30
Bärbel Peters gab sich alle Mühe, den Eindruck von gestern abend wett zu machen. Als sie kam, entschuldigte sie sich offen für ihr abweisendes Verhalten und erklärte, daß sie wirklich in einer sehr wichtigen Besprechung gewesen sei.
Van Appeldorn und Heinrichs nahmen sie mit ins Vernehmungszimmer, einem spärlich möblierten Raum am Ende des Flures. Den Rücken sehr gerade, ging sie vor ihnen her, eine selbstsichere, auffallende Frau: 1,80 in groß, sehr schlank, sehr kurzes, blondes Haar. Sie war dreiundvierzig Jahre alt, geschieden, hatte zwei fast erwachsene Kinder, war Lehrerin im Hauptberuf, aber auch politisch aktiv und sozial engagiert im Kinderschutzbund und in der MEILE. Bis gestern jedenfalls.
Es lag an ihr, daß aus der Vernehmung nicht das übliche Frage- und Antwortspiel wurde. Keinen Augenblick lang gab sie das Heft aus der Hand. Offensichtlich glaubte sie, daß man sie wegen INTERKIDS herbestellt hatte und erläuterte ruhig, wie die Adoptionsvermittlung arbeitete und daß sie sich überhaupt nicht vorstellen könne, daß irgend jemand da »unsaubere Geschäfte« gemacht habe. Aber Heinrichs unterbrach sie, er wollte erst einmal alles über die MEILE wissen. Man merkte, daß sie den Verein schon oft präsentiert hatte, sie begann mit der Idee, mit den Schwierigkeiten, die es in der Anfangsphase gegeben hatte, kam dann zu den Inhalten, den vielen Projekten und endete mit den aktuellen Mitgliederzahlen und den Erfolgen.
»Von den ursprünglichen Vereinsgründern sind jetzt nur noch drei Leute im Vorstand gewesen, was auf eine gesunde Entwicklung hindeutet, nicht wahr? Wir haben es offensichtlich verstanden, neue Mitglieder gleich so einzubinden, daß sie bereit sind, nicht nur Aufgaben, sondern auch Verantwortung zu übernehmen. Das ist in vielen anderen Vereinen nicht der Fall.«
»Und warum haben Sie Ihr Amt niedergelegt?« wollte Heinrichs wissen.
»Das hat mehrere Gründe«, lächelte sie ein wenig nachdenklich. »Zum einen muß man sagen, daß einen zehn Jahre in der ersten Reihe doch ein bißchen mürbe machen, und zum anderen ist es wohl so«, sie sah van Appeldorn in die Augen, »daß man in unserem Alter vielleicht den Wunsch hat, noch einmal was Neues anzufangen. Diese internationale Schule reizt mich sehr.«
»Sie wollen an der neuen Schule als Lehrerin arbeiten«, vermutete van Appeldorn.
»Ja«, kam es spontan, dann zögerte sie einen Moment.
»Ich mache gerade meine Rektorenprüfung. Wenn ich Glück habe, komme ich sogar in eine leitende Position.«
»Und mit der MEILE war das Projekt nicht zu verwirklichen?« fragte Heinrichs.
»Es wäre zumindest sehr schwierig gewesen, weil einige aus dem Verein absolut gegen die Schule sind.«
»Ja«, bestätigte Heinrichs, »ich habe die Briefe in der Zeitung gelesen. Ganz besonders war es doch wohl Heiderose Jansen, die das Projekt verhindern wollte.«
Die Peters schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht. Es ging bei den Differenzen ja nicht um die Schule allein.«
»Das konnte man nicht übersehen«, grinste Heinrichs, aber Bärbel Peters ließ sich nicht unterbrechen. »In einem Verein gibt es immer verschiedene Gruppierungen, das wissen Sie doch auch. Heidi war eine von denen, die sich traute, den Mund aufzumachen, auch für andere. Sie kümmerte sich nicht drum, wenn sie Schelte bezog.«
»Wie gut kannten Sie Frau Jansen?«
Sie runzelte die Stirn. »Gestern haben Sie mich auch schon nach Heidi gefragt. Warum? Warum interessieren Sie sich für sie?«
»Weil ihr Tod kein Zufall ist«, antwortete van Appeldorn. »Es handelt sich um Brandstiftung.«
Bärbel Peters brachte nur ein bestürztes »Was?« heraus.
»Sie kannten sie also gut«, sagte Heinrichs sofort, aber sie nahm sich die Zeit, die Nachricht zu verdauen. »Würden Sie mir wohl eine Zigarette geben?« fragte sie, den Blick auf van Appeldorns Brust geheftet. »Ich hab meine im Auto gelassen.«
Van Appeldorn holte die Schachtel aus der Hemdtasche, schnippte zwei Zigaretten nach vorn und hielt sie ihr hin. Das Feuerzeug nahm sie ihm aus der Hand.
»Ja, ich kannte sie gut. Wenn man zehn Jahre lang so eine Sache durchzieht, mit all den Schwierigkeiten, die es immer wieder gibt, dann kennt man sich.«
»Mochten Sie die Frau?« Heinrichs handelte sich mit dieser Frage einen tadelnden Blick von van Appeldorn ein.
»Mögen?« Sie stieß geräuschvoll den Rauch aus. »Sie war ziemlich schwierig. Ein wenig bitter, meist unzufrieden. Sie hat vielen Leuten auf die Zehen getreten, aber Mord.«
»Moment«, Heinrichs hob abwehrend die Hände. »Mord ist das falsche Wort. Brandstiftung, so was ist oft ein Racheakt. Da geht’s nicht darum, jemanden zu töten, sondern ihm kräftig eins auszuwischen.«
Sie schnaubte. »Rache, da könnte die Liste aber lang werden.« Aber dann hielt sie inne. »Nein, vielleicht doch nicht. Wenn man zu so einem Mittel greift, dann.«
»Ja? Was wollten Sie sagen?« bohrte Heinrichs.
Sie sah ihn an. »Ich meine, erstens muß man doch wohl sehr tief getroffen worden sein, nicht wahr? Das macht doch keiner, der sich einfach nur so geärgert hat. Und dann muß man vielleicht auch ein bißchen, wie soll ich das ausdrücken? Einfach strukturiert sein.«
Heinrichs Augen blitzten. »Und Sie meinen, dann wird die Liste doch nicht so lang? Würden Sie uns helfen und uns ein paar Namen nennen?«
Sie zog erschrocken den Kopf zurück. »Das kann ich doch nicht machen!«
»Wo soll die UNICEF-Schule eigentlich hin?« fragte van Appeldorn zusammenhanglos.
Sie brauchte ein paar Sekunden. »In die Nähe vom Wolfsberg«, meinte sie dann, »fast schon in Nütterden. Die Stadt hat uns dort ein Grundstück zugesagt.«
»Komisch«, brummelte van Appeldorn. »Haben Sie das schriftlich?«
»Wieso?«
»Weil ich gehört habe, daß der Bauunternehmer Geldek dort ein Grundstück gekauft hat, auf dem eine Schule gebaut werden soll.«
Heinrichs fuhr herum. »Geldek?«
Van Appeldorn nickte beschwichtigend.
»Das kann nicht sein«, sagte die Peters bestimmt.
»Na ja«, meinte van Appeldorn, »Thekengespräche … aber meist ist was dran. Ich würde mich an Ihrer Stelle mal erkundigen.«
»Worauf Sie sich verlassen können!«
»Frau Peters«, meinte Heinrichs sanft, »ich würde gern noch einmal auf die Liste zurückkommen. Wer hatte das Bedürfnis, sich an Heiderose Jansen zu rächen?«
»Herr Heinrichs, Sie können doch nicht allen Ernstes von mir erwarten, daß ich …« Sie brach ab.
»Bitte. Sie brauchen sich auch keine Sorgen zu machen, daß Ihr Name erwähnt wird. Wir sind ausgesprochen verschwiegene Leute.«
Sie lächelte schwach. »Je länger ich nachdenke, um so weniger kann ich mir vorstellen, daß irgend jemand, den ich kenne, einen Brand legt.«
»Aber Sie haben doch vorhin ganz spontan an jemanden gedacht.«
»Na gut«, gab sie zu, »der erste, der mir in den Sinn kam, war ihr Exmann. Aber das wäre absurd. Der würde doch nicht sein eigenes Haus anzünden, oder?«
Währenddessen saß Astrid im Büro und brütete vor sich hin. Ackermann hatte zweimal geklopft, aber keine Antwort gekriegt, und so lugte er vorsichtig durch den Türspalt. »Ist ja doch einer hier!«
Astrid fuhr erschrocken auf.
»Tut mir leid. Ich hab aber angeklopft, echt.«
»Schon gut, ich war nur in Gedanken.« Sie ließ schmunzelnd den Blick über sein frisch gebügeltes Karohemd gleiten. »Ihre Frau ist wieder zu Hause«, stellte sie fest.
Ackermann riß den Mund auf. »Woher wissen Sie dat denn?« Dann lief er zum Fenster und schaute hinunter auf den Parkplatz. »Tut sich no’ nix«, murmelte er, kam zurück und ließ sich genüßlich in Toppes Sessel nieder.
»Kind«, meinte er breit, »jetz’ krisse wat zum Mitschreiben.«
Die Bilanzen von INTERKIDS aus den Jahren 90 bis 93 waren einwandfrei in Ordnung. Sie hatten nur einen kleinen Schönheitsfehler: die drei Kinder aus Bulgarien tauchten nirgendwo auf.
»Ich war dann bei die Familien Schimmelpfennig un’ Klein, un’ die hatten netterweise noch die Durchschriften vonne Überweisungen. Jeweils 10.000 Eier Anzahlung un’ dann noch ma’ 10.000, wenn se die Kinder gekricht haben. Bloß überwiesen ham die dat Geld nich’ auf dat Konto von INTERKIDS, sondern auf dat Konto von Maywald.«
Ackermann hatte sich auch noch die Bilanz des laufenden Jahres angesehen und mit den Eltern gesprochen, die am besagten Freitag ihre Kinder erwartet hatten. Auch sie hatten je 10.000 auf Maywalds Konto angezahlt. »Dat Geld is’ auch fein sorgfältich verbucht bei INTERKIDS, bloß leider am falschen Tach, nämlich ers’ am Donnerstag, dem 11. August. Dat war ein Tach, nachdem der Chef un’ Sie bei dem Maywald auf ’n Busch gekloppt haben. Is’ ihm wohl der Arsch auf Grundeis gegangen, wa?«
»Mein Gott, ist der blöd!« schnaubte Astrid. »Warum hat der denn die Bilanzen von den Jahren davor nicht auch noch frisiert?«
Ackermann lachte meckernd. »Dat hätt’ der Heini ma’ versuchen sollen! Aber nich’ mit Ackermann, sach ich Ihnen, nich’ mit Ackermann. So wat riech ich auf Kilometer.«
»Vielleicht hatte er das Geld ja auch gar nicht mehr«, überlegte Astrid.
»Aber hallo, Mädchen! Wenn ich bloß ’n Zehntel von dem seiner Knete hätt’ un’ war ’n Stücksken damit weg … Wat hat der gute Ackermann nämlich gemacht? Richtich! Is’ nache Staatsanwaltschaft gedüst, dat de Socken gequalmt haben, un’ Freund Wimmer, dat is’ der für de Wirtschaftssachen, war ganz aussem Häusken, sach ich Ihnen. Warten Se ma’, ich glaub, ich hör wat.« Er lief wieder zum Fenster. »Jau, gleich geht et loss.«
Astrid kam ihm nach. »Mannschaftswagen?« staunte sie.
Ackermann rieb sich die Hände. »Dat lieb ich ja so am Wimmer. Der Mann hat Sinn für Dramatik. Ich sach bloß eins: Showdown.«
Ackermann hatte mit Staatsanwalt Wimmer Maywalds Konto eingesehen und die Bestätigung gefunden: Das Geld von allen bulgarischen Kindern war auf Maywalds Konto geflossen. Wimmer hatte daraufhin sofort angeordnet, daß sämtliche Akten im Büro von INTERKIDS, aber auch in Maywalds Versicherungsagentur abgeholt und geprüft würden. Deshalb der Mannschaftswagen.
»Bloß der Maywald war nich’ da, un’ Wimmer hat ihm ’n Schatten vor’t Haus gestellt, der Bescheid sacht, wenn …« Unten sprang der Motor vom Einsatzwagen an.
»Ah, jetz’ is’ Maywald wieder zu Hause«, freute sich Ackermann.
»Müssen Sie nicht mit?«
»Ach wat, ich fahr mit meine Kiste hinterher. Dann kann ich wens’tens abhauen, wenn die Show gelaufen is’ un’ et bloß öde wird.« Aber er sprang dann doch auf.
»Wie is’ dat jetz’ mit Lowenstijn? Rufen Sie den an? Der will dabei sein, wenn wer den Maywald durch de Mangel drehen, dat hab ich sicher.«
Astrid nickte.
Ackermann war schon an der Tür. »Un’ Chef Toppe müßte auch gefracht werden, ob wer den Maywald jetz’ gleich hops nehmen, oder wat.«
Astrid nickte wieder nur und brachte Ackermann damit aus dem Konzept.
»Ich mein ja nur. Nich’ dat der uns noch durch de Lappen geht, wie damals der Geldek.«
»Wird er nicht«, sagte Astrid. »Ich kann mich selbst um den Haftbefehl kümmern. Da müssen wir gar nicht auf den ’Chef warten. Ich bin nämlich Kommissarin, wissen Sie?«
Ackermann schlug sich auf den Mund. »Oh, oh, Zoff inne Bude. Ich hab dat doch die ganze Zeit gemerkt, dat Sie wat haben. Wenn ich et nich’ so eilich hätt’ … Wissen Se wat? Et müßt Sie ma’ einer feste inne Arme nehmen, wenn Se mich fragen.«
Als Toppe bei der Hausnummer 96 angekommen war, konnte er die Leute gut verstehen, die es vorzogen, in einer Großstadt zu leben. Die Hamstraße war ein Dorf. Jeder wußte alles über jeden, oder glaubte das zumindest. Nicht daß die Leute ihm besonders viel erzählt hätten, Gott bewahre! Sie begegneten ihm mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht. Sie waren auf der Hut, so als ginge es ihm insgeheim darum, ihnen auf die Schliche zu kommen. Daran war er gewöhnt – wenn das Wort Kripo fiel, waren die wenigsten Leute entspannt, geschweige denn offen. Meistens machte ihm das nichts aus; er fragte sich grinsend, welch dunkle Geheimnisse die Leute glaubten, hüten zu müssen. Manchmal aber ging es ihm auf die Nerven, heute ganz besonders. Keiner hatte am Sonntag morgen etwas Verdächtiges beobachtet, das glaubte er ihnen sogar, aber als er nach Heiderose Jansen fragte, kam nichts als falsche Anteilnahme, Heuchelei kübelweise, so daß ihm ganz schlecht davon wurde.
Man beobachtete ihn, wie er von Haus zu Haus ging, die Gardinen bewegten sich.
Hausnummer 96, das waren Kleinmanns, die unmittelbaren Nachbarn der Jansen, von denen Frau Joosten gesagt hatte, sie hätten wegen des Gartens im Streit gelegen. Als er über den plattierten Weg ging, auf dem es kein Tüpfelchen Moos, keinen vorwitzigen Grashalm gab, konnte er Heiderose Jansen fast verstehen.
Herr Kleinmanns war noch nicht von der Arbeit zurück, aber die Frau bat ihn, nachdem sie ihn von Kopf bis Fuß gemustert hatte, herein. Eine Frau in den Fünfzigern, wie aus dem Ei gepellt. Das Haus war so vollgestopft mit Seidenblumensträußen, Tiffanybildern und Porzellantellern und -figuren, daß Toppe sich möglichst wenig umschaute. Er lehnte den Likör ab, setzte sich auf die Kante des wuchtigen Sessels – braunes Leder und Eiche – und stellte seine erste Frage. Nein, sie hatten nichts gehört oder gesehen am Sonntag morgen. »Anständige Leute schlafen um diese Zeit.« Sie waren erst durch die Feuerwehr geweckt worden. Als er nach Frau Jansen fragte, schlug ihm Haß entgegen. Wenigstens mal ein echtes Gefühl, dachte er und hielt den Mund, die Frau war sowieso nicht mehr zu bremsen.
»Vor bösen Nachbarn und vor bösem Wetter kann man nicht weglaufen, hat meine Mutter immer gesagt. Und recht hat sie gehabt. Die Jansen hat uns das Leben zur Hölle gemacht. Immer wegen dem Garten. Zweimal hat sie meinen Mann sogar angezeigt. Ist natürlich nichts bei rausgekommen. Aber für meinen Mann mit seinem kaputten Magen ist so was Gift. Ich weiß genau, was Sie jetzt denken!« Der kindische Trotz in ihren Augen paßte nicht zu ihrem glatten Gesicht. »Aber so primitiv sind wir nicht. Wir haben den Brand nicht gelegt!«
»Woher wollen Sie denn wissen, daß der Brand gelegt worden ist?«
»Ach, kommen Sie, uns können Sie doch nicht für dumm verkaufen! Wir haben so was jedenfalls nicht nötig. Wir wollen nämlich jetzt einen Anwalt einschalten, wegen dem Unkrautsamen, der von deren Wiese immer zu uns rüberfliegt. So was lassen wir uns nicht mehr bieten!«
»Das Problem hat sich ja jetzt erledigt.«
Der Timmersche Hof lag eigentlich zu weit weg von der Straße, als daß die Leute etwas beobachtet haben konnten, aber man wußte ja nie, immerhin standen Bauern sehr früh auf. Als Toppe den Schotterweg hochkam, schlugen Hunde an. Ein kleines Mädchen stand an der Hauswand und fuhr mit dem Zeigefinger die Fugen nach.
»Guten Tag«, grüßte Toppe munter.
Sie sah nicht auf. »Guten Tag, guten Tag, guten Tag.« wiederholte sie monoton mit fadendünner Stimme.