37
In der Hamstraße war es still wie auf dem Friedhof. High noon, dachte Toppe, der Beginn der Mittagsruhe. Aus Kleinmanns’ Garten kam ein leises Schnippschnipp. Er linste über die Hecke, konnte aber niemanden sehen. Plötzlich ein unterdrücktes Kreischen gleich unter seiner Nase, und Frau Kleinmanns kam aus der Hocke hoch. »Haben Sie mich erschreckt!«
Sie hatte sich eine gestärkte grüne Schürze umgebunden und trug rosa Gummihandschuhe. Unsicher folgte sie seinem Blick. »Ich mache gerade die Rasenkanten.«
Im Gras entdeckte er eine Küchenschere. »Damit?« fragte er verdutzt.
»Ja, das ist viel gründlicher als mit diesen elektrischen Dingern.«
»Ist Ihr Mann zu Hause?«
»Noch nicht. Der kommt aber in der Mittagspause, gegen eins.«
Sie zog die Handschuhe aus und kam die Hecke entlang zum Törchen. »Wenn ich Ihnen vielleicht …«
»Nein, danke«, winkte Toppe schnell ab. »Ich komme später wieder, wenn Ihr Mann da ist.«
Sie sah ihm nach, wie er den Weg zu Timmers Hof hochging. Nach dem Regen letzte Nacht standen überall Pfützen, und Toppe mußte aufpassen, daß er nicht ausrutschte. Die Hunde schlugen an, kaum daß er über die Hügelkuppe kam. Kein Mensch war zu sehen. Zwölf Uhr mittags, dachte er wieder, da wird bei Bauerns gegessen. Er ging links um die Hausecke herum zum Küchenfenster, erkannte trotz der dichten Gardine Leute am Tisch, klopfte kurz an die Scheibe und ging zur Haustür zurück. Einer der beiden Jungen, die er letztens in der Scheune gesehen hatte, öffnete ihm kauend, murmelte irgendwas, drehte sich um und rannte in die Küche zurück. Es gab Rotkohl und Bratwurst, das konnte man schon im Flur riechen. Der Bauer saß am Kopfende des Tisches, rechts von ihm, mit dem Rücken zur Tür, seine Frau, daneben im Hochstuhl das Baby, gegenüber die beiden Jungs. Frau Timmer drehte sich zu ihm um. »Guten Tag, Herr Kommissar.«
»Mahlzeit«, nickte der Bauer und fuhr dann zu dem kleinen Jungen herum, der seine Wurst in die Hand genommen hatte, um abzubeißen, und schlug ihm auf die Finger.
»Messer und Gabel«, kollerte er.
Rechts in der Zimmerecke neben dem Schrank saß das kleine Mädchen mit dem Gesicht zur Wand, den Teller mit dem Essen zwischen den ausgestreckten Beinen. Als Toppe jetzt zum Reden ansetzte, stand das Kind auf und schob sich langsam, den Blick immer auf die Wand geheftet, an ihm vorbei nach draußen. Keiner schien darauf zu achten.
»Ich störe beim Essen, tut mir leid. Es macht mir nichts aus, eine Weile draußen zu warten.«
»Nein«, sagte Ewald Timmer und schob seinen Teller weg. Dann ging er zum Küchenschrank, wo seine Pfeife lag, und fing an, sie sorgfältig zu stopfen. Toppe stand immer noch an der Tür.
»Was gibt’s denn noch?« fragte Timmer, ohne ihn anzusehen.
»Ich habe hier eine Liste mit den Anzeigen, die Frau Jansen in den letzten Jahren gegen Sie erstattet hat. Darüber würde ich gern mit Ihnen reden.«
Timmer paffte ein paarmal, stopfte nach, paffte wieder.
»Ich wüßte nicht, was es da zu reden gibt.«
»Aber ich«, entgegnete Toppe scharf.
Timmer verstaute den Pfeifenstopfer in der Brusttasche seiner Latzhose. »In Gottes Namen«, stöhnte er und ging an Toppe vorbei in den Flur. »Kommen Sie mit.« Dann drehte er sich noch mal zu seiner Frau um, die immer noch am Tisch saß. »Bring Kaffee.«
Das Wohnzimmer war ein düsterer Raum, vollgestopft mit flämischen Eichenmöbeln, vor den beiden kleinen Fenstern dichte Spitzenstores und Übergardinen aus dunklem Brokat. Timmer zog den schweren Kristallaschenbecher zu sich heran und legte die Pfeife ab.
»Frau Jansen war ein Quertreiber, wie er im Buche steht, da können Sie hier jeden fragen. Deshalb weiß ich auch nicht, wieso Sie sich überhaupt so für meine Anzeigen interessieren. Oder meinen Sie etwa, ich hätte deren Bude in Brand gesteckt, bloß weil die mich mal angezeigt hat? Außerdem, damals die Sache mit der Silage, wo ich die Strafe zahlen mußte, da hatten sich auch andere beschwert. Aber was soll’s! Vielleicht hören Sie sich mal bei anderen Bauersleuten um. Mit dem Problem haben wir alle zu kämpfen. Das ist nun mal so, wenn man vom Wetter abhängig ist. Da kann man auf die Uhrzeit keine Rücksicht nehmen. Ich jedenfalls nicht.« Er schwieg erschöpft. Das war eine lange Rede gewesen für einen wie ihn.
»Sie haben zweimal Strafe zahlen müssen.«
»Ja. Und? Die paar Kröten! Konnt ich verschmerzen.«
»Ich habe hier auch eine Anzeige wegen Genmanipulation. Können Sie mir erklären, worum es dabei geht?«
Timmer fing an zu lachen. »Das hat die angezeigt? Die war ja noch bekloppter, als ich gedacht habe.«
Heiderose Jansen hatte herausgefunden, daß Timmer Triticale anbaute, eine Kreuzung zwischen Roggen und Weizen, aber witterungsbeständiger und widerstandsfähig.
Der Bauer lachte wieder. »Seit Jahren bauen wir hier in der Gegend das Zeug an. Wenn die Frau Ahnung gehabt hätte, dann hätte die gewußt, daß gentechnische Neuzüchtungen in der Landwirtschaft gang und gäbe sind. Und vor allen Dingen nicht verboten.«
»Als ich letztens hier war, haben Sie mir gesagt, daß Frau Jansen mit Ihnen über Gentechnik diskutiert hat. Sie wußten also, daß sie Sie wieder anzeigen wollte?«
»Keine Spur. Ich dachte, das wäre deren übliches Gesülze.«
»Haben Sie öfter mit ihr gesprochen?«
»So wenig wie möglich.«
Toppe schüttelte den Kopf, und Timmer erriet seine Gedanken. »Ich sag doch, die war bekloppt. Scheißt einen an und kommt trotzdem jeden Tag und kauft Eier und Milch bei uns.«
»Wo waren Sie am Sonntag morgen zwischen vier und halb sechs?«
»Im Bett. Wo sonst? Da ist für mich die Nacht schon fast rum.«
»Ich nehme an, Ihre Frau kann das bezeugen.«
Timmer sah zur Tür hinüber. »Sie können sie ja selbst fragen.«
Die Frau trug ein Tablett mit Kaffeegeschirr und einer Isolierkanne.
»Waltraud, der Mann will wissen, ob ich am Sonntag morgen, wo der Brand gelegt worden ist, in meinem Bett war.«
Sie stellte das Tablett auf den Couchtisch und sah Toppe ins Gesicht. »Wo soll er sonst gewesen sein?«
Toppe schmunzelte. »Das ist eigentlich keine Antwort.«
Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Mein Mann war in seinem Bett.« Dann ging sie.
Timmer goß sich ein und schob die Kanne zu Toppe hinüber.
»Nein, danke. Haben Sie Dieselöl und Nitroverdünnung im Haus?«
Der Bauer trank zwei Schlucke, stellte die Tasse ab. »Ist damit der Brand gelegt worden?«
Toppe antwortete nicht.
»Diesel haben wir reichlich, aber ob noch Nitro da ist, keine Ahnung.«
Er nahm Toppe mit auf die Tenne zu einem ausrangierten Kleiderschrank.
»Wenn, dann müßte es hier drin sein.« Der Schrank war vollgepfropft mit Farbdosen, alten Lappen, Gläsern, Pinseln und Quasten, rostigem Gerümpel. »Ja, hier ist noch ein Rest.« Timmer holte eine verschmierte Büchse aus dem hintersten Winkel und hielt sie Toppe hin, aber der nahm sie nicht.
»Danke«, meinte er. »Sie können das Zeug wieder wegstellen. Ich wollte es nur wissen. Kann ich hier hinten rausgehen?«
Im Apfelbaum neben der Scheune hing das kleine Mädchen mit dem Kopf nach unten und schaukelte hin und her.
»Sprechen Sie sie nicht an«, sagte Timmer.
Heino Müller hatte für die Tatzeit ein Alibi. Er war übers Wochenende mit einem Freund zum Segeln in Friesland gewesen. Anders als Salzmann-Unkrig war er über ihre Fragen nicht entrüstet, eher belustigt.
»Die Frau war eine Nervensäge, aber das ist doch kein Grund, ihr so etwas anzutun«, sagte er. »Ich hatte sowieso keine persönlichen Probleme mit ihr. Unsere Meinungsverschiedenheiten bezogen sich nur auf den Verein. Und das hat sich ja nun Gott sei Dank geregelt.«
»So kann man es auch ausdrücken«, meinte Heinrichs.
Müller lachte. »Sie sehen eigentlich gar nicht aus wie ein Zyniker. Ich meinte natürlich, es ist alles geregelt, weil wir jetzt endlich einen Trägerverein haben und vernünftig arbeiten können.«
Ein paar Minuten später komplimentierte er sie, immer noch freundlich, aber doch entschieden hinaus. »Wenn Sie mein Alibi überprüfen wollen, gebe ich Ihnen gern die Adresse meines Freundes. Er hat Logbuch geführt.«
Herr Kleinmanns fuhr einen betagten blauen Mercedes Diesel, und in seiner Garage fand Toppe neben einem Schraubglas mit Aceton und einer Flasche Reinigungsbenzin auch eine fast leere Dose Nitroverdünnung.
»Ist ja alles da«, nickte er und sah den Mann eindringlich an.
Bisher war das Ehepaar friedlich gewesen, denn Toppe hatte ihnen gleich zu Anfang deutlich gemacht, was er davon hielt, wenn man ihn mit Lügen und Halbwahrheiten abspeiste, aber nun hatte sich Kleinmanns wieder berappelt. Er kam einen Schritt auf Toppe zu.
»Was soll das denn heißen?« rief er, dunkel vor Wut.
Jetzt kam auch seine Frau in die Garage geschossen. »Sie haben ja wohl einen Vogel! Wegen dem Quatsch sollen wir der das Haus anstecken? Da gibt es doch wohl ganz andere Leute! Ich meine, wenn es an die eigenen Kinder geht …«
»Was heißt das?«
»Nichts. Ich will nichts gesagt haben!«
Toppe ging an Kleinmanns vorbei und blieb dicht vor der Frau stehen. Sie war gut einen Kopf kleiner als er. »Ich möchte sofort wissen, was Sie damit gemeint haben.« Er war sehr laut.
Erschrocken plapperte sie los. »Es wird eben so was gemunkelt in der Nachbarschaft. Die Jansen soll den Ewald Timmer beim Jugendamt angeschwärzt haben, weil der seine Kinder immer so schlägt. Und ich meine, ich hätte da auch schon mal Leute vom Amt auf dem Hof gesehen.«
»Sie kennen also die Mitarbeiter des Jugendamtes.«
»Nein … aber die sahen so aus.«
»Wer hat Ihnen die Geschichte erzählt?«
»Frau Joosten. Letzte Woche erst.«
Sieh an, Frau Joosten, dachte Toppe, die sah gar nicht aus wie eine Klatschbase, aber da hatte er sich wohl vertippt. »Kann man von Ihrem Garten aus aufs Nachbargrundstück?«
»Nein«, antwortete Kleinmanns, »da ist die Hecke zwischen.«
»Das möchte ich mir selbst ansehen«, sagte Toppe, aber Kleinmanns hatte die Wahrheit gesagt. Die Buchenhecke umschloß sein ganzes Grundstück. Sie war dicht und so hoch, daß man eine Leiter brauchte, wenn man rübersteigen wollte.
Frau Joosten waren Toppes Fragen sehr unangenehm. Er gab sich keine Mühe, nett zu sein.
»Alexa hat mir das erzählt.«
»Und woher wußte Ihre Tochter davon?«
»Von Kassandra, nehme ich an.«
»Sie nehmen an?«
»Ja.« Sie errötete.
»Heiderose Jansen hat sich also ans Jugendamt gewendet, weil Timmer angeblich seine Kinder schlägt.«
»Nein!« rief sie. »Davon weiß ich nichts. Es ging um Hanna. Das Kind ist autistisch, und Frau Jansen fand wohl, daß sich die Eltern nicht genug darum kümmern.«
»Und sie hat das Jugendamt eingeschaltet?«
Sie zuckte verunsichert die Achseln. »Ich weiß nicht. Sie wollte es wohl.«