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Walter Heinrichs weinte.
Die Kollegen von der Schutzpolizei hatten das K 1 sofort per Funk verständigt, und so war die Nachricht von Breiteneggers Tod gerade in dem Moment gekommen, als sie für heute Feierabend machen wollten.
Van Appeldorn fuhr schnell. Seine Lippen waren schmal, sein Gesicht noch magerer als sonst. Es fiel ihm nicht leicht, Gefühle zu zeigen. Er war neununddreißig Jahre alt, verheiratet, hatte zwei Kinder, aber er wirkte eher wie ein Junggeselle mit seinem Kegelklub, den Kneipenabenden und dem Altherrenfußball. Er war lang, schlaksig, schaffte es, immer ein wenig gelangweilt auszusehen, und hatte eine schnodderige Art, besonders Frauen gegenüber, womit er sich nicht selten Schwierigkeiten einhandelte. Doch es gab auch eine andere Seite: den Erziehungsurlaub für die jüngste Tochter hatte er sich mit seiner Frau geteilt, und in seiner Freizeit half er in ihrem Laden mit, aber das wußten nicht einmal seine Kollegen. Über Privates sprach er selten, und Probleme machte Norbert van Appeldorn mit sich selbst ab.
Heinrichs war da ganz anders: ein später Vater von fünf Kindern, dick und agil, woran auch der Herzinfarkt vor drei Jahren nichts geändert hatte; ein liebenswerter Chaot, voller phantastischer Ideen, die er gern aller Welt mitteilte. Er war mit Leib und Seele bei seiner Arbeit und hatte schon als Kind davon geträumt, einer der großen Detektive zu werden.
Es war Breiteneggers Verdienst, daß diese Leute miteinander auskamen. Nicht nur Heinrichs und van Appeldorn, auch Helmut Toppe, der Leiter der Mordkommission, introvertiert und eckig, der sich mit persönlichen Problemen rumschlug, seitdem die junge Kollegin Astrid Steendijk bei ihnen arbeitete und Toppes bis dahin augenscheinlich so wohlgeordnetes Privatleben auf den Kopf gestellt hatte.
Günther Breiteneggers väterliche, ausgleichende Art hatte ihnen geholfen, ein Team zu werden, und mittlerweile kamen sie meistens recht gut mit den jeweiligen Macken der anderen klar.
Die Kollegen hatten den Kartenspielerweg gleich an der Einmündung abgesperrt. Neben dem Streifenwagen stand Flintrop und versuchte, die Schaulustigen abzuwimmeln. Es gab einiges zu sehen auf der schmalen Straße: einen Notarztwagen, den roten Transit vom Erkennungsdienst, einen Mercedestransporter und einen Leichenwagen. Eine bizarre Szenerie mit dem dichten, dunklen Wald rechts und links. Ein zweiter Streifenwagen blockierte die Straße Richtung Grafwegen. Leute gingen herum oder standen beisammen, uniformierte Polizisten, Sanitäter, jemand mit einem Mofa, Männer in dunklen Anzügen. Ein Arzt verband einem Polizisten den Arm.
Mitten auf der Straße lag ein Mensch.
Nur das durchdringende Heulen eines Hundes war zu hören.
Franz-Josef hatte niemanden an sein Herrchen heranlassen wollen. Schließlich hatte einer der Polizisten beherzt zugegriffen und auch nicht losgelassen, als der Hund sich in seinen Unterarm verbiß. Jetzt saß das Tier im Streifenwagen, aber es gab keine Ruhe.
Die beiden Männer vom Bestattungsunternehmen zogen gerade einen Sarg aus ihrem Auto.
Flintrop nickte bitter, als er van Appeldorn und Heinrichs aussteigen sah, und kam auf sie zu.
»Ich kann es auch noch nicht glauben«, sagte er. Seine Stimme war trocken. »Sieht aus wie Unfall mit Fahrerflucht.«
»Wer hat euch benachrichtigt?« fragte van Appeldorn.
Flintrop zeigte auf den Mofafahrer.
Heinrichs wandte sich ab und ging langsam die Straße hinunter. Er sah van Gemmern im Dreck knien, und Berns, der andere ED – Mann, hockte neben dem Transporter und prüfte das Reifenprofil.
Breitenegger lag auf dem Rücken; seine Augen waren geschlossen.
Lange stand Heinrichs mit hängenden Armen vor ihm und sah ihn an. Alle waren still.
Schließlich wischte er sich mit dem Handrücken die Tränen ab. Berns berührte ihn an der Schulter. Heinrichs schüttelte den Kopf. »Ich habe mit ihm zusammen hier angefangen, vor fuffzehn Jahren …«
»Ja, ich weiß«, nickte Berns leise. So war er selten; normalerweise bollerte er herum, verteufelte seine Arbeit und Gott und die Welt.
Van Gemmern stand auf und klopfte sich den Staub von den Hosenbeinen. Trotz der Hitze war er wie immer ganz in Schwarz.
»Und?« fragte er. »Paßt das Profil vom Transporter?«
Berns zuckte die Achseln. »Kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Wir lassen ihn einschleppen.«
Van Gemmern setzte zu einer Erwiderung an, aber Berns winkte ab. »Hat Flintrop alles längst mit den Jungs in Holland geklärt.«
Der Wagen gehörte der Firma de Witt Fietsen in Nijmegen. Halter war ein Frans de Witt. Weder gegen die Firma noch gegen den Inhaber lag bei der Polizei irgendwas vor.
»Der Mann ist bloß leider nicht aufzutreiben«, erklärte Berns. »Und guck dir die Karre an, alle Türen offen. Ist überhaupt kein Problem, die zwecks Eigentumssicherung abholen zu lassen.«
»Aber wenn du dir die Spuren auf der Straße genau anguckst, dann kann der Wagen eigentlich nicht.«
»Ist mir kackegal«, schnauzte Berns.
Die Bestatter stellten den Sarg neben dem Toten ab und sahen Heinrichs unschlüssig an.
Er stieß mit einem harten Geräusch die Luft aus und drehte sich weg.
Van Appeldorn stand bei dem Mofafahrer. Der Notarzt wartete neben dem Streifenwagen. Heinrichs ging zu ihm hinüber und stellte sich vor.
»Es tut mir leid«, sagte der Arzt. »Ich kannte Ihren Kollegen; wir hatten schon ein paarmal miteinander zu tun. War ein netter Mann.« Als Heinrichs nicht antwortete, fuhr er fort: »Ich vermute, das Fahrzeug hat ihn von hinten erwischt. Er hat Prellmarken an den Unterschenkeln. Offenbar ist er hochgeschleudert worden und dann mit dem Schädel aufgeschlagen. Jedenfalls hat er einen Genickbruch. Er muß sofort tot gewesen sein.«
Heinrichs wollte nichts mehr hören. Seine Zunge fühlte sich an wie Gummi, und der zähe Speichel schmeckte bitter.
»Danke fürs erste. Schreiben Sie uns einen Bericht?«
»Natürlich. Der liegt morgen bei Ihnen auf dem Schreibtisch.«
»Kann nicht endlich mal einer den verdammten Köter abstellen?« brüllte Berns, aber keiner schien ihn zu hören.
Heinrichs kannte den Hund gut. Franz-Josef war das Kind im Hause Breitenegger, und wenn seine Frau nicht daheim war, hatte Günther Breitenegger das Tier öfter mit ins Präsidium gebracht. Einmal war er deswegen sogar vom Alten abgemahnt worden, aber das hatte ihn nur wenig gekratzt. Man konnte nicht behaupten, daß Franz-Josef für alle immer nur ein Quell der Freude gewesen war. Heinrichs dachte daran, wie das Viech ihm einmal auf den Beifahrersitz seines neuen Autos gepinkelt hatte.
Er öffnete langsam die Autotür und redete leise auf das Tier ein. Es sah ihn an und winselte. Vorsichtig streckte Heinrichs die Hand aus. Der Hund ließ sich anfassen, aber immer wenn Heinrichs mit dem Streicheln aufhörte, fing er sofort wieder an zu heulen.
»Hörst du mal?« Van Appeldorn stand plötzlich hinter ihm, den aufgeschlagenen Notizblock in der Hand. Sein Gesicht sah aus wie immer.
»Der Mofafahrer heißt Hermann Opgenoorth«, berichtete er. »Er ist Maurer, wohnt in Grafwegen und war auf dem Heimweg von der Arbeit. Sah Günther hier liegen, hat aber sonst nichts beobachtet. Ihm ist kein Fahrzeug entgegengekommen, und im holländischen Wagen war auch keiner. Er ist dann zum nächsten Haus zurückgefahren – die Adresse hab ich hier – und hat von da aus den Notarzt angerufen.«
»Und wer hat die grünen Kollegen verständigt?«
»Der Notarzt.«
»Dann ist der Unfall schon eine ganze Weile her.«
»Der Mann meint, es müßte so Viertel nach sechs gewesen sein, als er Günther gefunden hat. Aber das kriegen wir noch genauer, wenn uns die Leitstelle sagt, wann die Anrufe eingegangen sind.«
Heinrichs biß sich auf die Unterlippe. »Er kann aber doch schon ewig da gelegen haben, oder? Hier ist doch kaum Verkehr.«
»Ach doch, ist eine beliebte private Trainingsstrecke für Fahrschüler und der direkte Weg über die Grüne Grenze nach Holland.«
Auch Heinrichs sah zum Transporter hinüber.
»Der Mofamensch ist übrigens ziemlich blau«, sagte van Appeldorn leise, »aber ich dachte, unter diesen Umständen.«
Heinrichs stutzte, nickte dann aber. »Laß ihn nach Hause fahren.« Er zog sein feuchtes Taschentuch aus der Hose und fuhr sich ein paarmal damit über den Nacken. »Hat schon jemand mit Günthers Frau gesprochen?«
Van Appeldorn sah ihn unbehaglich an. »Noch nicht. Ich dachte, ich meine, du kennst sie am besten.«
Heinrichs seufzte. »Kommst du mit?«
»Okay. Was wird mit dem Hund?«
»Den müssen wir wohl mitnehmen.« Er beugte sich in den Wagen und nahm die Leine. »Komm Franzi, komm, wir gehen zu Frauchen.« Der Hund wurde still und sah ihn aufmerksam an. »Zu Frauchen«, wiederholte Heinrichs und ruckte fragend an der Leine. Das Tier folgte sofort und trippelte neben Heinrichs her auf die Absperrung zu.
Ein blauer BMW bog zügig in den Kartenspielerweg ein und kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Flintrop setzte hastig seine Dienstmütze auf und winkte abweisend mit beiden Händen. Der Fahrer kurbelte die Scheibe runter. »Ist da was passiert?«
Aufmerksam betrachtete er die Autos und das Gewimmel der Leute und schrabbte sich mit den Fingernägeln durch seinen dicken Bart. »Ich muß unbedingt nach Grafwegen.«
Flintrop legte seine Rechte auf das Autodach und beugte sich hinunter. »Da müssen Sie leider über Kranenburg fahren.«
»Sieht schlimm aus.« Der Mann deutete auf den Leichenwagen. »Daß diese Holländer auch immer so rasen müssen.«
»Nee, nee«, meinte Flintrop. »Der Holländer da hat wohl nix damit zu tun.«
Heinrichs versuchte, den Hund dazu zu bewegen, in van Appeldorns Auto zu springen, aber Franz-Josef sah ihn nur traurig an. Schließlich hob Heinrichs ihn auf und setzte ihn auf die Rückbank.
Van Appeldorn kam im Laufschritt. Sein khakifarbenes Hemd war am Rücken und unter den Achseln dunkel vom Schweiß.
»Hast du Helmuts Urlaubsadresse?« fragte er, als er den Motor anließ.
»Nur eine Telefonnummer. Liegt auf meinem Schreibtisch. Kannst du französisch?«
»Dafür wird’s reichen.«