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Hastig drehte sich Toppe auf den Bauch.
»Was ist los?« schmunzelte Astrid. »Zuviel Sonne?«
»Nein«, grinste Toppe zurück. »Zuviel du. Ich habe den Fehler gemacht, dich zu lange anzugucken.«
Am Strand von Pin Sec war Nacktbaden zwar offiziell nicht gestattet, und der Gemeinderat von Naujac ließ auch alljährlich einen entsprechenden Hinweis am Schwarzen Brett oben auf der Düne anbringen, aber kein Mensch scherte sich darum; weder die Rettungsschwimmer der örtlichen Feuerwehr, die den Strandabschnitt bewachten, noch die einheimischen Franzosen, die am Wochenende hier waren, und am allerwenigsten die Urlauber vom Campingplatz oben, die diesen Strand mehr oder weniger als ihr Eigentum betrachteten. Es herrschte ein buntes Durcheinander: manche hatten ordentliche Badekleidung an, viele Frauen sonnten sich nur im Bikinihöschen, ein paar trugen, wohl wegen eines Sonnenbrandes, nichts als ein T-Shirt. Toppe und Astrid waren, wie gut die Hälfte der Leute, nackt.
Astrid setzte sich auf und kreuzte die Beine zum Schneidersitz. »Soll ich dir ein bißchen Wasser aus dem Priel holen? Eine kleine Abkühlung kann da Wunder wirken, hab ich mir sagen lassen«, neckte sie.
Toppe stützte das Kinn auf die Hand und sah sie lange an.
»Laß uns lieber in die Dünen gehen.«
Sie lächelte verschmitzt. »Toppe, du bist doch keine siebzehn mehr!«
Mit einer flinken Bewegung griff er in ihr dickes, schwarzes Haar, zog ihren Kopf zu sich runter und küßte sie.
»He«, flüsterte sie, die Augen ganz dunkel, »ich hab da gestern eine schöne Stelle entdeckt. Laß uns gehen.«
Er stöhnte leise. »Wir müssen wohl noch ein paar Minuten warten.«
»So schlimm?« kicherte sie und strich ihm leicht über den Po.
»Noch schlimmer. Und wenn du deine Hand da nicht sofort wegnimmst, liege ich heute abend noch hier.«
Das Wasser für die Crevetten kochte zischend über. Toppe legte sein Buch weg und ging ins Vorzelt, um die Gasflamme kleiner zu drehen. Astrid war noch nicht vom Einkaufen zurück. Um diese Zeit war der kleine Laden vorn an der Rezeption immer brechendvoll. Er war zwar seit vier Uhr schon wieder geöffnet, aber die meisten hier auf dem Platz entschieden erst nach dem Strandgang, was es abends zu essen geben sollte. Dann mußte man allerdings erst mal duschen, Kaffee oder Tee trinken, bei einem Sundowner mit dem Nachbarn klönen – das dauerte, aber Zeit hatte man hier reichlich. Irgendwann gegen sechs begann der große Ansturm auf frisches Gemüse und Obst, Fleisch, die letzten Baguettes und Rotwein.
Toppe nahm das große Holzbrett und fing an, die Tomaten für den Salat zu schneiden. Oliver steckte seine Nase durch den Eingang und schnupperte.
»Ist ja noch gar nix fertig. Und ich hab vielleicht Kohldampf!«
»Halbe Stunde noch«, meinte Toppe. »Du kannst ja schon mal Zwiebeln schneiden.«
Oliver beäugte skeptisch das Messer, das ihm sein Vater hinhielt.
»Ist Astrid beim Fischmann?«
Toppe nickte. »Und in den Laden wollte sie auch noch.«
Der Junge feixte. »Dann flitz ich lieber mal los und helf ihr tragen.«
Damit war er auch schon wieder verschwunden.
»Flitz du nur«, lächelte Toppe leise.
Es war der erste Urlaub, seit er sich von Gabi getrennt hatte, den er mit seinen beiden Söhnen und mit Astrid verbrachte. Sein Kollege Ackermann hatte ihm diesen Campingplatz empfohlen und ihm netterweise auch gleich sein großes Familienzelt geliehen.
Dieser Platz war genauso, wie Toppe es mochte. Er lag schattig im Pinienwald, direkt hinter der Düne und war wohltuend einfach; ohne Pool und Animation, einfache Duschen, keine Parzellen, kein Strom. Das bedeutete, nirgendwo protzige Wohnmobile mit Satellitenschüssel, kein Fernseher, keine plärrenden Kassettenrecorder. Die Leute hier waren – ja, was? Toppe schwankte zwischen »unkonventionell« und »angenehm normal«. Egal, die meisten kamen offenbar seit Jahren gern immer wieder hierher. Die üblichen Verbrüderungen, die Toppe sonst so kannte, blieben trotzdem aus. Das einzige, was ihn vielleicht ein bißchen störte, waren die vielen Kleinkinder, die ihm ständig vor die Füße taumelten, ihn am Strand mit Sand bepuderten oder ihn frühmorgens mit fröhlichem Gejauchze aus dem Schlaf holten. Dem Alter, wo man so was gelassen hinnahm oder es manchmal sogar genoß, war er offensichtlich entwachsen.
Oliver fand es »super« hier; er war ständig mit irgendwelchen Jungsbanden im Wald unterwegs, trieb sich in den Dünen rum, um »Pärchen zu belauern«, machte Kletterübungen an den Bunkern, war bei der »Spielhölle« oder bei improvisierten Pétanqueturnieren.
Christian hingegen, den Toppe jetzt gerade den Weg heraufschlendern sah – sehr langsam, sehr cool –, boykottierte jegliche Harmonie. Er war mittlerweile sechzehn, und die ganze erste Urlaubswoche hatte er sich in seinem Soloiglu vergraben, war nicht einmal mit zum Strand gekommen. In den letzten Tagen allerdings war er am Zelt nur noch selten anzutreffen. Offensichtlich hatte er ein paar Gleichgesinnte in »diesem öden Haufen« gefunden, und seitdem bekam Toppe ihn höchstens bei den Mahlzeiten zu Gesicht.
Er sah seinen Ältesten in das Iglu kriechen und zwei Minuten später wieder rauskommen – frische Jeans, frisches T-Shirt.
Toppe deckte weiter den Tisch. »Was trinkst du zum Essen?« fragte er. »Cola?«
»Kein Bock auf Essen. Ich geh ins Paradou.«
Toppe liebte diesen Tonfall. »Du wirst heute mit uns essen, mein Sohn. Hinterher kannst du von mir aus in diese Strandkneipe.«
»Scheiße!« Der Rest des Kommentars ging im Geräusch unter, mit dem Christian den Reißverschluß an seinem Iglu zuzog.
Toppe riß sich zusammen, setzte sich und schob seinem Sohn einen Stuhl hin.
»Und? Was gibt’s so im Paradou?« fragte er freundschaftlich. »Hast du ein Mädchen kennengelernt?«
Christian erstarrte. »Weiber!« schnaubte er, puterrot bis zum Hals, der Blick wie eine Mauer.
»An was anderes kannst du wohl nicht denken?«
Toppe runzelte verblüfft die Stirn.
»Ich hab euch heute in den Dünen vögeln sehen«, rotzte der Junge verächtlich.
Sein Vater schaute ihn unbehaglich an, nickte dann und grinste schließlich. »Ja. Und?«
»Ich find’s widerlich!«
»Bist du verrückt geworden?« Toppe war aufgesprungen, aber für seinen Sohn gab es jetzt kein Halten mehr.
»Meinst du, ich kriege das nicht mit, daß du sie jede Nacht fickst? Jeder kriegt das mit! Ihr seid ja nicht mal leise. Gestern morgen habt ihr um halb sechs den ganzen Campingplatz geweckt. Es ist peinlich. Und es ist ekelhaft, wie du sie benutzt, wie, wie eine …«
Toppe holte aus, aber in diesem Moment schoß Astrid um die Ecke und knallte die volle Einkaufstasche auf den Tisch.
»Ich habe nicht gelauscht«, sagte sie ruhig und sah von einem zum anderen, »aber man konnte noch fünf Zelte weiter jedes Wort verstehen. Ich würde gern etwas richtigstellen, Chris.«
Der Junge hielt seinen Blick auf eine Pinie in fünf Metern Entfernung gerichtet. Toppe war immer noch blaß vor Wut. Astrid strich ihm zärtlich durchs Haar. »Er fickt mich übrigens nicht, wie du es ausdrücktest. Wir schlafen miteinander, oder vielleicht ist »Liebe machen« der bessere Ausdruck. Und was das Benutzen angeht …« Sie hielt inne, als jetzt Oliver um die Ecke kam, und tippte Christian auf die Schulter. »Komm, laß uns ein Stück durch den Wald gehen. Wir müssen mal ein paar Dinge miteinander klären.«
Er sah sie widerstrebend an, folgte ihr dann aber.
»Mann! Was war denn hier wieder für ’n Streß?« schimpfte Oliver. »Der wird echt jeden Tag bekloppter. Total uncool, der Typ.«
Toppe zog seinen Jüngsten zu sich heran und knuddelte ihn. »Hilfst du mir mit der Kräuterbutter für die Crevetten?«
Beim Essen war die Atmosphäre noch immer geladen, obwohl Astrid und Oliver sich alle Mühe gaben, die beiden anderen zum Reden zu bringen. Toppe nahm schließlich stillschweigend Christians Angebot, beim Abwasch zu helfen, als Entschuldigung an, wünschte sich aber dann ziemlich schnell, er hätte es nicht getan. Der Junge schwieg beharrlich und übte dabei einen provozierend selbstherrlichen Gesichtsausdruck.
Als Toppe gerade das fettige Abwaschwasser mit den Crevettenschalen aus dem Zelt trug, kam der »Baron« um die Ecke geradelt. Monsieur Chibrac war eine Institution auf diesem Campingplatz. Seit undenklichen Zeiten verbrachte der alte Mann aus Bordeaux die Sommer hier mit seiner Frau. Niemand wußte mehr genau, warum er eigentlich »Baron« genannt wurde, man vermutete aber, daß der Name »Residence« zuerst da gewesen war; seine »Residence«, das große, blaue Zelt, alt zwar, aber makellos gepflegt und absolut perfekt und faltenlos aufgebaut, prangte Jahr für Jahr an derselben Stelle auf einer kleinen Anhöhe.
Der pensionierte Rheinschiffer hatte Toppe sofort ins Herz geschlossen, obwohl die Verständigung nicht ganz einfach war. Irgendwie wurschtelten sie sich mit einem Gemisch aus Französisch, Deutsch, ein paar Brocken Holländisch und sehr viel Zeichensprache durch. Jetzt aber war der Baron aufgeregt und redete so schnell, daß Toppe nicht einmal eine Ahnung hatte, was der Mann eigentlich wollte. Gott sei Dank kam Astrid zu Hilfe.
»An der Rezeption liegt eine Nachricht für uns«, übersetzte sie. »Wir sollen sofort zu Hause im Präsidium anrufen.«
»Avez vous une télécarte?« fragte der Baron.
Das verstand Toppe und nickte. »Merci, Monsieur.«
Monsieur Chibrac hob grüßend die Hand und stieg wieder auf sein klapperndes Damenrad.
Astrid war schon im Zelt verschwunden und hatte ihre Handtasche geholt. »Hoffentlich ist nichts passiert«, murmelte sie.
»Ach, was«, meinte Toppe beruhigend. »Ist bestimmt bloß Quatsch.« Aber auch er hatte ein beklommenes Gefühl.
Oliver sprang auf und rannte hinter Astrid her. »Ich komm mit!«
Christian saß da, die Füße auf dem Tisch, und blätterte in einem Comic.
»Ich dachte, du wolltest ins Paradou«, fuhr Toppe ihn an.
»Später«, kam es gelangweilt zurück.
Toppe zündete sich eine Zigarette an und legte sich mit seinem Buch in die Hängematte, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Schließlich hörte er Oliver, der wie üblich die Kurve zu eng nahm, über die Zeltschnur stolperte und einen Hering aus dem Boden riß.
»Einem von deinen Kollegen ist was passiert«, hechelte er.
»Was?« rief Toppe und stemmte sich aus der Hängematte hoch. »Wem?«
»Weiß ich nicht. Mehr hab ich nicht mitgekriegt.«
Astrid war weiß wie die Wand. »Günther ist tot.«
Toppe sah sie fassungslos an.
»Ja«, nickte sie. »Er ist überfahren worden.«
Christian nahm die Füße vom Tisch und stand auf. »Ich hau dann jetzt ab.«
»Was?« Toppe fuhr zu ihm herum, aber sein Sohn zuckte nur mit den Schultern. »Ist doch nicht mein Problem, wenn der Typ abkackt.«
Mit einer einzigen Bewegung griff Toppe nach der Schüssel und kippte seinem Sohn das Abwaschwasser ins Gesicht.