22
Van Appeldorn kam um Viertel vor acht, als Jens Maywald gerade die Tür aufschloß.
»Schon wieder Kripo?« Es klang böse.
Van Appeldorn spazierte einfach an ihm vorbei ins Büro und sah sich neugierig um.
»Ja«, meinte er, »manchmal können wir ganz schöne Nervensägen sein. Es geht um Ihre Kartei. Ich fürchte, wir müssen sie uns mal für ein paar Tage ausleihen.«
Maywald setzte sich und wies mit der Hand auf den freien Stuhl vor seinem Schreibtisch, aber van Appeldorn blieb stehen.
»Ich habe Ihren Kollegen doch schon gesagt, daß wir den Datenschutz sehr ernst nehmen. Ohne ausdrückliche Einwilligung der Kunden gewähre ich niemandem Einblick in die Unterlagen. Was würden Sie denn sagen, wenn jeder einfach so in Ihrem intimsten Privatleben rumschnüffeln könnte?«
Van Appeldorn schlenderte zum Fenster hinüber und sah zur Schwanenburg hoch.
»Ich war eigentlich immer ein ganz guter Langstreckenläufer«, sagte er zu sich selbst. »Die Treppen zur Burg hoch, fünf Minuten für den Papierkram, dann wieder runter …« Er drehte sich um. »In neun Minuten könnte ich Ihnen eine richterliche Verfügung vorlegen.«
Maywald sprang auf. »Liebe Güte, Mann! Wenn es so wichtig ist, dann nehmen Sie den Krempel doch mit. Sonst heißt es nachher noch, wir hätten was zu verbergen.«
Er eilte zum Aktenschrank, zog eine Schublade heraus und sah sich suchend um. »Wo packe ich das denn jetzt rein?« murmelte er. Im Nebenzimmer fand er einen Karton. Van Appeldorn stand gegen die Wand gelehnt und beobachtete, wie Maywald die Papiere sorgfältig schichtete.
»Ich würde nur gern wissen, was Sie eigentlich suchen.«
»Tja«, grinste van Appeldorn und nahm den Karton an sich. »Wenn wir’s gefunden haben, sind Sie der erste, der es erfährt. Das kann ich Ihnen versprechen.« Damit verabschiedete er sich.
Maywald konnte seinen Zorn nicht mehr kontrollieren.
»Bringen Sie mir bloß die Ordnung nicht durcheinander«, brüllte er van Appeldorn nach. »Sonst werde ich mich über Sie beschweren. Da können Sie Gift drauf nehmen.«
Heinrichs gluckste zufrieden, als van Appeldorn zur Morgenbesprechung erschien. Bis auf Ackermann waren sie jetzt vollzählig.
»Ist das die Kartei? Prima, da weiß ich ja, was ich heute zu tun habe.«
Dann sah er sie alle der Reihe nach an. Sie kannten das Gesicht: ein bißchen verschmitzt, ein bißchen aufgeregt, wie ein Kind vor seiner Geburtstagstorte. Walter Heinrichs hatte eine Idee.
»Mir ist da was aufgefallen, wißt ihr? Dieser Maywald fungiert doch da manchmal als gesetzlicher Vertreter für die Pflegekinder, bis die Adoption durch ist. Ich habe zuerst gedacht, der macht das vielleicht für alle INTERKIDS-Kinder, aber dem ist nicht so. Er ist das nur bei den Zwillingen Schimmelpfennig, und er war es bei diesem Dennis Klein, den Norbert gestern besucht hat. Alle drei Kinder kommen aus Bulgarien. Es kann ja sein, daß ich spinne, aber irgendwie höre ich da die Glocken läuten. Jetzt habe ich eben noch mal mit der Frau Derksen vom Jugendamt telefoniert, und die sagt, das wäre schon ein bißchen ungewöhnlich. Eigentlich würde das Jugendamt sonst den gesetzlichen Vertreter machen, aber es könnte ja sein, daß die Eltern mit Maywald gut bekannt seien und sich das ausdrücklich gewünscht hätten.«
»Könnte sein«, meinte Toppe. »Weißt du, ob Schimmelpfennings mit Maywald befreundet sind?«
Astrid schüttelte den Kopf. »Danach habe ich nicht gefragt, aber den Eindruck hatte ich eigentlich nicht.«
»Ich bei den Kleins auch nicht«, sagte van Appeldorn.
»Gut.« Toppe faltete die Hände. »An INTERKIDS sind wir ja jetzt sowieso dran.«
»Da ist noch was«, fuhr Heinrichs fort. »Es hat zwar eigentlich nicht direkt was mit uns zu tun, aber interessant finde ich es trotzdem. In der MEILE, diesem Mutterverein von INTERKIDS, haben die wohl im Moment unheimlichen Zoff.
Letzten Samstag war so ein komischer Leserbrief in der Zeitung.« Er las Heiderose Jansens Epistel vor.
»Könnte ja irgendwas dran sein, oder? Das mit den Gewinnen von INTERKIDS, meine ich.«
»Am besten hätte ich wohl auch gleich deren ganze Buchführung mitgebracht«, meinte van Appeldorn.
»Ja, vielleicht sollten wir die Bücher wirklich prüfen. Heute steht übrigens eine Gegendarstellung von einer gewissen Frau Salzmann-Unkrig drin. Aber das ist nur hochnäsiges Geschwafel.«
Astrid und van Appeldorn machten sich auf den Weg, ihr heutiges Pensum an Familienbesuchen hinter sich zu bringen, nur Toppe blieb sitzen. Er mußte einfach mit jemandem über Christian reden, und Heinrichs war ein guter Zuhörer, das wußte er. Vor allem kam er einem nie mit irgendwelchen Patentrezepten oder überzogenem Mitleid. Auch heute hörte er erst mal aufmerksam zu.
»Ganz schön vertrackt«, meinte er dann. »Aber ich würde noch nicht in Panik geraten, Helmut. Das ist bestimmt bloß so eine Phase. Der Junge ist doch ein anständiger Kerl.« Er lachte leise. »Heute kann ich’s ja ruhig sagen: ich habe selbst zweimal eine Ehrenrunde an der Penne gedreht. Und in dem Alter so ab und zu mal was mitgehen lassen, mein Gott, das haben doch wohl die meisten von uns ausprobiert. Wie alt ist Christian jetzt?«
»Sechzehn.«
»Na, siehst du. Noch ein, zwei Jahre, dann hat der die Kurve gekriegt.«
»Fragt sich nur, in welche Richtung.«
»Ich würde vielleicht mal ein bißchen genauer hingucken, was der so für Freunde hat.«
»Damit fange ich gerade an.«
Es klopfte selbstbewußt, und Wim Lowenstijn kam herein: marineblaue Hose und Shirt, eine Wildlederjacke in russischgrün und Schuhe in derselben Farbe.
Toppe machte sich mit ihm bekannt, und sie tauschten sich eine halbe Stunde ganz freundschaftlich über die Kinderhandelsgeschichte aus, aber Toppe wurde das Gefühl nicht los, daß Lowenstijn irgendwas auf dem Herzen hatte. Als Heinrichs mit den Getränken aus der Kantine zurückkam, rückte er endlich damit heraus.
»Vermutlich habt ihr da wenig Einfluß, aber wenn ihr irgendwie könnt, dann pfeift schnell euren Alten zurück.«
Toppe und Heinrichs sahen sich an.
»Ja«, meinte Lowenstijn. »Der löst sonst noch den Dritten Weltkrieg aus. Ich meine, im Augenblick ist die Stimmung in meinem Land sowieso nicht besonders deutschfreundlich, und wenn ich diesen Siegelkötter erlebe, dann fange sogar ich an, das zu verstehen. Typ Herrenrasse.«
Heinrichs schüttelte den Kopf. »Mir hat er die ganze Zeit mit seinen neuen holländischen Freunden in den Ohren gelegen.«
Lowenstijn lachte hart. »Untermenschen! Der behandelt uns alle, als wären wir dämliche Lakaien. Wohl gemerkt, immer mit Contenance, immer sehr korrekt. Gestern hat er meine ganze Truppe zu sich nach Hause zum Essen geladen. Was für eine spleenige Idee! Keiner von uns hatte Lust dazu, aber man bemüht sich ja, nicht wahr? Nun, ein paar von meinen Jungs sind, wie heißt das so schön? Einfache Leute. Das wird ja bei euch nicht anders sein. Es war ganz erlesen, große Tafel, fünf Gänge, der Koch servierte selbst, und Frau Siegelkötter, Agnes heißt sie übrigens, zelebrierte ihre Rolle als Dame des Hauses. Es gab drei verschiedene Weine und sogar zwei Sorten Wasser. Irgendwann fragte einer meiner Kollegen sehr höflich nach einem kalten Bier. Frau Agnes sprintete sofort in die Küche, aber nicht ohne ihrem Mann vorher noch etwas zuzuflüstern.
Und leider war ich nicht der einzige, der es gehört hat.«
Kunstpause. Toppe ließ sie gespannt stehen. »Zu Hause fressen die den Kitt aus den Fensterrahmen, aber hier wollen sie Ansprüche stellen.«
Heinrichs schnappte nach Luft.
»Und?« fragte Toppe. »Was hat Siegelkötter gesagt?«
»Nichts«, antwortete Lowenstijn. »Er hat genickt. Aber diese Geschichte ist eigentlich nur die Krönung einer langen Reihe von Scheußlichkeiten.«
Toppe arbeitete viel länger, als er es vorgehabt hatte. Er wollte endlich mit dieser Liste fertig werden. Als die letzte Haustür sich hinter ihm schloß, war es schon nach neun und zu spät, ins Präsidium zu fahren.
Astrid war nicht zu Hause. Auf dem Fußboden im Flur lag ein großer Zettel: Meine Eltern haben mich zum Essen eingeladen. Schlaf bloß nicht ohne mich ein. A.
Er schickte ihr in Gedanken eine Umarmung. Sie versuchte immer noch einen komplizierten Seiltanzakt. Ihre Eltern, alter Klever Geldadel, fanden, Toppe sei wohl kaum die rechte Partie für ihre einzige Tochter; zu alt, zu wenig an den Füßen. Seit Astrid bei ihnen aus- und bei ihm eingezogen war, hatte es ein paar unschöne Szenen und Brüche gegeben, aber Astrid ließ sich nicht beirren. Sie ging den Weg, den sie für den richtigen hielt, und versuchte gleichzeitig, ihren Eltern klar zu machen, daß sie sie trotzdem gern hatte.
Er machte sich Salami- und Käsebrote und setzte sich vor den Fernseher. Gegen halb elf schlief er ein. Das Telefon riß ihn aus einem wirren Traum von einem Freßgelage, bei dem Agnes Siegelkötter einen Schleiertanz aufführte.
Es war Gabi. »Helmut, ich habe einen entsetzlichen Krach mit Christian gehabt, und er ist dann einfach abgehauen. Jetzt ist er schon seit fünf Stunden weg.«
»Wie spät ist es?« fragte er, Watte im Mund.
»Gleich halb eins.«
»Ich komme.«
Er ging ins Bad, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und putzte die Zähne. Dann schrieb er eine Nachricht, legte sie in den Flur: Christian ist offenbar abgehauen. Bin bei Gabi. Melde mich. T.
Die paar Schritte konnte er zu Fuß gehen.
Gabi wartete in der Haustür. »Gott, bin ich froh, daß du da bist!«
Er nahm ihre Hand.
»Was sollen wir bloß tun?«
»Hast du bei seinen Freunden angerufen?« fragte er und schob sie ins Wohnzimmer.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wen ich alles angerufen habe! Meinst du nicht, wir sollten die Polizei …«
Er mußte nicht antworten.
»Du meinst einfach warten?«
»Ja. Hast du noch was von dem Whisky?«
Sie holte die Flasche und zwei Gläser. Als sie ein wenig zitterig eingoß, hörten sie beide den Schlüssel im Haustürschloß. Sie warteten. Christian kam, blieb im Türrahmen stehen, starrte seinen Vater an. Er sah todmüde aus.
»Kann ich was sagen?« fragte er leise.
Toppe klopfte wortlos auf den Platz neben ihm.
Was Christian zu sagen hatte, war wenig bemerkenswert. »Ich habe Mist gebaut, ich habe nachgedacht. Es kommt nicht wieder vor, okay?«
»Wo warst du die halbe Nacht?« fragte Gabi aufgelöst.
»Ich bin bloß rumgelaufen und hab nachgedacht.«
»Bis ein Uhr nachts?«
»Tut mir leid. Ich sag doch, kommt nicht wieder vor. Kann ich jetzt ins Bett?«
»Nein«, erwiderte Toppe und trank den Schnaps in einem Zug, »kannst du nicht. Ich will das nicht noch ein einziges Mal erleben, sonst …« Christian sah ihn nicht mehr an.
»Ach, vergiß es! Morgen ist Samstag. Da haben wir Zeit, in Ruhe miteinander zu reden. Einverstanden?«
Der Junge nickte und verschwand wie der Blitz.
Gabi weinte jetzt doch. Er nahm sie in die Arme und war verwirrt über das, was er fühlte.
»Ich will hier weg«, schnaufte sie. »Seit wir in dieses verfluchte Haus gezogen sind, ist alles schief gegangen.«
Toppe lächelte. »Ich wußte gar nicht, daß du abergläubisch bist.«
»Ich meine es ernst. Das Haus ist viel zu groß, keiner fühlt sich hier wohl, meine Mutter geht aus und ein, wie es ihr paßt, und macht mich fertig. Ich will mich einfach nicht mehr nach allen Seiten hin aufreiben.«
»Du meinst, wir sollen es verkaufen?«
»Das wäre doch am vernünftigsten. Wir hätten auch beide mehr Geld, wenn wir die Belastung los sind.«
An den Gedanken mußte er sich erst gewöhnen. Sie löste sich aus seinen Armen und ging ins Bad. Er trank noch ein Glas.
»Wollen wir nicht schlafen gehen?« Sie hatte sich ausgezogen, nur einen Bademantel an.
Er sagte nichts, schaute nur.
»Ja«, meinte er dann und ging zur Tür. Sie hielt ihn am Arm fest und küßte ihn. Er zögerte, faßte dann fest ihre Taille, spürte ihre unruhige Zungenspitze. Als er sie losließ, waren sie beide außer Atem.
Astrid hatte wohl auf ihn warten wollen – das kleine Licht im Schlafzimmer brannte noch, aber sie schlief.
Unter dem dünnen Laken war sie nackt. Hastig zog er sich aus und legte sich neben sie. Seine Hand glitt über ihre Brüste, ihren Bauch hinunter. Er fing an, sie langsam zu streicheln. Sie blinzelte, schloß aber sofort wieder genüßlich die Augen und stöhnte leise. Ihre Hand fand den Weg mit blinder Sicherheit. Toppe keuchte.
»Es ist gefährlich, das weißt du«, sagte sie mit halber Stimme.
Er war wahnsinnig erregt, hielt ihre Hand fest. »Genau das macht mich an«, flüsterte er und schob sich über sie. Ihre Augen glänzten. »Vielleicht machen wir jetzt ein Kind«, raunte er, als er in sie glitt.