18

»Versuch, noch ein bißchen zu schlafen.«

Toppe strich ihr über die kalte Stirn. Astrid nickte, ohne die Augen zu öffnen. Sie hatte die halbe Nacht auf dem Klo verbracht; irgendein Virus hatte sie wohl gepackt.

»Ich habe den Arzt angerufen. Er kommt gegen Mittag.«

Als er seinen Wagen abschloß, verschwand Berns gerade im Präsidium. Toppe wußte genau, daß er ihn gesehen hatte. »So nicht, mein Junge!« Im Laufschritt setzte er ihm nach. Er hatte Berns noch nie leiden können, es aber fast immer geschafft, einer Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Berns war rechthaberisch, kleinkariert und hatte die Arbeit nicht gerade erfunden. In den letzten Jahren redete er sich damit heraus, er habe in seinem Leben schon genug Überstunden gekloppt und ginge sowieso bald in Rente. Toppe arbeitete viel lieber mit van Gemmern zusammen, obwohl der mit seiner verschlossenen Art auch nicht immer so leicht zu nehmen war. Was Berns ihm noch vor drei, vier Jahren an Erfahrung vorausgehabt hatte, hatte van Gemmern längst wettgemacht, und er legte wesentlich mehr Engagement und Phantasie an den Tag.

Toppe erwischte Berns auf dem ersten Treppenabsatz. Von einem konstruktiven Gespräch konnte nicht die Rede sein, aber wenigstens wurde Toppe alles los, was ihm seit Freitag im Magen gelegen hatte.

»Wie siehst du denn aus, Helmut?« fragte Heinrichs besorgt. »Und wo ist Astrid? Habt ihr euch gekracht?«

»Nein, Astrid ist krank.« Dann grinste Toppe. »Ich habe nur gerade Berns auf der Treppe getroffen.«

»Ach so!«

Sie hatten alle am Sonntag genug Zeit gehabt nachzudenken, und so ging die Verteilung der Aufgaben für die nächsten Tage zügig über die Bühne.

Ackermann wollte gern mit Heinrichs zusammen Breiteneggers Unfall untersuchen. »Nich’ dat ihr dat jetz’ falsch versteht, von wegen, ich wollt hier mein Ding abziehen. Ich bin bloß dem Walter sein Handlanger. Wir haben da so unsere Ideen. Ihr braucht euch um nix zu kümmern.«

Er sah sich kritisch um. »Bin bloß froh, dat wir viel unterwechs sind. Jetz’, wo ich hier hocken muß, fällt et mir ers’ ma’ auf, wie eng dat is bei euch inner Bude. Wieso ei’ntlich? Unser Büro is’ bestimmt doppelt so groß.«

Das K 1 hatte den kleinsten Raum im ganzen Präsidium. Vor einem Jahr war endlich renoviert worden: neue Fenster, neuer Fußboden, frische Farbe, sogar moderne Doppelschreibtische hatte man ihnen reingestellt. Nun war zwar alles heller, aber eng war es noch immer; sie hatten sich mit den Jahren daran gewöhnt, oder besser, sich abgefunden.

Jetzt haben wir ja einen Platz mehr, dachte es in Toppe, und er erschrak, aber dann sah er, daß van Appeldorn genau denselben Gedanken gehabt haben mußte.

Sie würden zusammen mit Astrid, wenn sie denn wieder gesund war, die Leute aufsuchen, die auf der Jugendamtsliste standen: hundertdreizehn Ehepaare.

Van Appeldorn machte sich daran, die Liste nach Wohnorten zu dritteln. Eine ganze Weile stritten sie sich, wer den Südkreis übernehmen sollte, aber van Appeldorn gab schließlich nach. Um Viertel vor zehn waren sie endlich unterwegs.

»He«, rief Heinrichs ihnen nach, »mir fehlen noch ein paar Berichte von euch. Ich will morgen früh meine Akten in Ordnung haben. Jupp?« drehte er sich dann zu Ackermann und sah ziemlich verlegen aus. »Ich habe gedacht, vielleicht …« Er holte eine Plastiktüte aus seinem Schreibtisch. »Jetzt wo du draußen tätig bist, meine ich, aber ich will dir nicht zu nahe treten.«

Ackermann nahm die Tüte und linste hinein: vier Polohemden in weiß und himmelblau. Er lachte verschmitzt.

»Kuck, ich hab selbs’ dran gedacht.« Über der Stuhllehne hing die Jacke vom schwarzen Beerdigungsanzug. »Aber danke, dat du mitdenks’.«

Es war eigentlich nicht nötig, die Reparaturwerkstätten aufzusuchen. Die Gespräche konnte Heinrichs telefonisch erledigen. Ackermann hielt die Zulassungsstelle für viel aussichtsreicher. Da sie jetzt den Wagentyp kannten, konnte er sich die Namen der Halter geben lassen und sie aufsuchen.

Allzu viele durften es wohl im Kreis nicht sein. Er war ganz zuversichtlich, daß er das in zwei Tagen schaffen konnte.

»Aber wat and’res: wie heißt no’ ma’ der Holländer mit dem Kinderhandel?«

»Lowenstijn. Die Nummer müßte auf Norberts Schreibtisch liegen. Wieso?«

Eine Hand wasche die andere, meinte Ackermann. Wenn sie hier in Sachen Kinderhandel ermittelten, konnten Lowenstijns Leute sich doch mal die Werkstätten und Fahrzeughalter auf ihrer Seite der Grenze vornehmen. Heinrichs glaubte immer noch nicht, daß der Fahrer ein Holländer gewesen war, aber Ackermann versicherte ihm, das mit dem Glauben sei so eine Sache, auf die man sich im Ernstfall besser nicht verlassen sollte. Er beschloß, Lowenstijn nicht anzurufen, sondern gleich hinzufahren: So ein persönlicher Eindruck sei doch immer besser. Heinrichs behielt seine Zweifel für sich.

»Ach übr’ens«, grinste Ackermann im Hinausgehen, »ich schreib gern Berichte. Meine kanns’ du alle heute abend noch kriegen.«

Stanislaus Siegelkötter kam um die Mittagszeit und war sichtlich enttäuscht, nur Heinrichs vorzufinden. Ein großer Bahnhof wäre ihm für seinen Auftritt lieber gewesen. Heinrichs schlug ihm vor, doch um halb sechs noch einmal wiederzukommen, aber das war Herrn Siegelkötter zu spät, da war er schon mit dem Oberkreisdirektor zum Golfen verabredet.

Er machte es sich schließlich in seiner lackierten Art bequem und erzählte von den neuen »niederländischen Freunden«.

»Für uns ist das Schengener Abkommen schon vor der Unterzeichnung Realität geworden. Es ist für beide Seiten selbstverständlich, alle Karten offen auf den Tisch zu legen. Sie können sich vorstellen, wieviel mir das bedeutet, nicht wahr? Seit Jahren bemühe ich mich ja schon in den verschiedensten Gremien darum, die internationale polizeiliche Zusammenarbeit in Europa auf einen Standard zu bringen, der den Anforderungen unserer bewegten Zeiten gerecht wird.«

Heinrichs fragte vorsichtig, was das denn genau bedeute, und Stasi meinte näselnd, er habe zum Beispiel Einblick erhalten in die komplette Akte Kinderhandel und sie gründlichst studiert. »Sie können von mir jede Information bekommen, die Sie benötigen.«

Heinrichs rieb sich innerlich die Hände. Er konnte es sich nicht verkneifen und holte den dicken Ordner mit den Papieren, die Lowenstijn ihnen hatte zukommen lassen.

Siegelkötters Fassungslosigkeit war eine Augenweide. Mit gerunzelter Stirn blätterte er in der Akte herum. »Da fehlen doch aber wesentliche Fakten«, murmelte er.

»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte Heinrichs. »Ich bin froh, daß Sie die jetzt ergänzen können.«

»So auf die Schnelle geht das natürlich nicht«, entgegnete Stasi vorwurfsvoll.

»Sie können die Akte gern bis heute abend mitnehmen«, antwortete Heinrichs katzenfreundlich. »Haben Sie denn noch mehr Dinge erfahren, die für uns von Bedeutung sind?«

Es stellte sich heraus, daß Siegelkötter bei der Bergung von Rob de Boers Leiche dabeigewesen war und bei der bisher erfolglosen Tauchaktion nach dem zweiten Fahrer eine Weile zugeschaut hatte. Den Rest der Zeit hatte er mit »wichtigen Konferenzen und informellen Gesprächen« verbracht.

Heinrichs gab ihm einen kurzen Bericht über den aktuellen Stand ihrer Ermittlungen.

»Sehen Sie denn noch andere Verbindungen nach Deutschland?« fragte er dann. »Ich meine, könnten wir noch irgendwo anders ansetzen als bei der Liste vom Jugendamt?«

Er hatte seinen Spaß. Manchmal war es so einfach, den Alten abfahren zu lassen.

»Nein, aber ich werde gern noch einmal mit den zuständigen Herren sprechen«, bot Stasi an, schon halb an der Tür.

Heinrichs konnte es nicht lassen. »Ach übrigens, dürfte ich Sie an Ihren Bericht erinnern?«

»Bericht?«

»Selbstverständlich. Sie sind ermittelnd tätig, da brauche ich dann schon Ihren Bericht.«

»Von mir?«

»Ja.«

Siegelkötter ging einfach hinaus.

»Bis morgen zur Frühbesprechung, bitte«, rief Heinrichs ihm nach.

Na, darauf war er gespannt. Er fand Berichte immer äußerst aufschlußreich. Van Appeldorn zum Beispiel, der ja mit dem Mund weder besonders langsam noch besonders umständlich war, tat sich mit dem Schreiben schwer: seine Texte waren hölzern und gespickt mit schwerfälligen Formulierungen. Wann mochte Stasi wohl seinen letzten Bericht geschrieben haben?

Toppe mußte warten; die Schülerlotsen hatten die Straße gesperrt. Schon ein paarmal hatte er heute NIAG-Busse mit dem Aufkleber Schule hat begonnen gesehen. Die I-Dötzchen überquerten die Fahrbahn mit ihren krähbunten Ranzen auf dem Rücken, die doppelt so groß schienen wie die Kinder. An ihrer Seite strahlende Mütter – Erster Schultag – ein paar Väter auch. Das würde sich auch noch legen. Am ersten Schultag war er bei seinen Kindern auch dabeigewesen, hatte sich für das große Ereignis sogar den ganzen Tag freigenommen, aber später … Er war auf dem Weg zum nächsten adoptionswilligen Paar auf seiner Liste. Es war eine seltsame Erfahrung: natürlich waren die Leute alle verschieden in ihren Persönlichkeiten, aber sie ähnelten sich auch in so vieler Hinsicht. Sie waren alle im selben Alter, zwischen Ende Zwanzig und Anfang Dreißig, gut situiert mit geregeltem Einkommen. Die meisten hatten ein Eigenheim oder zumindest eine große Wohnung, und immer gab es einen freien Raum, der einmal das Kinderzimmer werden sollte. Die Beziehungen waren, zumindest auf den ersten und zweiten Blick, das, was man landläufig als »sehr glücklich« bezeichnete. Die Frauen hatten eine ähnliche Geschichte. Viele hatten schon jetzt ihren Beruf aufgegeben, um ganz für das Kind da zu sein, wenn es denn endlich so weit wäre, und die meisten von ihnen hatten jahrelang versucht, schwanger zu werden und waren auch jetzt noch vollkommen aufs Warten fixiert. Viele Paare hatten sich inzwischen an INTERKIDS oder andere private Adoptionsvermittlungen gewandt, und Toppe konnte mittlerweile auch verstehen, warum das so war. Beim Jugendamt betrug die Wartezeit für ein deutsches Baby fünf bis sieben Jahre, und in vielen Fällen dauerte es noch länger. Man konnte gut und gern vierzig sein, wenn man endlich eine Familie gründete. Da nahm man lieber die 10.000 Mark auf sich, die ein ausländisches Kind in der Regel kostete.

Bei dem letzten Paar, das er besucht hatte, war vor zwei Wochen der Nachwuchs angekommen: ein Baby aus Nordindien mit einer Haut wie Milchkaffee. Sie hatten von INTERKIDS die Adresse des Kinderheimes in Indien bekommen, waren hingeflogen und hatten das Baby abgeholt. Dann waren sie in ein Hotel gezogen und hatten dort eine Woche lang das Kind versorgt, bevor sie die Papiere bekommen hatten und das Kind mit nach Europa nehmen durften. So war es Vorschrift in Indien. Jetzt mußte das Ehepaar ein Jahr warten und währenddessen mit mehreren Überprüfungen rechnen, bis die deutsche Adoption unter Dach und Fach war. Bis dahin fungierte das Jugendamt als gesetzlicher Vertreter. Das Paar hatte Toppe die Geschichte sehr ausführlich erzählt, Berge von Bescheinigungen, Zeugnissen, Genehmigungen gezeigt – man merkte, daß die beiden überhaupt noch nichts verdaut hatten.

Als Toppe ins Präsidium zurückkam, hatte er sechs Paare besucht und war vollkommen leer. Er tippte seinen langweiligen Bericht, drückte ihn Heinrichs in die Hand und machte, daß er nach Hause kam.

Astrid lag auf dem Sofa und hatte gelesen. Sie sah immer noch blaß aus, aber es ging ihr wohl schon besser.

»Die Tropfen, die mir der Doktor gegeben hat, wirken prima. Ich habe sogar schon was gegessen.«

Toppe setzte sich zu ihr. Sie kuschelte sich mit dem Rücken in seine Arme. »Erzähl, was gibt’s Neues?«

»Später«, brummelte er.

»Ist es dir recht, wenn ich morgen vor der Arbeit eben bei dem Makler reinspringe?«

Die erste Schlafwelle überrollte ihn. »Du solltest noch gar nicht arbeiten.«

»Quatsch! Morgen bin ich wieder fit.«

Er döste leise weg.

»Toppe?«

»Hm?«

»Haben wir eigentlich Kondome im Haus?«

»Kondome? Wozu denn?«

»Na ja, bei Brechdurchfall ist die Pille nicht mehr sicher.«

»Du bist doch sowieso noch viel zu schlapp.«

»Das weiß ich eigentlich nicht so genau.«