken Packen Papiere unter dem Arm, hereingehastet und drängte sich zum Vorstandstisch durch.
»Na prima«, lachte Bärbel Peters, »dann brauchen wir die Tagesordnung doch nicht umzustellen.«
»Ich dachte«, rief Heiderose Jansen, »ich hätte deutlich gesagt, daß es Wichtigeres zu besprechen gibt.«
Mehrere Mitglieder applaudierten laut. Jens Maywald sah sich irritiert um und setzte sich. »Übrigens«, meinte er so laut, daß es jeder im Saal hören konnte, »draußen stehen zwei Leute von der Presse, die angeblich eingeladen worden sind.«
Die Vorstandsleute sahen sich erstaunt an und schüttelten einhellig den Kopf.
Ein ungepflegter Enddreißiger mit fusseligen blonden Haaren, den Bärbel Peters seit der Vereinsgründung nicht mehr gesehen hatte, erhob sich langsam neben Heiderose Jansen und grinste lässig. »Ich habe mir erlaubt, die Damen und Herren von der Presse zu informieren. In diesem Zusammenhang weise ich auf § 7 der Satzung hin, nach dem die Sitzungen des Vereins öffentlich sind. Und keiner von uns hat doch etwas zu verbergen, oder?« Genüßlich ließ er seinen Blick über den Vorstand schweifen.
Spätestens jetzt hatte auch das unbedarfteste Vereinsmitglied kapiert, daß etwas im Busch war. Endlich rührte sich auch der linke Tisch. Mehrfach konnte man das Wort »Kindergarten« hören, und Frau Salzmann-Unkrig verlangte kühl »etwas mehr Vernunft«.
Es war Heino Müller, der zweite Vorsitzende, der entschieden um Ruhe bat und auf strikter Einhaltung der Tagesordnung bestand. Es folgten fünfundfünfzig Minuten öder Routine – Geschäftsbericht, Kassenbericht, Bericht der Kassenprüfer – aber die Spannung im Raum war die ganze Zeit greifbar.
Mit stoischer Ruhe schob sich der Kellner durch die Reihen, nahm Bestellungen auf, brachte Wasser, Kaffee, Saft, am linken Tisch auch Bier und Cola, setzte seine Striche auf die Bierdeckel.
Bärbel Peters hatte den Punkt 3 der Tagesordnung »Vorbereitung der Zehnjahresfeier« noch nicht ganz vorgelesen, als sich bereits sechzehn Leute zu Wort meldeten. Heiderose Jansen hatte die Hand als erste oben gehabt und wartete auch diesmal nicht auf das Nicken der Vorsitzenden. Beim Sprechen blickte sie immer wieder auf den kleinen Zettel, der vor ihr auf dem Tisch lag.
»Wir Mitglieder können uns des Eindrucks nicht erwehren, daß der Vorstand über die Gestaltung unserer Zehnjahresfeier längst entschieden hat und daß dieser Punkt aus rein kosmetischen Gründen auf die Tagesordnung gesetzt wurde, um den Anschein von Demokratie zu wahren. Mir ist nämlich zum Beispiel bekannt, daß Frau Salzmann-Unkrig, die übrigens, das möchte ich betonen, nicht dem Vorstand angehört, bereits einen Saal im Hotel Cleve gebucht hat.« Sie schickte der Genannten einen katzigen Augenaufschlag.
Frau Salzmann-Unkrig schnappte nach Luft. »Das stimmt doch überhaupt nicht! Ich habe lediglich Vorgespräche geführt.«
Am Ende des Tisches schob ein Mann geräuschvoll seinen Stuhl zurück. »Kann mir mal einer sagen, in was für ’nem Film ich hier eigentlich bin?«
Die Leute in seiner Umgebung klopften ihre Zustimmung auf die Tischplatte. »Genau! Was geht hier eigentlich ab?«
»Zehn Minuten Rauchpause«, rief Bärbel Peters schwach.
Die Leute stoben nach draußen, nur der Vorstand blieb an seinem Platz.
»Die Frau gehört doch in die Psychiatrie«, knurrte Maywald. »Soll die doch woanders ihre Profilneurose austoben. Ich hab noch einen wichtigeren Termin heute abend.«
Die Vorsitzende schwieg und schaute besorgt aus dem Fenster. Draußen auf dem Parkplatz scharte sich eine große Gruppe um Heiderose Jansen, die mit schriller Stimme bereitwillig Auskunft gab. Die beiden Leute von der Presse spitzten die Ohren.
Stomu Sato, das japanische Mitglied, stand abseits in seinem korrekten schwarzen Anzug, der bei diesen Temperaturen völlig absurd wirkte. Er lächelte sanft, drehte sich dann um und gesellte sich zu Frau Salzmann-Unkrig, die an der Theke auf ihren Cognac wartete.
Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis die letzten Mitglieder wieder in den Saal zurückkamen. Bärbel Peters entledigte sich ihres durchgeschwitzten Jacketts und schaute ruhig in die Runde. »Da jetzt hoffentlich das Informationsdefizit aufgearbeitet worden ist, können wir wohl mit der Diskussion zu Punkt 3 unserer Tagesordnung beginnen.«
Es stellte sich heraus, daß sich zwei Lager gebildet hatten. Das erste wollte das Jubiläum mit einem Sektempfang im Hotel Cleve begehen, zu dem potentielle Sponsoren, die überregionale Presse, Politiker und sonstige Honoratioren der Stadt geladen werden sollten. Die Gruppe um Heiderose Jansen plädierte für ein Kinderfest in der Stadthalle und verwies ganz entschieden auf den Vereinsnamen MitEInander LEben. Die erste Beisitzerin am Vorstandstisch, eine anorektische graue Maus, quäkte dazu: »Wir müssen uns doch fragen, worum geht es denn? Es geht um die Integration ausländischer Mitbürger, um aktive Lebenshilfe. Es geht um Menschen. Für diese Menschen soll das Fest sein, mit ihnen wollen wir gemeinsam feiern.«
Frau Salzmann-Unkrig sah das ganz anders: »Meine Herrschaften, wir müssen uns doch endlich die Realität vor Augen führen. Der Verein ist diesem Stadium längst entwachsen. Es geht inzwischen um wesentlich anspruchsvollere Projekte.«
Aggressives Gelächter von der rechten Tischreihe ließ sie abbrechen.
»Wie wäre es denn, wenn der Rest des Vorstandes sich zu der Sache mal äußern würde?« rief Heiderose Jansen und lehnte sich mit einem bösen Lächeln auf ihrem Stuhl zurück.
Bärbel Peters schüttelte nur mißbilligend den Kopf, aber Heino Müller stand auf. »Wir sollten doch langsam mal wieder auf ein angemessenes Niveau kommen, Heidi. Auf dieser Ebene können wir nicht diskutieren.«
Mehrere Leute klatschten Beifall.
»Einigen hier geht es offensichtlich überhaupt nicht um eine sachliche Diskussion«, rief Maywald aufgebracht. »Ich hab keine Lust, meine Zeit mit diesen Albernheiten zu verplempern!«
Heino Müller legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter. »Wir haben bezüglich der Gestaltung unseres Jubiläums zwei Alternativen gehört. Wenn keine weiteren Vorschläge mehr kommen, können wir jetzt abstimmen.«
»Das gibt’s doch wohl nicht!« rief jemand von rechts.
»Es geht hier um die Ziele des Vereins, und das wird einfach so abgewürgt!«
»Falsch!« Heino Müller griff wütend zur Tagesordnung. Es war inzwischen weit nach 22 Uhr; trotzdem war es noch immer unerträglich warm im Saal.
Betont langsam stemmte sich jetzt wieder der schmuddelige Blonde aus seinem Stuhl hoch. »Ich stelle hiermit den Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung um Punkt 3.1: Klärung der Inhalte, Ziele und Aufgaben des Vereins.«
Eine ganze Reihe von Leuten stöhnte, aber Heiderose Jansen setzte noch einen drauf: »Unter Berücksichtigung des Projektes UNICEF-Schule. Und ich bitte in diesem Zusammenhang besonders den zweiten Vorsitzenden, seine zweifelhaften Machenschaften in diesem Punkt offen zu legen.«
Heino Müller explodierte. »Jetzt habe ich aber endgültig die Nase voll von deinen Verleumdungen. Paß auf, was du sagst!«
Die Jansen grinste nur. »Ach ja? Und was war mit dem Blankoscheck?«
Ein paar Leute standen kopfschüttelnd auf, nahmen ihre Bierdeckel und gingen hinaus.
Alles redete durcheinander.
Vergeblich versuchte Bärbel Peters mit ihrer Stimme durchzukommen. Jens Maywald platzte der Kragen.
»Ruhe!« brüllte er und schob entschlossen seine Papiere zusammen. »Ich beantrage hiermit die Vertagung der Versammlung. Sollte mein Antrag angenommen werden, bitte ich darum, die neue Tagesordnung hier und jetzt zu erstellen.«
»Bist du wahnsinnig?« zischte Bärbel Peters. »Das ganze Theater noch einmal! Wir ziehen das jetzt durch.«
Heiderose Jansen übertönte mühelos das Stimmengewirr: »Ich kriege genug Leute zusammen für einen Mißtrauensantrag, das schwör ich dir!«
Plötzlich war es still.
»Wir unterbrechen noch einmal für ein paar Minuten«, sagte die Vorsitzende müde, »und stimmen dann über eine eventuelle Erweiterung der Tagesordnung ab.«