21
Die Tage reihten sich aneinander. Sie trafen sich zwar jeden Abend, aber sie redeten kaum, schrieben ihre Berichte, gingen nach Hause, den nächsten gleichförmigen Tag vor Augen. Keiner von ihnen konnte sich für diesen Teil ihres Jobs begeistern: das Herumstochern, ohne zu wissen, wonach man genau suchte. Die vielen Menschen, denen sie die immer gleichen Fragen stellen mußten. Es war nicht leicht, dabei aufmerksam zu bleiben. Und es war fast unmöglich, seine gute Laune zu behalten. Alle warteten auf irgendeine Wende, eine Entdeckung, ein Ereignis. Die einzige Abwechslung war der Rummel in der Presse. Nachdem die Geschichte im stern erschienen war, stand jetzt auch in den Lokalblättern fast täglich wieder etwas über Kinderhandel und Polizistenmorde. Sie konnten es schon nicht mehr sehen. Van Appeldorn ertappte sich dabei, daß er sich wünschte, Ackermann wäre öfter mal da, damit man wenigstens was zum Lachen oder Lästern hatte. Aber Ackermann ließ sich selten blicken. Meist kam er, wenn Heinrichs allein im Büro war und an seinen Theorien bastelte, gab einen blumigen Bericht ab und machte sich wieder an die Arbeit.
Toppe hatte noch am wenigsten Probleme mit der schnöden Routine. Er war aber auch der einzige im K 1, der sich von unten bis zur Kripo hoch gearbeitet hatte. Alle anderen waren gleich nach dem Abitur in die mittlere Beamtenlaufbahn eingestiegen. Helmut Toppe war jahrelang bei der Schutzpolizei gewesen, bevor er das Abitur am Abendgymnasium nachgeholt hatte; da bekam man ein dickeres Fell, was diese Art von Arbeit anging.
Inzwischen war es schon Donnerstag abend, und heute war sogar Ackermann gekommen. Er hatte sich mit dem Playboy in eine Ecke verzogen, als er sie alle an ihren Berichten sitzen sah. »Ich stör euch nich’. Wat ich zu sagen hab, kann warten.«
Heinrichs las und tat innerlich Abbitte. Es hatte zwar bis heute gedauert, aber dafür war Stasis Bericht perfekt, und er enthielt eine wichtige Information, mit der Walter Heinrichs sofort rausplatzte: »Hört mal eben alle zu!«
Die Papiere, die sie in Holland bei den Balkankindern gefunden hatten, waren ganz besonders gute Fälschungen. Sie waren sogar bei Gericht durchgegangen, ohne daß irgend jemand auch nur den leisesten Verdacht geschöpft hatte. Lowenstijn hatte in Utrecht einen Experten aufgetrieben, der sich auf diese Art von Fälschungen spezialisiert hatte.
»Ej«, rief Ackermann. »Genau dat wollt ich auch erzählen. Der Typ war gestern in Nimwegen bei Lowenstijn, da hab ich den kennengelernt. Dat is’ vielleicht ’n Männeken! Total verschroben. Echt so, wie man sich ’n Spezialisten vorstellt, irgendwie schrumpelig un’ ganz kleine Äugskes hinter ’ner dicken Brille.«
Ackermann zeigte keinerlei Regung, als van Appeldorn ihn spöttisch musterte und seinen Blick bei der starken Brille verweilen ließ. Toppe fragte sich, ob er es nicht bemerkte. Er hatte oft das Gefühl, daß Jupp Ackermann wesentlich mehr mitkriegte, als sie alle so glaubten.
»Warum hat mir eigentlich keiner gesacht, dat der Wim Lowenstijn ’ne deutsche Mutter hat?« fragte er vorwurfsvoll in die Runde. »Ich brech mir da einen ab, von wegen Nederlands praten un’ frach mich, wat der immer so grinst. Gut, hat vielleicht ’n Narren an dir gefressen, denk ich no’ so. Zwei Tage hat der Kerl mich schmoren lassen un’ sich ’n Ast gelacht. Aber sons’ läuft dat klasse mit uns.«
Sie waren längst beim ’Du’ angelangt und tauschten sich regelmäßig aus über die Halter der roten Mercedes aus der C-Klasse, die sie überprüft hatten.
»Sind doch mehr, wie ich gedacht hab. Dat sind vielleicht Typen, sach ich euch«, schüttelte er sich. »Aber au’ nich’ ein normaler Mensch dabei.«
Van Appeldorn zog aufatmend die letzte Seite seines Berichts aus der Maschine. Das vierundzwanzigste Paar, das er besucht hatte. Eigentlich gehörten die Leute schon gar nicht mehr auf die Liste, denn die Adoption war vor drei Wochen rechtskräftig geworden. Auch sie hatten über INTERKIDS ein Kind aus Bulgarien bekommen, einen Jungen, der jetzt zwei Jahre alt war. Van Appeldorn war viel länger geblieben als nötig und hatte mit dem Kleinen geschäkert und erste Fußballversuche gemacht. Er selbst hatte ja nur Mädchen.
Er legte die Blätter aufeinander, reichte sie Heinrichs rüber und lehnte sich zurück. Jetzt nach Hause in die leere Wohnung? Marion hatte sich doch noch durchgerungen und war mit den Kindern allein nach Dänemark gefahren, aber sie hatte schon dreimal angerufen und sich beklagt, wie öde es sei, und Müll am Strand, und die Kinder hätten ständig die Füße voller Teer. Sie erwartete, daß er spätestens Anfang nächster Woche nachkam. Er reckte sich. Vielleicht saßen ja ein paar Fußballkumpel in der Vereinskneipe.
Heinrichs packte van Appeldorns Bericht oben auf den Stapel: Nummer 63 Elterngespräche. Er stutzte, las noch einmal und fing an, in den Papieren zu wühlen. Zwei der Stapel gerieten ins Rutschen und kladderten zu Boden. Toppe räusperte sich tadelnd, aber das interessierte Heinrichs überhaupt nicht; er hatte gefunden, was er suchte.
»Ich bringe das gleich schon in Ordnung, muß sowieso noch mal alles durchgehen. Aber hört mal, es geht doch um Balkankinder. Wir haben hier zweimal Bulgarien: Astrids Familie mit den Zwillingen, die Schimmelpfennigs, und jetzt Norbert heute. Und beide Adoptionen laufen über INTERKIDS. Sollten wir uns nicht doch mal deren Kartei besorgen?«
Toppe sah ihn nachdenklich an.
»Nicht?« fragte Heinrichs. »Ich meine, das sind die einzigen Kontakte zum Balkan, auf die wir bis jetzt gestoßen sind.«
»Doch, doch, du hast völlig recht«, antwortete Toppe.
»Maywald wird höchst begeistert sein«, meinte Astrid.
»Der hat doch diesen Tick mit dem Datenschutz.«
Van Appeldorn fand das erfreulich. »Hat jemand was dagegen, wenn ich morgen früh die Kartei hole?«
»Und die Papiere der Kinder aus Bulgarien sollten wir uns auch besorgen«, überlegte Toppe.
Flintrop stand plötzlich im Zimmer. Keiner hatte ihn anklopfen hören. »Herr Toppe, können Sie mal mit runterkommen auf die Wache?«
»Was ist denn?« fuhr Toppe ihn unwirsch an.
»Kommen Sie doch einfach.« Flintrop sah bedrückt aus.
Als sie auf dem Gang waren, rückte er endlich mit der Sprache raus: »Ihr Sohn. eine unangenehme Geschichte.«
»Christian? Ist ihm was passiert?«
»Na ja, passiert, so kann man es eigentlich nicht nennen. Er ist im Kaufhaus erwischt worden, als er einen Walkman mitgehen lassen wollte. Leider haben die gleich Anzeige erstattet.«
Christian Toppe saß breitbeinig, weit zurückgelehnt, die Hände in den Taschen auf der schmalen Bank an der Wand und sah langsam hoch, als sein Vater hereinkam. Toppe unterdrückte den Impuls, ihn zu packen und ihm mit aller Kraft ins ausdruckslose Gesicht zu schlagen. Statt dessen griff er sich Christians Rucksack, der auf dem Tresen lag und schleuderte ihn dem Jungen vor die Brust.
»Steh auf!«
Christian erhob sich.
Die Kollegen sahen betreten vor sich hin.
»Ich fürchte«, meinte Flintrop, »wir können da nichts dran drehen.«
»Dran drehen?« Toppe fuhr zu ihm herum. »Ich hoffe, die verknacken ihn zu einem saftigen Sozialdienst.« Und leiser dann zu seinem Sohn: »Geh zum Auto.«
Mechanisch setzte sich der Junge in Bewegung.
Der Knoten in Toppes Magen löste sich plötzlich, und langsam stieg die Übelkeit nach oben. »Herr Flintrop, würden Sie Frau Steendijk Bescheid sagen.«
»Aber klar, Chef.«
Betonschweigen auf der Fahrt zu Gabi.
Toppe klingelte Sturm.
»Ja, Himmelherrgott noch mal«, hörte er seine Exfrau im Flur schimpfen.
Sie riß die Augen auf, als sie die beiden vor der Tür stehen sah. Toppe versetzte seinem Sohn einen harten Stoß in den Rücken. »Geh in dein Zimmer!«
Der Junge stellte seinen Rucksack ab, bückte sich und begann, langsam seine Springerstiefel aufzuschnüren.
»Geh sofort in dein Zimmer, oder ich trete dir in den Arsch«, brüllte Toppe.
»Bist du noch ganz gescheit?« Gabi war zwar verwirrt, aber ihre Augen funkelten wütend.
Christian schlorrte die Treppe hoch.
»Gib mir einen Schnaps.« Toppe ging ins Wohnzimmer und ließ sich in einen Sessel fallen. Er war lange nicht hier gewesen, und vieles hatte sich verändert, aber das nahm er gar nicht wahr.
Wortlos ging Gabi zum Schrank, goß einen Whisky ein und hielt ihm das Glas hin. Er trank einen kleinen Schluck und erzählte ihr, was passiert war. Sie legte die Hände über das Gesicht, sagte nichts. Dann ging sie zur Tür und rief ihren Sohn. Es dauerte nur Sekunden, bis Christian im Zimmer stand. »Ich hab Mist gebaut.«
»Mist gebaut?« schrie Toppe drohend.
Der Junge hielt den Blick gesenkt. »Tut mir leid, Mama«, flüsterte er.
Sie berührte ihn kurz an der Schulter. »Geh wieder nach oben. Wir reden später darüber.«
Dann setzte sie sich Toppe gegenüber. »Ich glaube, es ist nicht das erste Mal, daß er klaut. Letztens kam er mit brandneuen, teuren Turnschuhen und behauptete, die habe er von einem Freund. Und ein paarmal hatte ich auch den Eindruck, daß mir Geld im Portemonnaie fehlt. Ich bin bloß nicht drauf gekommen, daß eins von den Kindern mich bestiehlt.«
Sie hatte sich wirklich sehr verändert. Früher hätte sie in so einer Situation geheult und ihm Vorwürfe gemacht, aber jetzt war es so, daß sie Toppe ein bißchen von seiner Hilflosigkeit nahm.
»Was willst du tun?« fragte er.
Sie zuckte kurz mit den Augenbrauen. »Was schlägst du vor?« antwortete sie. »Hausarrest, kein Besuch von Freunden? Engmaschige Kontrolle, zur Schule bringen und abholen?«
Er zuckte die Schultern.
»Ich glaube, das Grundproblem konnte man an deiner Frage erkennen, Helmut.«
Er verstand nicht.
»Was sollen wir tun, das wäre die richtige Frage gewesen.«
»Aber ich fühle mich wirklich für ihn verantwortlich«, verteidigte er sich. Sie lachte. »Das merkt man kaum.«
Er war irritiert. »Wieso kannst du eigentlich so ruhig bleiben?«
»Ich tu, was ich kann, Helmut. Und wenn das nicht reicht, dann ist es eben Pech. Die Zeit der Selbstvorwürfe, die habe ich hinter mir.« Jetzt klang sie doch bitter.
Er erzählte, wie es in Frankreich gewesen war. »Ich kann mir ein Bein ausreißen, aber der Junge läßt mich einfach nicht an sich ran.«
»Es wird dir wohl nichts anderes übrig bleiben, als es trotzdem weiter zu versuchen.«
Er unterdrückte eine scharfe Entgegnung. »Also gut, noch mal: was sollen wir tun?«
»Reden«, sagte sie. »Mit ihm sprechen, uns um ihn kümmern, beide.«
Als sie jetzt von dem Jungen erzählte, stellte er bestürzt fest, wie wenig er tatsächlich von dessen Leben wußte. Er hatte nicht einmal mitgekriegt, daß Christian zum zweiten Mal sitzen geblieben war.
»Heute war die Nachprüfung«, seufzte Gabi. »Aber ich glaube kaum, daß er die gepackt hat. Oder hat er bei dir in Frankreich mal in seine Bücher geguckt?«
Ihm war hundsmiserabel. »Ich glaube, bei mir fängt die Zeit der Selbstvorwürfe jetzt erst an.«
Sie schüttelte den Kopf. »Glaub mir, das bringt überhaupt nichts.«
»Ich weiß, aber ich war verdammt egoistisch, als ich damals gegangen bin.«
»Stimmt«, antwortete sie schlicht. »Und ich habe auch lange gebraucht, bis ich dir das nicht mehr übelgenommen habe. Aber heute denke ich: wer sagt denn, daß es mit Christian anders gelaufen wäre, wenn wir uns nicht getrennt hätten?«