38

Toppe rief bei der Kreisverwaltung an und wurde dreimal zu Tode verbunden: zweimal ließen sie ihn so lange in der Warteschleife hängen, bis er die Computerfassung vom Schwanenseethema nicht mehr aushalten konnte und auflegte, und einmal war nach »ja, ich verbinde« die Leitung schlicht tot. Dann endlich hatte er Glück, mehr oder weniger, und landete beim Leiter des Jugendamtes. »Aha, aha, aha«, hörte er sich Toppes Ausführungen an. »Für diese Dinge ist unsere Frau Derksen zuständig.« Aber die war heute im Außendienst und erst morgen früh wieder zu erreichen. »Frau Derksen? Ich dachte, die ist für Adoptionen zuständig.« – »Das auch, ja. Wir sind hier sehr vielseitig.«

»Bis jetzt sind wir noch keinen Schritt weiter«, meinte Heinrichs, als er kurz darauf mit Astrid zurückkam. Trotzdem schaute er munter in die Runde. »Müller hat ein Alibi, Peters hat offensichtlich ein blütenreines Gewissen, und Unkrigs haben uns schräg von der Seite angepupt, aber damit bin ich noch nicht fertig. Es ist noch nicht aller Tage Abend, Leute. Bärbel Peters hat uns doch noch ein paar nette Geschichtchen von der Jansen erzählt, und wir haben uns ein paar Namen notiert.«

Astrid fummelte gereizt an ihren Haaren herum.

»Wenn ich ehrlich sein soll, Walter«, meinte Toppe vorsichtig, »ich habe das Gefühl, du verrennst dich mit dieser Vereinsidee. Ich meine Müller, Salzmann-Unkrig, das sind doch …«

»Geschenkt!« fuhr Heinrichs dazwischen. »Vielleicht haben diese Leute mit dem Brand wirklich nichts zu tun. Trotzdem schadet es nichts, mit denen zu reden. So langsam kriegt man eine Vorstellung von der Toten.«

Toppe sah Astrid an. »Wollen wir mal gucken, ob die in der Kantine noch was zu essen haben?«

Aber sie kam nicht dazu zu antworten, weil das Telefon auf Toppes Schreibtisch klingelte.

Es war Ackermann, ein sehr ernster Ackermann. »Chef, wir haben den Mercedesfahrer. Gestanden hat er auch schon. Keine zehn Minuten, dann sind wir mit dem bei euch.«

Toppe fühlte sich völlig taub.

Wieder schellte das Telefon. Automatisch nahm er ab.

»Berns hier. Das Blut im Scheinwerfer stammt ziemlich sicher von Günther.« Aufgelegt.

»Dann ist der Rest ja nur noch Formsache«, sagte Heinrichs, aber er hatte ein ganz anderes Gefühl.

Sie brachten zwei Männer mit, Karl und Frank Braun, Vater und Sohn. Der Junge war noch keine achtzehn.

Allen, sogar van Appeldorn, fiel es schwer, Routine abzuspulen.

Der Junge sah aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Er sprach wenig und sah niemanden an. Der Vater schwankte zwischen Schuld, Reue und Erleichterung.

Ackermann führte die Vernehmung, ohne Absprache. Er führte sie leise und konzentriert.

Nach und nach wurde das Bild immer schärfer.

Frank Braun wollte demnächst mit dem Führerschein anfangen und hatte gebettelt, schon mal ein bißchen Fahren üben zu dürfen. Sein Vater hatte – widerwillig, denn das Auto war noch neu – schließlich eingewilligt. Der Kartenspielerweg war Karl Braun sofort in den Sinn gekommen. Sein eigener Vater hatte ihm dort das Fahren beigebracht, und bei all seinen Bekannten war es genauso. Daß es in Warbeyen einen Verkehrsübungsplatz gab, wußte er nicht.

Alles war zunächst gut gegangen. Der Junge war bis Grafwegen gefahren und hatte dort gewendet. Auf der geraden, freien Strecke zurück hatte er beschleunigt, bis auf 90 Stundenkilometer ungefähr. Als er den holländischen Kleinlaster, den sie schon auf dem Hinweg gesehen hatten, überholt hatte, waren seine Lenkbewegungen überhastet gewesen, und er war auf die Grasnarbe am rechten Wegrand geraten.

Der Vater hatte den Fußgänger an der linken Seite längst bemerkt, auch noch etwas Warnendes gebrüllt, aber der Junge hatte abrupt gegengelenkt, um von der Grasnarbe runterzukommen, und den Wagen nicht mehr unter Kontrolle gekriegt. Der Vater hatte ihm noch ins Lenkrad gegriffen, aber da war es zu spät gewesen.

»Der Mann hatte einen Dackel an der Leine«, sagte Karl Braun tonlos.

Ob der Junge noch abgebremst hatte, wußten sie beide nicht.

Sie hatten sofort angehalten und waren aus dem Wagen gesprungen, aber der Mann hatte sich nicht mehr bewegt.

»Ich weiß nicht, was dann mit mir passiert ist.« Karl Braun hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und beide Hände vor die Stirn gelegt. »Ich wollte nur weg mit dem Kind. Bin in den Wagen, hab nur gebrüllt ’Steig ein!’, da lief der Motor schon. Dann bin ich losgefahren. Unterwegs … , ich weiß nicht, der Junge war leichenblaß, hat nichts mehr gesagt. Und ich hab immer nur gedacht, die holen schon Hilfe, die holen bestimmt Hilfe. Ich war wie verrückt.«

Er hatte die beiden Männer beim Kleinlaster stehen sehen. »Einer kam doch sofort angerannt. Vielleicht bin ich deshalb sofort losgefahren.«

Nein, er hatte kein Wort mit denen gewechselt.

Ja, und von da an hatte er nur noch darauf gewartet, daß die Polizei sie abholte. Da waren doch die Zeugen. Aber nichts passierte. Und dann kamen auf einmal die Meldungen in der Zeitung, und alles wurde immer konfuser. Ein Beamter hatte ihren Wagen überprüft, aber der war ja längst repariert worden, und ausgerechnet an dem Tag war nur seine Frau zu Hause gewesen, und die wußte ja von nichts. Die Angst, geschnappt zu werden, nahm ab; es gab sogar Stunden, wo er darüber Genugtuung fühlte. Die Schuld blieb da, und mit jedem Tag, der verging, wurde es immer schwieriger, sich zu stellen.

»Ich habe immer nur meinen Jungen gesehen. Ich wußte doch, der wird eingebuchtet, der kommt jahrelang nicht mehr raus. Das ganze Leben kaputt, wegen einer. weil ich so dumm war. Es ist doch meine Schuld.«

Er weinte.

Astrid stand auf und ging hinaus.

Ackermann setzte sich an die Schreibmaschine und fing an zu tippen.

Van Appeldorn stieg die Treppe hinauf zum Labor, holte Berns’ Untersuchungsbericht und legte ihn in die grüne Mappe, auf der in Heinrichs’ sauberer Schrift »Günther Breitenegger« stand und das Datum. Um halb vier war keiner mehr im Büro.

»Ich habe es dir sofort gesagt, Helmut. Fred Jansen lügt. Das hatte ich doch im Gefühl.«

Heinrichs war als erster im Büro gewesen und hatte noch einmal mit Kassandra telefoniert.

»Ihr Vater wußte sehr wohl, daß die Kinder in Rees waren. Kassandra hat ihn nämlich von den Großeltern aus angerufen, nachdem ihre Mutter abgefahren war.«

Toppe schüttelte den Kopf. Es war ihm noch nie passiert, daß er sich so getäuscht hatte.

»Und das dickste Ei kommt noch.« Heinrichs lehnte sich weit über den Tisch. »Fred Jansen wollte am Samstag abend zu seiner Frau, um irgendwas wegen der Herbstferien zu regeln. Das hat er seiner Tochter hoch und heilig versprochen.«

»Ist Jansen ein Typ, der Baskenmützen trägt?« fragte Astrid.

Toppe zuckte die Achseln. Das gefiel ihm alles nicht.

Van Appeldorn blätterte in den Berichten von gestern und gähnte. Jetzt nahm er die Beine vom Schreibtisch. »Du wirst bestimmt diesen Timmer überprüfen wollen, oder liege ich da falsch?«

»Ich fahre gleich raus zum Jugendamt«, nickte Toppe.

»Hört mir hier eigentlich überhaupt einer zu?« schnauzte Heinrichs.

Van Appeldorn grinste ihm ins Gesicht. »Ich würde sagen, wir beide fühlen diesem netten Herrn Jansen mal auf den Zahn, Walter.«

Astrid stand auf und hängte sich ihre Jeansjacke um.

»Dann geben Sie mir mal unsere Liste von gestern.«

Heinrichs sah sie verständnislos an. Sie schlug die Augen zur Decke. »Die Namen, die uns Bärbel Peters gegeben hat.«

»O je!« Er fing an, die Papierstapel auf seinem Schreibtisch durchzuwühlen.

Astrid setzte sich wieder.

Verrückt, dachte Toppe. Was für eine Katerstimmung. Auch er war gereizt. Daß Günther durch einen schnöden, dämlichen Unfall ums Leben gekommen war, machte seinen Tod noch sinnloser. Es erfüllte ihn mit einer dumpfen Wut, die sich gegen niemanden richten konnte.

»Wegen Günther«, begann er, aber van Appeldorn fuhr ihm sofort dazwischen. »Hör auf, Helmut! Wir haben alle dasselbe beschissene Gefühl. Ob wir drüber reden oder nicht, ändert auch nichts. Am besten, wir gehen einfach an unsere Arbeit und fertig.«

»Ich weiß nicht.« Heinrichs hatte aufgehört, den Zettel zu suchen. »Das bete ich mir seit gestern auch immer wieder vor: Arbeit lenkt ab. Deshalb war ich ja auch heute schon so früh hier. Aber wenn ich ehrlich sein soll, mir ist zum Heulen.«

Astrid strich ihm leicht über die Hand. »Mir auch, aber ich glaube, van Appeldorn hat recht.«

Heinrichs fand die Liste schließlich in der Innentasche seiner Jacke. »Ich würde mit Ulrike Schnackers anfangen«, tippte er auf den Namen. »Das ist Heidi Jansens beste Freundin gewesen. Die sollte ja wohl wissen, wer der Frau eins auswischen wollte.«

Astrid nickte. »Ich bin schon unterwegs.« Aber dann blieb sie noch einmal stehen, umarmte Toppe von hinten und küßte ihn. Er hielt sie fest.

Keiner hatte Stasi anklopfen hören.

Astrid wirbelte herum wie ein ertapptes Kind, zauberte Charme in ihr Gesicht. »Guten Morgen, Herr Siegelkötter. Nett, daß Sie wieder da sind.«

Er straffte irritiert die Schultern. »Guten Morgen. Darf ich Platz nehmen?«

Dicke Zufriedenheit sprang ihm aus jedem Knopfloch.

»Es ist ganz großartig, daß Sie diesen tragischen Fall abschließen konnten.«

»Das Lob gebührt Ackermann, nicht uns«, unterbrach ihn van Appeldorn sofort.

»Selbstverständlich ist mir das bekannt«, tadelte Siegelkötter, »aber im Augenblick geht es mir um die Pressekonferenz, die ich um 14 Uhr anberaumt habe. Da muß verständlicherweise der Leiter des Kl.«

»Auf gar keinen Fall!« Toppe sah Stasi eindringlich in die Augen. »Bei unseren Ermittlungen in Sachen Brandstiftung ist eine entscheidende Wende eingetreten, und wir können es uns nicht leisten, Zeit zu verlieren.« Er wunderte sich selbst, wie schnell ihm inzwischen die Ausreden einfielen.

Erstaunlicherweise gab sich Stasi sofort damit zufrieden. Zweifellos hatte er irgendwas in der Hinterhand. Aber dann wollte er doch nur die Berichte über die Brandstiftung mitnehmen.

»Beachtlich, beachtlich«, nahm er Heinrichs den Stapel ab, und dann platzte es aus ihm heraus: »Offiziell ist es noch nicht, aber ich finde, da wir in den letzten Wochen so eng zusammengearbeitet haben, quasi ein Team waren, sollen Sie es als erste erfahren. Also …« Er machte tatsächlich einen kindischen Diener. Was hatte den armen Kerl nur so aus seiner Kontrollbahn geworfen?

»Man hat mich ans Innenministerium berufen.«

»Ach«, kam es von van Appeldorn, und auch die anderen verstanden kein Wort.

»Ja, der Anruf kam vor einer halben Stunde. Selbstverständlich schwingt bei mir ein bißchen Wehmut mit.«

Stasi lachte fahrig. »Sie verstehen? Mein kleines Präsidium am Rande der Stadt, nicht wahr? Aber Sie wissen ja, daß ich seit Jahren – recht erfolgreich übrigens – in internationalen Kommissionen gearbeitet habe und, na ja, wie soll ich es sagen? Die Stelle, die man mir jetzt angeboten hat, ist quasi auf mich zugeschnitten.«

»Wann?« fragte Astrid, offene Trauer in der Stimme und im Blick. Toppe fand, daß sie doch ein wenig überzog, aber Siegelkötter war gleich mit seinem Trost zur Stelle.

»Zum 1.1. erst, keine Sorge. Und vielleicht kann ich ja auch meinen Einfluß geltend machen, wenn es um die Wahl meines Nachfolgers geht.«

Er bat dann noch um ihre Verschwiegenheit in den nächsten paar Wochen und schwebte hinaus. Sie sahen sich nur an.

»Lowenstijn«, sagte Toppe.

»Lowenstijn«, bestätigte van Appeldorn und hatte schon gewählt.

Lowenstijn lachte aus vollem Hals. »Siehst du, ich habe doch gesagt, ich finde auch, das Männeken ist ein Fall für das Innenministerium. Ihr Deutschen immer mit euren Beschwerden.«

»Komm schon«, lockte van Appeldorn. »Wie hast du das gedreht?«

»Wir haben einen netten Brief an euren Innenminister geschrieben, wie phantastisch die internationale Zusammenarbeit mit Herrn Siegelkötter gewesen ist und was für ein fähiger Mann das sei, der in seinem jetzigen Aufgabenbereich unterfordert. bla, bla. Mein Chef meinte schon, ich soll nicht so dick auftragen, sonst würde Siegelkötter noch heilig gesprochen.«

»Mann!« war alles, was van Appeldorn rausbrachte.

»Tja«, lachte Lowenstijn. »Ich dachte, ich tu euch mal einen kleinen Gefallen. Hat ja wohl geklappt, ihr seid ihn los. Und wer weiß, vielleicht kann der Mann auf seinem neuen Posten ja was lernen.«

Jetzt lachte van Appeldorn, und zwar ziemlich hämisch.

»Ich komme mal vorbei, wenn ich in der Ecke bin«, sagte Lowenstijn. »Und grüße deine schöne Kollegin von mir.«

»Die ist in festen Händen.«

»Mag sein.« Man konnte hören, wie Lowenstijn lächelte. »Aber so was ändert sich manchmal schneller, als man denkt.«