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»Die Timmers?«
Toppe wunderte sich, daß Frau Derksen so alarmiert klang.
»Wie lange machen Sie schon diesen Job?« fragte er.
»Ich? Vierzehn Jahre. Wieso?« Dann lächelte sie. »Haben Sie meine Sorge rausgehört? Stimmt, bei der Arbeit, die ich mache, ist die Gefahr, daß man abstumpft, schon sehr groß. Aber ich habe mir geschworen, wenn mir das passiert, lasse ich mich sofort versetzen. Bei Ihrem Beruf dürfte das doch ganz ähnlich sein.«
»Ja«, Toppe hatte die Frau gleich gemocht, »aber die meisten lassen sich leider nicht versetzen.«
Sie legte die Hand auf einen roten Aktendeckel auf ihrem Schreibtisch. »Wie Sie sehen, stecke ich gerade mitten in dem Fall Timmer. Einen Moment.« Sie setzte eine Halbbrille auf.
»Das erste Mal hatte ich im Oktober 1991 mit der Familie zu tun.«
»Warum?«
Ein langer Blick über den Brillenrand.
»Frau Jansen. Aber lassen Sie mich anders anfangen. Die Timmers haben sechs Kinder, das heißt, damals waren es noch fünf. Die beiden ältesten wohnen jetzt nicht mehr zu Hause. Sonja ist sechzehn und macht im Augenblick eine Hauswirtschaftslehre in Angelmodde, und Jens hat vor drei Monaten, an seinem achtzehnten Geburtstag, seine Sachen gepackt und ist nach Berlin gezogen. Der Junge war 1991 der Anlaß für uns, uns um die Familie zu kümmern.«
Jens, damals nicht mal fünfzehn, war eines Abends betrunken nach Hause gekommen. Sein Vater hatte ihm ein paar saftige Ohrfeigen verpaßt, ihn dann draußen auf dem Hof liegen lassen und die Haustür abgeschlossen. Heiderose Jansen hatte das beobachtet und sich gleich am nächsten Morgen an das Jugendamt gewandt. Sie wollte schon häufiger gesehen haben, daß Timmer seine Kinder mißhandelte.
»Wir sind der Sache sofort nachgegangen. Die Kinder wirkten vernachlässigt, aber mit Sicherheit wurden sie nicht mißhandelt. Die Familiensituation war insgesamt schwierig. Frau Timmer schien überfordert mit den Kindern und der Arbeit auf dem Hof – die kleine Hanna war da erst ein paar Monate alt – und ihr Mann war ihr sicherlich keine Hilfe.«
Die Rollen in der Familie Timmer waren klassisch verteilt, der Erziehungsstil des Vaters hart, und die Mutter setzte dem nichts entgegen.
»Am auffälligsten war für mich, daß der Vater kaum eine emotionale Beziehung zu den Kindern zu haben schien, aber ich konnte das nicht näher überprüfen, denn Herr Timmer hat jedes Gespräch mit mir abgelehnt. Das meiste habe ich von Sonja erfahren, an Jens kam man überhaupt nicht heran. Für den Vater war es völlig normal, daß die Kinder von klein an auf dem Hof mitarbeiteten und spurten. Widerworte wurden nicht geduldet, sondern mit Ohrfeigen geahndet. Ohrfeigen, keine schwere Prügel. In der Hinsicht konnte ich also nichts unternehmen. Ich habe ihnen dann aber eine Familienhilfe vermittelt.«
Toppe hatte davon noch nie etwas gehört.
»Wir sind ganz froh, daß es diese Leute gibt, meist Sozialpädagogen. Sie gehen in die Familien, oft sogar täglich, und geben ganz konkrete Lebenshilfe. Es gibt Familien, die mit dem ganz normalen Alltag nicht fertig werden, putzen, kochen, waschen, einkaufen, Behördengänge, vor allem Kindererziehung. Die Familienhilfen üben diese Dinge, führen Gespräche und trainieren Konfliktlösungen. Bei Timmers haben wir die Hilfe aber nach zwei Monaten abgebrochen. Sie war einfach überflüssig. Ihren Alltag kriegte das Ehepaar bewältigt, und Gespräche waren nicht möglich. Frau Timmer sagte zu allem ja und amen, und ihr Mann verweigerte sich einfach.«
»Und das war’s dann?«
»Für damals ja.«
»Und jetzt hat sich Frau Jansen wieder bei Ihnen gemeldet.«
»Ja, vor vier Wochen. Es geht um die kleine Hanna, und diesmal ist der Fall schwieriger und ziemlich traurig. Hanna ist autistisch.«
»Ja«, sagte Toppe. »Eine Nachbarin sagte das. Ich muß gestehen, daß ich nur sehr vage Vorstellungen von Autismus habe.«
»Es ist ja auch eine rätselhafte Störung«, bestätigte Frau Derksen. »Man ist noch nicht einmal ganz sicher, woher sie kommt, aber man geht inzwischen davon aus, daß sie nicht durch Elternverhalten ausgelöst wird. Für autistische Kinder ist die Welt ein unerklärlicher und sehr beängstigender Ort. Sie sind emotional unempfänglich und vermeiden es aktiv, Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen. Sie reagieren selten auf die Sprache der anderen und sprechen selbst kaum, und wenn, dann auf eine seltsame Art.«
Toppe erinnerte sich gut.
»Außerdem zeigen diese Kinder ein stereotypes Verhalten, bei dem sie darauf bestehen, daß ihre Umgebung sich nicht verändert.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und überlegte.
»Es ist immer schwierig, so was in Kurzfassung zu bringen. Auf jeden Fall müssen autistische Menschen nicht zwangsläufig geistig behindert sein, und es ist durchaus möglich, sie zu fördern. Und deshalb ist Frau Jansen zu uns gekommen. Sie fand, daß das Kind verwahrlost sei und zu Hause keinerlei Förderung bekäme. Und so habe ich dann tatsächlich mal ein Gespräch mit Herrn Timmer geführt. Er ist sogar hierher gekommen. Wissen Sie, es ist verrückt, aber zu diesem Kind hat der Mann eine sehr starke emotionale Bindung, und er wehrt sich mit Händen und Füßen, das Mädchen von zu Hause wegzulassen. Im Grunde kann ich das sogar verstehen, denn wenn man bei autistischen Kindern ihre Gewohnheiten durchbricht oder ihre Umgebung verändert, geraten sie in Verzweiflung und Panik.«
»Und was haben Sie unternommen?«
»Ich mußte mich erst mal sachkundig machen. Es gibt spezielle Heime, in denen diese Kinder leben können und gefördert werden. Ich habe Herrn Timmer angeboten, sich eine solche Einrichtung mit mir zusammen anzusehen, aber das hat er abgeblockt. Er sei bereit, es auf einen Prozeß ankommen zu lassen, sagte er mir.«
»Was für ein Prozeß?«
»Er geht wohl davon aus, daß wir ihnen das Mädchen wegnehmen wollen.«
»Und? Wollen Sie?«
»Nein, aber ich bin der Ansicht, daß das Kind auf jeden Fall gefördert werden muß. Hanna ist wach und intelligent, trotz der Störung. Ich will erreichen, daß sie wenigstens halbtags eine Behinderteneinrichtung hier in Kleve besucht.«
»Weiß Herr Timmer das schon?«
»Nein, ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.«
Toppe zögerte. »Vielleicht sollten Sie das bald tun«, sagte er dann doch.
»Ja, ich weiß. Der Mann leidet unter der Situation. Aber ich habe ja erst gestern einen Platz für Hanna gefunden.«
Toppe ließ sein Auto auf dem Parkplatz und ging durch den Moritzpark zum Kermisdahl hinunter. Direkt am Wasser stand eine Holzbank. Er setzte sich, stützte die Ellbogen auf die Knie und ließ die Hände baumeln.
Frau Derksens Geschichte brachte Ewald Timmer auf der Liste der Verdächtigen ziemlich weit nach oben. Da hätte Walter dann auch seinen klassischen Racheakt. Dem Timmer war so was zuzutrauen. Toppe schnaubte. Was hieß das schon. Bei Fred Jansen hatte er schließlich auch daneben gelegen, und wenn Heinrichs nicht gewesen wäre. Es fuchste ihn gewaltig. Ausgerechnet ihm passierte so ein blöder Fehler. Dabei hatte er sich immer auf seine Intuition verlassen können. »Ich werd alt und eitel«, murmelte er. Tatsache war, er hatte sich getäuscht, hatte dem Mann geglaubt. Tatsache war, Fred Jansen hatte gelogen. Aber warum? Warum sollte er lügen, wenn er wirklich nichts mit dem Brand zu tun hatte?« Die Antwort lag ja wohl auf der Hand. Vermutlich hatte Norbert den Mann längst weichgeklopft, und das Geständnis war schon unterschrieben. Zu den Akten. Wie Günther und die Kinder. Ein schepperndes Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Oben auf dem Weg torkelte ein dreckiger alter Mann heran. Sein Fahrrad hatte er mitsamt der prallen Plastikbeutel einfach ins Gebüsch fallen lassen. »Haste ’ne Mark?« lallte er.
Toppe sprang auf. »Sieh zu, daß du Land gewinnst, du Penner!« brüllte er und lief den Weg hinauf. Auf halber Strecke blieb er stehen und schüttelte den Kopf. Wie war das noch mit dem Abstumpfen? »Ich sollte eine Kur beantragen und mich versetzen lassen«, sagte er laut und zündete sich eine Zigarette an. Aber die machte den bitteren Geschmack in seinem Mund nur schlimmer.
Sein Autotelefon bimmelte.
»Van Gemmern hier. Düsseldorf hat gerade die Baskenmütze geschickt. Das Abzeichen ist vom Schäferhundverein.«
»Schäferhundverein?« fragte Toppe verblüfft.
»Ja, eine Mitgliedsplakette oder so was. Die haben eine Zeichnung mitgeschickt, eine Rekonstruktion. Ich bin selbst gleich nicht mehr da. Soll ich Ihnen den Kram auf den Schreibtisch legen?«
»Laß uns das ganze wasserdicht machen, sonst redet der sich bloß raus«, hatte Heinrichs gemeint und war in die Hamstraße gefahren. Schon nach zwanzig Minuten hatten sie drei Leute gefunden, die Fred Jansen am Samstag abend gesehen und sich sogar mit ihm unterhalten hatten. Er war mit dem Fahrrad unterwegs zu seiner Frau gewesen. Die genaue Uhrzeit war nicht festzustellen. Irgendwann nach der Tagesschau und vor dem Aktuellen Sportstudio.
Sie holten Jansen bei seiner Arbeitsstelle ab. Er hatte Schalterdienst, und sie mußten eine Zeitlang warten, bis er einen Vertreter gefunden hatte. Dann ließ er sich, ohne eine einzige Frage zu stellen, mit ins Präsidium nehmen.
Van Appeldorn führte die Vernehmung, aber da war erst mal nicht viel weichzuklopfen.
»Ja, ich habe gelogen«, gab Jansen zu. »Und Sie sehen selbst, warum. Es passiert genau das, was ich gedacht hatte. Sie verdächtigen mich.«
»Richtig«, sagte van Appeldorn. »Trotzdem erklärt das nicht, warum Sie gelogen haben.«
Jansen seufzte nur. »Ich habe das beste Motiv, sag ich doch. Aber ich war es nicht.«
»Langsam«, hob van Appeldorn die Hand. »Jetzt fangen wir ganz von vorne an, und schön der Reihe nach, wenn ich bitten darf. Was ist am Samstag passiert?«
Jansen fügte sich in sein Schicksal. »Ein Freund von mir hat ein Wohnmobil, das ich mir manchmal ausleihen kann. Und jetzt wollten die Kinder in den Herbstferien unbedingt mal mit dem Ding durch die Gegend reisen. Mit mir. Das Problem war nur die Besuchsregelung. Ich habe die Kinder jedes zweite Wochenende und drei Wochen im Sommer. Punkt. Aber Kassy hat so lange gequengelt, bis ich mich habe breitschlagen lassen, mit Heidi zu reden. Hätt’ ich mir natürlich schenken können.«
»Sie haben sich also gestritten.«
»Natürlich haben wir gestritten. Wir haben immer gestritten.«
»Was passierte dann?«
Jansen hatte auf einmal Tränen in den Augen. »Sie lachte sich kaputt. Könnte ich mir alles von der Backe putzen. Und überhaupt würde sie dafür sorgen, daß das Besuchsrecht neu geregelt würde. Ich hätte einen schlechten Einfluß auf die Kinder. War ja sowieso der letzte Penner.« Er sah Heinrichs an. »Und da bin ich total ausgerastet. Ich hab ihr mitten ins Gesicht geschlagen, so feste ich konnte. Ich habe noch nie jemanden geschlagen.«
»Aha«, sagte van Appeldorn, aber Jansen nahm ihn gar nicht wahr.
»Sie blutete aus der Nase und am Mund. Ich bin gegangen und hab gewußt: das war’s. Die rennt sofort zum Arzt und zur Polizei, und die Kinder krieg ich dann nicht mehr zu sehen.«
»Na also, jetzt sind wir endlich auf dem Punkt«, lächelte van Appeldorn. »Was hatten Sie für eine Wahl? Sie mußten sie wohl oder übel zum Schweigen bringen.«
Jansen sah ihn groß an, und dann brach er plötzlich in ein ungesundes Gelächter aus. »Merken Sie, was hier abgeht? Die verfolgt mich noch über den Tod hinaus!« Er sah auf seine Hände und kicherte wild. »Die werd ich nie los. Ich krieg deren Tod angehängt, und die sitzt da oben und lacht sich kaputt.«
Das war normalerweise der Zeitpunkt, an dem für van Appeldorn ein Verhör erst losging, aber Heinrichs schüttelte energisch den Kopf und zog ihn mit auf den Flur.
»Der Mann ist fertig.«
»Eben«, freute sich van Appeldorn. »Was meinst du, wie schön der gleich singt.«
»Ja, ja«, brummte Heinrichs. »Und morgen widerruft er alles wieder. Wir machen jetzt Schluß.«
»Es ist zwar meschugge, aber wie du meinst.« Damit war van Appeldorn schon wieder reingegangen. »Nun denn, Jansen, wollen wir mal nicht so sein. Besorgen wir dir erst einmal ein hübsches Einzelzimmer für die Nacht. Vielleicht fällt dir bis morgen früh alles wieder ein.«
Toppe saß im Büro und sah ihnen erwartungsvoll entgegen. »Habt ihr Jansen angetroffen?«
»Ich hör immer angetroffen.« Van Appeldorn ließ sich in den Sessel fallen. »Den haben wir gerade eine halbe Stunde lang vernommen, und jetzt sitzt er in der Zelle.«
»Er hat also gestanden«, sagte Toppe und konnte es nicht begreifen.
»I wo«, antwortete Heinrichs. »Ich konnte Norbert gerade noch davon abhalten, ihn durch die Mangel zu drehen. Übrigens habe ich denselben Eindruck wie du: der Mann war es nicht.«
»Ja, Himmel, Arsch und Zwirn«, brüllte van Appeldorn. »Du hast ja wohl den Kopf am bluten, Walter. Jansen war doch deine eigene Idee. Wo bin ich hier eigentlich? Bei der Kripo oder beim Wahrsagen? Eindruck, Glauben, Gefühl! Karten hab ich gerade keine hier, aber vielleicht findet ihr ja noch ein bißchen Kaffeesatz in der Maschine da.«
»Ihr hättet ihn fragen sollen, ob er Mitglied im Deutschen Schäferhundverband ist«, sagte Toppe ruhig und hielt ihnen die Baskenmütze und die Rekonstruktion hin.
»Der Klever Hundeverein hat jeden Samstag Stammtisch im Ratskrug. Ich gehe da morgen abend auf alle Fälle mal hin.«
»Stuß«, knurrte van Appeldorn. »Die Mütze kann sonst wer verloren haben. Wieso ausgerechnet der Täter?«
»Und was jetzt?« fragte Heinrichs. »Hat Astrid sich gemeldet?«
»Ja, gerade eben«, antwortete Toppe. »Negativ bis jetzt. Ich habe sie ins Wochenende entlassen. Und jetzt, fragst du? Als erstes lassen wir Fred Jansen wieder laufen. Wir haben keine Handhabe, ihn festzuhalten, Norbert. Gerade mal bis morgen früh. Und was soll das bringen? Ja«, wehrte er van Appeldorns Einwand ab, »ich weiß, er hat ein Supermotiv, aber wir haben keine Beweise, nicht einen einzigen. Und wo willst du die bis morgen früh herkriegen?«
Van Appeldorn drehte sich auf dem Absatz um. »Macht doch, was ihr wollt!«