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Man mußte schon über einen guten Orientierungssinn verfügen, wenn man in dem Gänge- und Treppengewirr der Kreisverwaltung die Zimmer des Jugendamtes finden wollte – van Appeldorn brauchte gut und gern fünf Minuten.
Frau Derksen war genauso freundlich wie am Telefon, ein bißchen amtlich vielleicht, aber nett. »Ich habe eigentlich schon damit gerechnet, daß Sie unsere Warteliste haben wollen«, meinte sie, während sie ihnen Kaffee eingoß.
»Es liegt zwar in meinem Ermessen, ob ich Ihnen Einblick in unsere Unterlagen gebe, aber mir wäre es doch lieber, wenn mein Chef das absegnen würde.«
Sie telefonierte leise mit dem Rücken zu ihm. »Es geht in Ordnung«, sagte sie, »aber er will doch noch kurz selbst mit Ihnen sprechen.« Dann plauderte sie über die unglaubliche Hitze, das Unwetter, die Schäden an den Autos durch die Hagelkörner, und wieviel die Versicherung wohl zahlen würde. Sie bedauerten sich gegenseitig, bei diesen Temperaturen arbeiten zu müssen, aber zum Sonnenbaden war es ja doch auch viel zu heiß.
Der Leiter des Jugendamtes kam aus nackter Neugier. Er ging davon aus, daß die Zeitung Wichtiges verschwiegen hatte, und bohrte nach Einzelheiten. Selbst wenn van Appeldorn gewollt hätte, was hätte er ihm schon groß erzählen können?
Er folgte irgendwelchen Ausgangsschildern und landete schließlich an der Tür, die in den Moritzpark führte – selbstverständlich parkte sein Auto an der anderen Seite des Gebäudes. Es war noch früh, und eigentlich konnte er sich ruhig eine Pause gönnen. Seine Wohnung lag gleich um die Ecke, aber er hatte wenig Lust auf Kinderlärm, und so schlenderte er den Prinzenhof hinunter – nicht die schlechteste Wohnlage. Besonders die Häuser an der rechten Seite hatten es ihm angetan. Sie lagen am Hang, hatten schöne Gärten, von denen aus man weit über die Ebene des Cleverham blicken konnte. Zu einem Eigenheim würde es wohl auch in den nächsten Jahren noch nicht langen. Van Appeldorn hatte keine Lust, nur wegen so eines Steinklotzes auf alles mögliche zu verzichten. Wie Toppe zum Beispiel, bei dem das besonders absurd war, weil er selbst jetzt gar nicht mehr drin wohnte. Nein, seine Wohnung am Blauen Himmel war ganz in Ordnung, mitten in der Stadt und trotzdem ruhig, gleich am Fuß der Schwanenburg, und statt im eigenen Garten zu ackern, seinen eigenen Rasen zu mähen, hatte er das Stück des Burgberges gegenüber der Haustür mit Steingartengewächs und Stiefmütterchen bepflanzt.
Um diese Zeit war auf der Großen Straße noch nicht viel Betrieb, er fand einen freien Tisch vor der Eisdiele und bestellte sich einen Eiskaffee. Die Liste vom Jugendamt war viel länger, als er gedachte hatte, fast hundert Leute aus dem ganzen Kreisgebiet. Frau Derksen hatte keinen Zweifel gelassen: falls jemand tatsächlich ein Kind über dunkle Kanäle kriegen sollte, er mußte trotzdem auf der Liste stehen, sonst hätte er hinterher keine Chance, das Kind zu behalten. Es würde Wochen dauern, die ganzen Leute zu überprüfen.
Das INTERKIDS Büro lag in der unteren Etage eines Zweifamilienhauses in der Turmstraße. Astrid und Toppe fanden es nicht gleich, weil jeder Hinweis und selbst die Hausnummer fehlten. Nur neben der Klingel hing ein kleines, weiß emailliertes Schild, das die Adoptionsvermittlung als Organ von MEILE e. V. auswies.
Ein Mann öffnete ihnen. Er sah seltsam aus, wie aus lauter Einzelteilen willkürlich zusammengewürfelt: klein, höchstens 1,65 m, mit kurzen, stumpfen Gliedmaßen, gedrungen, ohne Hals, aber seine Hände waren winzig und zart; seine Gesten knapp, nachlässig. Er hatte hellrotes, krauses Haar, das Gesicht war zugewuchert von einem dicken Vollbart, wulstige, weiche Lippen; ein gemütliches Gesicht, wenn nicht die fixen Augen gewesen wären.
»Maywald«, verbeugte er sich, lächelte, legte Toppe die Hand auf die Schulter, als wären sie gute Bekannte.
»Kommen Sie doch durch.« Den Arm einladend ausgestreckt. Immer noch lächelnd zuckte er bei dem Wort »Kripo« zusammen. Dann aber lachte er laut. »Oh, entschuldigen Sie bitte! Ich hatte wirklich gedacht. Ich habe nämlich einen Termin mit einem Paar … Kripo?« Er hatte die Peinlichkeit überwunden, seine Haut nahm wieder ihre normale Farbe an. Auffordernd lief er vor ihnen her, führte sie in ein kühles Büro.
»Haben Sie eine Klimaanlage?« fragte Astrid.
»Nee, aber die Räume gehen nach Norden raus, und Sie sehen ja selbst.«
Dicht vor den beiden Fenstern standen große Zedern, die kaum Tageslicht hereinließen. »Im Moment ist das sehr angenehm, aber im Winter. Ich kann Ihnen sagen!«
Eine Frau hatte sich von ihrem Platz am Computer erhoben und schob eifrig Stühle heran. Eine ältere Frau, Sorgen im Gesicht, grau, ohne Haarschnitt, quaderförmig, was mit ihrer starken Gehbehinderung zusammenhängen mochte.
»Das ist unsere Frau Versteyl«, stellte Maywald sie vor.
»Sie hilft mir manchmal ein bißchen. Ehrenamtlich, von der MEILE aus.«
»Und Sie sind hauptamtlich hier?« fragte Toppe.
Maywald nickte. »Aber worum geht es eigentlich?«
»Kriminalpolizei?« staunte Dina Versteyl.
Toppe gab eine vage Erklärung.
»Ach, die toten Kinder«, meinte Maywald. »Davon habe ich in der Zeitung gelesen.«
Der Geschäftsführer bestätigte, was sie schon vom Jugendamt wußten: jeder, der eine vorläufige Pflegeerlaubnis hatte, war beim Jugendamt registriert. Immer mehr Leute wandten sich in letzter Zeit an INTERKIDS. Maywald führte das auf ihren ausgezeichneten Ruf zurück und betonte, daß sie ausschließlich mit seriösen Waisenhäusern und Kinderheimen zusammenarbeiteten, vornehmlich in Indien und Chile. Kontakte zum Ostblock? »Bis jetzt nur sporadisch und nach gründlichster Prüfung«, sagte Maywald mit finsterem Blick.
»Da gibt es augenblicklich einfach noch zu viele Schwierigkeiten.«
»Liest man ja auch immer wieder in der Zeitung«, schaltete sich Frau Versteyl ein, die mit Riesenohren dabei gesessen hatte. »Wie da den jungen Mädchen für ein paar Mark die Kinder abgekauft werden, direkt aus der Klinik, offiziell für tot erklärt. Da stecken alle möglichen Leute mit drin: Ärzte, Anwälte, Notare.«
Die scharfe Bewegung, mit der Maywald sie zum Schweigen brachte, und sein milder Blick wollten nicht so recht zusammenpassen. »Ja, da liegt noch einiges im argen.«
»Aber sporadisch gab es schon Adoptionen aus dem Ostblock, haben Sie gesagt?« hakte Astrid ein.
»Ja, drei-, viermal, über ein Kinderheim in Sofia. Aber um den Ostblock zu erschließen, müssen wir persönliche Kontakte vor Ort aufbauen.«
»Wieviel kostet ein Kind bei Ihnen?« fragte Astrid, und sogar Toppe runzelte bei der Formulierung die Stirn.
»Das hört sich ja so an, als wollten wir Reibach damit machen!« rief Dina Versteyl schrill.
»Zwischen 10.000 und 20.000 Mark«, antwortete Maywald gelassen. »Je nachdem, wieviel Kosten entstehen. Flüge, Heimunterbringung, Papiere und so weiter. Die Hälfte zahlen die Eltern im voraus, den Rest nach erfolgter Adoption.«
»Und wieviel Gewinn springt für Sie dabei raus?« beharrte Astrid unbeirrt.
Dina Versteyl schnappte nach Luft, nuschelte was vor sich hin. Maywald achtete nicht darauf. »An fixen Kosten hier vor Ort haben wir hauptsächlich mein Gehalt. Das ist nicht die Welt. Ich arbeite nur halbtags für INTERKIDS, hauptberuflich bin ich nämlich Versicherungskaufmann. Dann sind da noch Telefon, Porto, zuweilen Reisekosten. Aber meist holen die Eltern die Kinder selbst im Ausland ab.«
»Sie erwirtschaften also keine Gewinne?« fragte Toppe ungläubig.
»Doch, in den meisten Fällen springt schon ein kleiner Gewinn raus, aber der fließt in vollem Umfang an die MEILE. Das ist schließlich der Sinn der Übung.«
»Was ist das eigentlich, MEILE e. V.?« wollte Toppe wissen.
Maywald überließ Dina Versteyl bereitwillig das Wort.
»Wir sind ein gemeinnütziger Verein«, begann sie erfreut. Der Verein war aus einer Elterninitiative an der Liebfrauenschule entstanden, der es zunächst darum gegangen war, die Gewalt auf dem Pausenhof in den Griff zu kriegen und die ausländischen Kinder besser in den Schulalltag zu integrieren. Nach und nach hatten sich auch einzelne Lehrer angeschlossen, andere Schulen zogen mit, und so war nach kurzer Zeit ein richtiger Verein gegründet worden. Man übernahm die Hausaufgabenbetreuung, richtete Sprachkurse ein, Spielnachmittage, gestaltete Schulhöfe zu kinderfreundlichen Spielhöfen um, betreute die türkischen Kinder, die in den verschiedenen Jugendfußballmannschaften spielten, veranstaltete Zeltlager. Das alles kostete Zeit, aber da gab es eine Reihe von Idealisten, zum Teil auch Eltern, die selbst ein ausländisches Kind adoptiert hatten und von den Problemen mit Hautfarbe und Anderssein ein Lied singen konnten. Es kostete auch Geld, und man war immer auf der Suche nach Sponsoren. Später hatte man Patenschaften für ausländische Familien übernommen, Schuldenberatung, Unterstützung bei Behördengängen. Eines Tages hatten sie ein armenisches Waisenkind kennengelernt, das hier in einer Pflegefamilie war und von den entsetzlichen Bedingungen erzählte, unter denen seine beiden kleinen Geschwister zu Hause lebten. MEILE hatte auch für diese Kinder eine Pflegefamilie gefunden, und so war die Idee geboren, eine Adoptionsvermittlung einzurichten. »Von dem Geld, das durch INTERKIDS abfällt, können wir jetzt auch größere Projekte in Angriff nehmen.« Dina Versteyl hatte sich heiße Backen geredet, schaute sie erwartungsvoll an.
Astrid war gnädig. »Größere Projekte?«
»Ja, eine internationale Schule, zum Beispiel. In Kleve!«
»Prima«, sagte Toppe und wandte sich wieder an Maywald. »Sie haben sicher eine Kartei, in der die Leute registriert sind, die über Sie adoptiert haben oder adoptieren wollen.«
»Selbstverständlich«, antwortete Maywald, und Frau Versteyl war schon aufgesprungen und zum Computer gewackelt.
»Augenblick!« rief Maywald ihr hinterher, dann sah er Toppe an. »Sie verstehen sicher: Datenschutz. Ohne Rücksprache mit den Beteiligten, keinesfalls.«
»Wir haben im Augenblick gar kein Interesse daran«, nahm Toppe ihm den Wind aus den Segeln. »Ich möchte etwas anderes wissen. Gesetzt den Fall, ich habe Kontakte zu Kinderhändlern aufgenommen und die besorgen mir ein Kind und bringen es nach Deutschland. Wie sind meine Chancen, hier eine Adoption durchzukriegen?«
»Gleich Null«, antwortete Maywald entschieden und erklärte ihnen noch einmal den ganzen Adoptionshergang.
»Sagen Sie mal, woran sind die Kinder eigentlich gestorben?«
»Die sind quasi ausgetrocknet«, antwortete Toppe. »Es war zu heiß in dem Wagen.«
»Scheußlich! Sind Sie sicher, daß die Kinder aus dem Balkan stammen?«
Toppe nickte, aber Astrid war bestimmter. »Hundertprozentig. Warum fragen Sie?«
»Ach, ich dachte, vielleicht waren es einfach holländische Kinder, die mit ihren Eltern unterwegs waren. Vielleicht sind sie entführt worden?« Er sah zögernd von seinen Händen auf. »Ich will Ihnen nicht reinreden, Sie machen sich sicher selbst Ihre Gedanken, und bestimmt wissen Sie über die Geschichte viel mehr als ich. Aber wenn man täglich mit diesen Dingen zu tun hat, dann geht einem so was einfach im Kopf herum. Zum Beispiel dachte ich, wenn sie wirklich aus dem Balkan kommen, dann könnten sie doch mit illegalen Einwanderern unterwegs gewesen sein. Oder aber die Kinder sind bereits in Holland adoptiert worden.«
»Unwahrscheinlich«, sagte Toppe nur.
»Wieso?«
»Die beiden waren höchstens zwei Wochen alt.«
Maywald lächelte ihn offen an. »Das ist kein Argument. Auch wir vermitteln manchmal sehr junge Kinder. Wenn die Mutter bereits vor der Niederkunft das Kind zur Adoption freigegeben hat, kann das schon mal vorkommen.«
»Ja«, ergänzte Dina Versteyl. »Manchen ist es egal, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen bekommen. Hauptsache gesund.« Sie lachte meckernd. »Unsereins kann es sich ja auch nicht aussuchen, oder? Ich, zum Beispiel, habe fünf Mädchen – sind alle schon erwachsen.« Dann besann sie sich. »Manche Leute wollen eben einfach nur ein ganz kleines Kind. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Sie verstanden. Toppe fragte nach anderen privaten Adoptionsvermittlern und Kontakten untereinander. Die gab es selten. War intern etwas über illegale Geschichten bekannt? Nein, nur das, was jeder so aus der Presse kannte.
Das Gespräch zerplätscherte.
»Warum warst du denn so kratzbürstig«, wollte Toppe wissen, als sie wieder im Auto saßen.
»Ich weiß nicht genau«, hob Astrid die Schultern. »Es ist so doppelbödig. Die geben sich den großen Sozialtouch, und in Wirklichkeit geht es denen doch bloß um Geld.«
»Kann schon sein. Es gibt aber bestimmt auch Leute, die dabei durchaus ehrbare Motive haben.«
»Du meinst, die Kinder aus ihrem Elend in der sogenannten Dritten Welt herausholen, damit sie.«
». damit sie dann hier zu unerwünschten Ausländern werden. Was regst du dich so auf? Ich bin doch völlig deiner Meinung. Andererseits, würdest du ein Kind adoptieren wollen, das schon Jahre im Heim verbracht hat, dessen Eltern Alkoholiker sind, das vielleicht mißbraucht oder mißhandelt worden ist? Die Heime sind voll davon. Diese Kinder brauchen auch eine Familie.«
»Ich weiß nicht«, meinte sie zögernd. »Ich glaube, wenn ich selbst keine Kinder kriegen könnte, dann müßte es nicht sein. Ich will nicht um jeden Preis ein Kind.«
»Nein?«
»Nein! Und jetzt fahr los. In diesem Glutofen geht man ja ein.«