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Am Mittwoch entschied sich dann auch Berns, zur Beerdigung zu fahren, und so waren sie nun mit Toppe, van Appeldorn, Ackermann, Astrid und Heinrichs zu sechst und hätten zwei Pkws gebraucht, wenn Ackermann nicht die Idee gehabt hätte.

»Mein Neffe hat ’n VW-Bus. Wenn ich den ma’ nett frach, dann leiht der mir den bestimmt. Da passen, glaub ich, neun Leute rein. Wir könnten sogar noch den Alten mitnehmen.«

Aber Siegelkötter hatte längst einen Flug von Schiphol nach München gebucht. »Nach München? Der hat doch ’ne Meise!« Eigentlich war niemand besonders traurig darüber.

Die Beerdigung sollte am Freitag morgen um zehn sein, und da keiner Lust hatte, die Nacht durchzufahren, wollten sie in Breiteneggers Heimatdorf Zimmer mieten und in aller Ruhe schon am Donnerstag mittag losfahren. Leider war im Dorfgasthof nichts mehr frei gewesen, aber im benachbarten Regen hatten sie eine kleine Pension gefunden.

»Ej«, meinte Ackermann spitzbübisch, »wie wär et denn, wenn wir zwei Übernachtungen draus machen? Dann is’ wen’stens noch genuch Zeit, sich wat vom Bayerischen Wald anzukucken. Soll ja echt schön sein, die Ecke. Un’ vielleicht fahrn wir ma’ rüber inne Tschechische Republik. Wat meint ihr?«

Toppe hatte seine Zweifel, daß Stasi diese Dienstreise genehmigen würde.

»Ach wat! Wer viel fracht, kricht dumme Antworten. Die Anträge reichen wir erst ein, wenn wir wieder hier sind. Ham wir einfach vergessen vorher. Kann doch jeden ma’ passieren.«

Sie hatten sich für elf Uhr am Präsidium verabredet, aber wer nicht kam, war Ackermann.

»Vielleicht ist ja was passiert«, meinte Astrid.

Van Appeldorn lachte. »Ackermann passiert nie was. Der hat zwei Schutzengel, und wenn die nicht helfen, hat er immer noch irgendeinen Schwager oder die Nichte von seiner Oma ihrem Bruder in der Hinterhand.«

»Egal, ich ruf ihn mal an.«

Aber bei Ackermanns meldete sich keiner. Berns verschwand grummelnd im Präsidium.

Um Viertel vor zwölf endlich tuckerte der Bus auf den Parkplatz. Astrid blieb vor Staunen der Mund offen: nur der dicke Lack, mit dem man psychedelische Blumenmuster auf den natogrünen Grund gemalt hatte, schien das Blech zusammenzuhalten. Sie konnte sich täuschen, aber irgendwie hing die Schiebetür an der Seite schief in den Angeln.

Ackermann bremste und schwenkte einen Hammer.

»Tut mir leid mit der Verspätung. Ärger mit dem Anlasser. Hab ich aber im Griff jetzt.«

»Wozu braucht der den Hammer?« raunte Astrid.

Toppe stöhnte nur.

»So«, sprang Ackermann aus dem Auto. »Ich hab schon ma’ alle Fenster losgemacht. Sons’ is’ et doch ’n bisken warm in der Kiste.«

Sie starrten ihn an. Die ganze Woche schon war Ackermann in den abenteuerlichsten Verkleidungen erschienen. Für die Wintersachen, die er in seinem Kleiderschrank gefunden hatte, war es zu warm, und so hatte er »improvisieren« müssen. Der krönende Höhepunkt war bisher ein hellrosa T-Shirt seiner ältesten Tochter gewesen, das am Saum und an der Brusttasche mit zarter Spitze besetzt war.

»Macht nix! Wenn einer kommt, zieh ich einfach die Jacke drüber.«

»Die Jacke« war ein ständiger Begleiter: Acrylstrick mit Reißverschluß und Kragen, Baujahr 75, körperbetont, und zu rosa machten sich die blauen und orangen Blockstreifen besonders gut.

Sein heutiger Aufzug hatte allerdings auch alle Chancen, auf einem der ersten Plätze zu landen: ein enges weißes Netzhemd mit halbem Arm und eine hellbraune, oberhalb der Knie abgeschnittene Hose voller Öl- und Farbflecken.

»Wat is’?« fragte Ackermann und folgte ihren Blicken.

»Ach so, meine Arbeitsbux. Is’ nich’ grad der letzte Schrei, aber Manchester hält ja ewig. Auffer Fahrt is’ et doch egal, wenn da ’n paar Fleckskes drauf sind. Kann et jetz’ losgehen?«

»Glaubst du allen Ernstes, daß einer von uns in diese Rostlaube einsteigt?« flachste van Appeldorn. Ackermann tätschelte den Wagen. »Laß ma’, is’ nur äußerlich. Dat Herzken schlägt noch wunderbar.«

Heinrichs packte entschlossen seine Reisetasche, ging nach hinten zum Kofferraum und versuchte, die Klappe zu öffnen – erfolglos. Ackermann wieselte hinzu, ein entschiedener Ruck, offen.

»Da muß man wat bei sagen. Un’ laßt bloß die Finger vonner Schiebetür. Die kann man nur von außen auf un’ zu machen. Jetz’ aber nix wie rein!«

Van Appeldorn hatte es sich schon auf dem Vordersitz bequem gemacht.

»Mann, Mann, Mann, Norbert«, Ackermann wurde immer aufgekratzter. »Benehmen wie ’n Gartenschlauch – krumm un’ dreckig. Nie wat von ’Ladies first’ gehört?«

»Klappe, Ackermann!«

»Ich sitze sowieso nicht gern vorne«, meinte Astrid und krabbelte neben Toppe auf die hintere Bank. Ackermann griff die Schiebetür mit beiden Händen.

»Stop!« rief Heinrichs. »Berns fehlt noch.«

Ackermann war schon losgeflitzt. »Ich geh ma’ kucken. Da is’ ja sowieso no’ wat.«

Berns ging mit großen Augen einmal um den Wagen rum, gab aber keinerlei Kommentar ab.

»Schiebt mal das Gepäck zusammen«, meinte er nur.

»Der Kranz muß noch mit.«

Ackermann schleppte das Monstrum an; ein ausgesucht geschmackloses Exemplar mit roten und gelben Nelken.

»Wenn ihr den abgebt«, sagte Astrid, »dann gehöre ich nicht zu euch.«

Ackermann fand, die Goldschleife sei doch mal was anderes.

Bis Koblenz ging alles gut, das Herzchen schlug wirklich wunderbar.

Ackermann hatte seinen Kassettenrecorder mitgenommen und legte ein Oldieband nach dem nächsten ein. Irgend jemand summte immer mit.

Astrid hatte zwei Thermoskannen Kaffee mitgebracht und jede Menge belegter Brötchen.

»Hausfrauliche Qualitäten würde man bei Ihnen auf den ersten Blick gar nicht vermuten, werte Kollegin.« Selbst van Appeldorn war glänzender Laune.

»Tja«, Astrid war gnädig gestimmt, »mir war schon klar, daß von euch keiner an die Verpflegung denkt.«

Aber sie hatte nicht mit Frau Heinrichs gerechnet. Zum Nachtisch gab es Bienenstich und Äpfel.

Nur Berns muffelte vor sich hin.

»Bernsilein, wat is’ los?« brüllte Ackermann in den Rückspiegel. »Is’ dir ’ne Laus über die Leber gelaufen?«

Die Ader an Berns’ Schläfe puckerte schon die ganze Zeit.

»Ich finde euch zum Kotzen, unglaublich«, platzte es aus ihm heraus. »Wir sind doch nicht auf einer Kaffeefahrt. Diese Musik, das Gelache, und auch noch singen! Es ist pietätlos. Günther ist noch nicht einmal unter der Erde.«

In der plötzlich eingetretenen Stille war van Appeldorns kräftige Antwort nicht zu überhören. Toppe zwang sich, den Mund zu halten. Diese Sorte Heuchelei kannte er zur Genüge von seiner katholischen Schwiegermutter.

Ackermann allerdings ließ die Sache nicht auf sich beruhen. »Ja meinst du etwa, wir wären nich’ genauso traurig wie du? Aber wat nutzt dat denn, wenn wir Trübsal blasen? Davon wird Günther auch nich’ wieder lebendig, oder? Meine Oma hat immer gesacht: Lachen un’ Weinen, dat sind zwei Seiten von derselben Medaille, un’ …«

Van Appeldorn hatte beschlossen, sich heute nicht über Ackermann aufzuregen, aber jetzt wurde es ihm zuviel.

»Ackermann«, preßte er zwischen seinen Zähnen hervor, »bitte keine philosophischen Ergüsse. Dreh die Musik lauter!«

Die Mamas and Papas sangen California Dreamin’, und Astrid wunderte sich über Toppes Textkenntnisse. »Tja, damals lagst du noch in den Windeln.«

Sie faßte ihn um den Nacken, zog seinen Kopf runter und küßte ihn lange. Berns drehte sich weg und sah angewidert aus dem Fenster.

Hinter Koblenz fuhren sie zum Tanken raus, und jetzt verstand auch Astrid, wozu sie den Hammer brauchten. Beim ersten Startversuch gab der Wagen keinen Muckser von sich. Erst als Ackermann sich auf dem Rücken liegend unter den Wagen geschoben und ein paarmal auf den Anlasser geklopft hatte, konnte er den Motor in Gang bringen.

Bei Darmstadt meinte Heinrichs, es sei doch langsam mal Zeit, was Warmes in den Bauch zu kriegen, und Ackermann fuhr die nächste Raststätte an. Sie waren kaum ausgerollt, als Heinrichs schwungvoll die Schiebetür öffnete. Es gab ein helles Knirschen, die Tür glitt ungefähr dreißig Zentimeter weit auf und blieb dann stecken.

Jetzt war Ackermann ernstlich sauer. »Ich hab et euch doch noch extra gesacht: laßt die Finger von der Tür!«

Er rannte um den Wagen herum und betrachtete die Bescherung: die Tür war aus der Halterung gesprungen und ließ sich weder vor noch zurück bewegen. Er fing an, mit dem Hammer herumzuklopfen.

Berns knurrte verächtlich und kletterte über die vordere Sitzbank nach draußen. »Hör auf zu hämmern!« bellte er.

»Du packst hier an!«

Ackermann gehorchte. Mit zwei geübten Handgriffen hatte Berns die Tür wieder gerichtet. Seine Hände waren voller Rost. Vorwurfsvoll schweigend hielt er sie Ackermann unter die Nase. Astrid kicherte unterdrückt: eine tolle Gesellschaft! Ackermann hatte von der Anlasseraktion eine dicke Ölspur auf der Stirn, und seine Brillengläser waren so schmierig, daß er halb blind sein mußte.

Sie konnten sich Zeit lassen mit dem Essen. In der Pension wurden sie nicht vor acht Uhr abends erwartet. Berns taute zum ersten Mal ein bißchen auf und erzählte eine lange, komplizierte Geschichte, in der es um einen Gartenzaun, irgendwelche Tannen und einen Grenzstein ging. Die anderen heuchelten Interesse.

Ackermann kapierte als erster, aber da waren sie schon beim Kaffee. »Paul liegt im Clinch mit seinem Nachbarn. Ja glaub ich et denn!«

Berns schüttelte verwirrt den Kopf. »Was meinst du denn, wovon ich die ganze Zeit rede? Denkt ihr, ich sollte mir jetzt einen Anwalt nehmen?«

Van Appeldorn stand abrupt auf. »Du bist ja bekloppt! Hast du keine anderen Sorgen?« sagte er und gab Berns die Gelegenheit, sich wieder in seinen Schmollwinkel zurückzuziehen.

Sie waren noch keine zehn Kilometer gefahren, als es plötzlich einen irrwitzigen Knall gab. Der Wagen bremste ruckartig ab, der Motor veranstaltete einen Höllenlärm.

Ackermann ließ den Bulli auf dem Standstreifen ausrollen und drehte sich nach hinten, reichlich blaß im Gesicht.

»Was war das denn?«

Berns quetschte sich zur Tür. »Mach mal los!« Die Rolle des Irrenwärters war ihm auf den Leib geschrieben. Ein kurzer Blick auf den Motor genügte.

»Die Verteilerkappe«, brüllte er. »Abgeknallt. Und eine Zündkerze fliegt hier auch noch rum.«

Van Appeldorn brach in schallendes Gelächter aus. »Wie nennst du das jetzt, Ackermann? Herzinfarkt?«

Es half alles nichts, sie mußten zu einer VW-Werkstatt.

Die Autobahnpolizei war hilfsbereit, nannte ihnen einen Betrieb, der ungefähr zwanzig Kilometer entfernt war, und es wäre vermutlich alles kein Problem gewesen, wenn Ackermann bei der Wegbeschreibung besser zugehört hätte. So aber begann das, was später als »Landpartie des Schreckens« in die Annalen des K 1 einging.

Fast zwei Stunden irrten sie unter wahnsinnigem Spektakel und mit einer Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h über friedliche Landstraßen und durch Kuhdörfer. Die Menschen blieben stehen und starrten, hielten sich die Ohren zu.

Im Inneren des Wagens hatte man das Gefühl, man stünde neben einem startenden Düsenjet. Eine Verständigung war nur durch Brüllen möglich, aber davon machten sie reichlich Gebrauch – sie wurden immer alberner. Berns sah aus, als stünde er kurz vor einem Magendurchbruch. Astrid kämpfte mit einem Lachkrampf, bis sie Schluckauf bekam.

Sie hatten Glück – der Automechaniker war ein Tüftler, und er liebte alte Bullis. Aus einer Kiste, in der Hunderte von Kleinteilen herumflogen, zauberte er ein Reduziergewinde hervor und baute es ein.

»Und das hält jetzt?« fragte Toppe.

Der Mann grinste schelmisch. »Tja, das weiß man nie so genau. Entweder das Ding fliegt euch auf den nächsten zehn Kilometern um die Ohren, oder das backt fest und hält ewig.«

»Schöne Aussichten«, murmelte Berns.

»Fahr schön langsam, Ackermann«, van Appeldorn hatten seinen Großvaterton drauf.

Ackermann hielt ihm die Schlüssel hin. »Fahr du doch.«

Er war wirklich unsicher.

»Ich kann mich bremsen«, lehnte van Appeldorn ab.

Astrid griff sich die Schlüssel. »Ich fahre gern Bulli.«

Als sie in der Pension ankamen, war es beinahe Mitternacht.

»Gut, daß Sie angerufen haben«, meinte die Wirtin, »sonst hätte ich Ihre Zimmer längst vergeben.«

Ackermann streckte die Arme hoch, räkelte sich, gähnte laut und hüllte seine Umgebung in eine süßlich warme Schweißwolke. »Ich brauch jetz’ ers’ ma’ so an die fünf Bierkes, damit ich wieder beikomm. Hat hier ir’ndwo noch ’ne Kneipe auf?«

»Wir haben auch einen Schankraum«, meinte die Wirtin pikiert. »Nach Mitternacht ist da allerdings Selbstbedienung.«

»Noch besser«, strahlte Ackermann. »Brauch ich nachher bloß noch die Treppe raufkriechen.«

Berns nahm seinen Zimmerschlüssel und verschwand wortlos nach oben.

»Ich will erst mal duschen«, meinte Astrid, »aber ihr könnt mir schon mal ein großes Bier reservieren. Kommst du mit hoch, Helmut?«

»Ho ho«, wieherte Ackermann und kniff Toppe ein Auge.

Es sollte, bis auf einen kleinen Ausfall, wirklich eine stille Beerdigung werden – eine kurze Messe, der schweigsame Gang über den Friedhof zum Grab, keine Nachfeier.

»Gut, dat wir ihm dat Fell schon gestern versoffen haben. Diese Bayern, komisches Volk.« meinte Ackermann.

Er war heute morgen der erste am Frühstücksbüffet gewesen: perfekt geschnittener schwarzer Anzug, blütenweißes Hemd mit Silberschlips und auf Hochglanz polierte Schuhe.

Van Appeldorn hatte es nicht die Sprache verschlagen.

»Du hast vergessen, deinen Scheitel mit Wasser zu ziehen, Ackermann.«

Siegelkötter hatte alle Mitarbeiter mit Handschlag begrüßt, es geschafft, die Verwandten des Verstorbenen abzudrängen und war an Frau Breiteneggers Seite zum Grab geschritten.

Der Pastor hatte sein Gebet kaum beendet, als Stasi sich schon neben dem Grabhügel aufbaute, einen kleinen Zettel hervorzog und seine Rede hielt, die vor Pathos jämmerlich troff. Einige Trauergäste drückten Taschentücher an die Augen, aber Elli Breiteneggers Gesicht war leer. Als Siegelkötter mit einem erstickten ». einen guten Freund verloren« endete, blieb eine peinliche Stille, die sich endlos zu dehnen schien.

»Keine Nachfeier«, ärgerte sich Ackermann immer noch, als sie zum Bus kamen.

»Wo ist eigentlich Berns abgeblieben?« fragte Toppe.

»Der stand die ganze Zeit hinter mir«, antwortete Heinrichs, »aber dann war er auf einmal weg.«

Astrid entdeckte den Papierfetzen hinter dem Scheibenwischer, ein ausgefranster Kassenbon von einem Klever Baumarkt. Auf der Rückseite: Ich nehme den nächsten Zug nach Hause. P. Berns.