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»Wer hat den Brand gemeldet?«
Toppe fand den Zeitungsboten hinter der Absperrung bei den Anwohnern. Der Junge mußte ungefähr in Christians Alter sein. Er trug am Wochenende den Lohengrin Boten aus.
»Eigentlich samstags, aber gestern war zuerst ein Tennismatch und hinterher bin ich auf eine Fete. Ich hatte dann doch Angst, daß ich Ärger kriege und den Job verliere, deshalb bin ich heute morgen um vier aufgestanden und hab meinen Stapel Blättchen verteilt.« Schon im In de Kamp hatte er Rauch gerochen, aber nirgendwo was entdecken können. »Als ich dann zu dem Haus kam, sah ich Qualm über dem Dach. Ich bin hintenrum gerannt, und da war die ganze Hintertür am brennen, und oben aus dem Fenster kam auch Feuer raus.« Er war sofort zu den nächsten Nachbarn gelaufen, hatte sie aus dem Bett geklingelt und von dort aus die Feuerwehr angerufen. »Joosten hießen die Leute. Die hab ich eben noch hier gesehen.« Er schaute sich um. »Da hinten.«
Frau Joosten hockte auf einer niedrigen Gartenmauer, einen kleinen Jungen auf dem Schoß, ein etwa zehnjähriges Mädchen mit blondem Pferdeschwanz dicht neben sich. Ihr Mann stand ein paar Meter weiter mit ein paar anderen und schwätzte großspurig mit breiten Gesten: »Wenn die mich meine Kettensäge holen ließen, dat Gestrüpp hätt’ ich in Nullkommanix weggemacht.« Toppe kannte die Art. Männer reagierten oft so, nach Unfällen zum Beispiel.
Als er sich vorstellte, kam Herr Joosten sofort dazu. »Ja, das stimmt, Herr Kommissar. Heiderose Jansen heißt die Frau. Ich habe gesehen, wie sie die rausgetragen haben. War ja quasi der erste vor Ort.«
Toppe überlegte wieder, wo er den Namen der Toten schon einmal gehört hatte.
»Die wohnt da schon seit Jahren. Ist aber wohl geschieden.«
Drei Kinder? Ja. Wie alt? Hier sprang das kleine Mädchen ein. »Kassandra geht in meine Klasse. Die ist zehn, Joshua ist sieben, und Merlin ist …« Sie überlegte ernst. »Der ist zwei, aber ich glaube, der hat bald Geburtstag. Ich weiß nicht mehr genau, wann das ist.«
Toppe nickte schmunzelnd.
»Sie wohnen direkt neben der Familie?«
»Ja, in dem weißen Haus.«
»Waren Sie befreundet?«
Der Mann zog die Lippen nach innen, die Frau schaute langsam hoch. »Die Kinder spielen zusammen.«
Es war klar, daß die Leute mit irgend etwas hinter dem Berg hielten, aber es war wohl kaum der rechte Moment nachzuhaken.
Frau Joosten hatte gesehen, daß Heiderose Jansen am Samstag morgen mit den Kindern, einer Reisetasche und Fahrrädern auf dem Dachgepäckträger, weggefahren war.
»Ich habe gedacht, die wäre mal wieder übers Wochenende zu ihren Eltern«, meinte sie. »Hast du gesehen, daß sie zurückgekommen ist?« Ihr Mann schüttelte den Kopf.
Das kleine Mädchen wußte mehr. Kassandra hatte ihr erzählt, daß ihre Mutter übers Wochenende ein Zimmer leer räumen und herrichten wollte, weil am Montag ein Mann einziehen sollte.
»Ein Mann?« fragte Toppe.
Herr Joosten lachte laut. »Schon wieder! Wissen Sie, Herr Kommissar, die Jansen hat irgendwie so ’ne soziale Macke. Immer wenn irgendwo ein Ehemann zu Hause rausfliegt, dann öffnet sie ihre Pforten. Obwohl …«, er senkte die Stimme, »ich frag mich ja, ob es nur die Pforten.«
»Kurt!« zischte seine Frau ihn an.
Toppe erinnerte sich an eine unangenehme Pflicht und nahm seinen Notizblock. »Kennen Sie die Adresse der Eltern?«
»Nein«, antwortete Frau Joosten. »Ich weiß nur, daß die in Rees wohnen.«
»Und wie die mit Nachnamen heißen?«
»Ich meine, die hießen auch Jansen.«
Das Mädchen nickte bestätigend.
»Was ist mit dem Vater der Kinder? Wohnt der in Kleve?«
Schulterzucken. Toppe sah die Tochter an. »Ja, der wohnt in der Spyckstraße. Gleich neben der Schule, hat Kassy gesagt. Und er heißt Fred, und Jansen mit einem ’s’, und Kassys Opa schreibt sich mit zwei ’s’. Wir machen da immer Witze drüber. Kassy sagt, eigentlich müßte sie sich mit drei ’s’ schreiben, weil wenn man die Namen zusammenzählt.« Sie kicherte ein bißchen, ganz vorsichtig.
»Jansssen!«
Toppe lächelte ihr zu und verabschiedete sich dann.
Viertel vor sieben – erst frühstücken? Nein, er wollte es lieber schnell hinter sich bringen.
Auf der Wache war gerade Schichtwechsel gewesen. Er trank einen Becher Kaffee im Stehen, beantwortete ein paar neugierige Fragen. Kollege Flintrop meinte, Heiderose Jansen zu kennen. »Kann sein, ich täusche mich, aber ich meine, die hätte hier schon mal Anzeige erstattet wegen Umweltvergehen und so Sachen.«
Toppe ging hoch ins leere Büro, verständigte die Brandexperten in Krefeld und nahm sich das Telefonbuch. In der Spyckstraße gab es sieben Jansen mit einem ’s’, nur einen F. Jansen. Fred, das konnte von Alfred kommen – ein Alfred Jansen, ein A. Jansen. Er notierte die Hausnummern und machte sich auf den Weg.
F. Jansens Wohnung war ein finsteres Loch, zwei modrige Zimmer im ersten Stock eines alten Hauses, an dem die Farbe schon vor Jahrzehnten abgeblättert war, Kochplatte auf dem Kühlschrank in der Ecke des Wohnraumes, Toilette eine halbe Etage tiefer.
Toppe hatte den Mann wohl aus dem Tiefschlaf geklopft. Er kam in Boxershorts und einem lappigen T-Shirt zur Tür geschlurft und brauchte eine ganze Weile, bis er kapiert hatte, wer Toppe war und um was es ging, aber dann hielt er sich ganz tapfer.
»Kann ich mitfahren zu meinen Schwiegereltern? Ich will bei meinen Kindern sein.«
Toppe war das ganz recht. »Darf ich mal telefonieren?«
Fred Jansen zeigte auf den Apparat, der neben der Tür hing und verschwand im Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
Astrid hatte sich schon gewundert, wo er blieb. »Ich kann dir jetzt nicht viel erzählen«, meinte Toppe leise, »aber es dauert bestimmt noch zwei Stunden.«
»Du weißt, daß du mit Christian verabredet bist?«
»Ach, Mist!« Toppe hatte sich gestern eine ganze Zeit lang mit dem Jungen unterhalten. Das Gespräch war nicht berauschend offen gewesen, aber es konnte ein Anfang sein. Er hatte vorgeschlagen, heute etwas zusammen zu unternehmen, und Christian hatte widerstrebend zugestimmt.
»Paß auf«, schlug Astrid vor. »Ich hab’s eben gelesen, in Holland läuft heute ein Motorradrennen. Was dagegen, wenn ich mit Chris hinfahre?«
»Wenn er das mitmacht.«
Auf der Fahrt nach Rees fing Fred Jansen langsam an zu begreifen. »Mein Gott, die Kinder!« stammelte er immer wieder leise. Toppe sparte sich seine Fragen auf, ließ ihn in Ruhe.
Der Besuch bei Heideroses Eltern traf Toppes schlimmste Befürchtungen. Die Mutter brach mit einem Weinkrampf zusammen, die beiden älteren Kinder hatten einen schweren Schock. Fred Jansen hielt den Kleinsten fest im Arm; der wehrte sich und brüllte immer wieder: »Mama gehen!«
Toppe rief einen Arzt, wartete noch, bis der kam und machte sich schnell auf den Heimweg. Auf der Rheinbrücke schickte er ein Stoßgebet gen Himmel, daß es keine Brandstiftung sein möge und daß er morgen die ganze Geschichte wieder vergessen durfte. Ihm war flau – kein Wunder, er hatte seit mindestens achtzehn Stunden nichts gegessen.
Es war ihm ganz recht, daß Astrid nicht da war, er wollte nicht reden. Im Kühlschrank stand noch ein Rest Auflauf von gestern. Er rieb sich reichlich Käse darüber und schob das ganze unter den Grill.
Es kam wirklich ein bißchen sehr dicke im Moment: Günthers Tod, Christian, die Geschichte heute, die drei kleinen Kinder; so was ging nie spurlos an ihm vorüber. Alles zuviel, keine Zeit zu verdauen, nicht mal zum Trauern. Was für ein elender Beruf. Seine Mutter hatte nie gewollt, daß er zur Polizei ging. »Du bist viel zu weich, Junge.« War er das? Im Augenblick war er nur stumpf.
Und Astrid … verflucht, vielleicht hatte er sie tatsächlich geschwängert! Er unterdrückte die Panik, schob den letzten Bissen in den Mund, zog sich im Schlafzimmer aus und ging ins Bad. Als er aus der Dusche kam, merkte er, wie entsetzlich seine Kleider nach Rauch stanken. Er stopfte sie sofort in die Waschmaschine und öffnete alle Fenster.
Um vier Uhr war er wieder in der Hamstraße und betrachtete bekümmert die schäbigen Reste von Heiderose Jansens Heim.