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Ackermann war schon im Büro, als die anderen kamen, schaute sie grimmig an. So kannte ihn keiner.

»Hab die ganze Nacht kein Auge zugekricht, bloß gegrübelt. Montach is’ mein Urlaub vorbei.«

»Ja und?« Van Appeldorn verstand nicht. »Meiner doch auch.«

Aber Ackermann hörte sowieso nicht hin. Er sah Toppe an. »Ich hab gesacht, ich find den Kerl, der Günther auf dem Gewissen hat, und wat hab ich gefunden? ’n Scheiß Kinderhändler! Der interessiert mich doch ga’ nich’. Aber diese Nacht sind mir so ’n paar Sachen eingefallen, wo ich noch suchen könnt. Wenn ich also freie Hand hab, Chef.«

Toppe nickte. »Sicher, aber was …?«

»Nix! Da sach ich noch nix drüber. Nachher heißt et bloß wieder: der spinnt doch, der Ackermann. Aber da war noch wat.« Er druckste rum, sah richtig unglücklich aus.

»Ich muß dat jetz’ einfach von euch wissen. Ich hätt’ gern die Stelle von Günther hier bei euch un’ wollt mich bewerben. Meint ihr, dat is’ pietätlos?«

Bis auf Toppe sahen alle ganz schön entgeistert aus. Ackermann hechtete zur Tür. »Könnter ja ma’ drüber nachdenken.«

»Nur über meine Leiche«, sagte van Appeldorn mit brechender Stimme, aber das hörte Ackermann schon nicht mehr.

Lowenstijn kam mit einem Assistenten. Auch heute trug der Holländer einen teuren Leinenanzug mit Weste, diesmal matt rosenholzfarben. Was für ein Schnulli, dachte Astrid, mußte aber ihr Urteil revidieren, als sie ihm eine Weile zugehört und beobachtet hatte, wie er mit den anderen umging. Ein spannender Mann mit wahnsinnig schönen Händen und einem empfindsamen Mund. Er betrachtete sie interessiert, und ihm schien zu gefallen, was er sah. Aber da war kein Geifer in seinem Blick. Er schaute ihr in die Augen und lächelte amüsiert, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Sie lächelte zurück. Noch hatten sie kein Wort miteinander gewechselt.

Toppe runzelte ärgerlich die Stirn. »Es sind eindeutig ein paar Leute zuviel hier«, sagte er rauh. »Wir können in dieser Horde unmöglich eine vernünftige Vernehmung durchführen. Maywald kommt mit seinem Anwalt.« Er sah auf die Uhr. »Der ist schon seit einer Stunde bei ihm. Ich würde vorschlagen, Norbert, Lowenstijn und ich. Das ist mehr als genug. Die anderen blieben hier und können – was weiß ich – Däumchen drehen.«

Heinrichs grinste, wohlweislich hinter vorgehaltener Hand.

Jens Maywald sah ziemlich mitgenommen aus; er hatte wohl nicht allzu viel geschlafen. Sein Anwalt, ein älterer Herr mit glatten, weißen Haaren, kam aus Krefeld, und sie kannten ihn nicht. Offensichtlich hatte er seinem Mandanten geraten, kooperativ zu sein, denn Maywald fing von sich aus an zu erzählen: er habe eine Frau und eine kleine Tochter; seine Familie sei der Mittelpunkt seines Lebens und bedeute ihm alles. Vor zehn Jahren habe er sein Haus gebaut. Die Hypothek sei recht hoch, und es wäre nicht immer ganz leicht gewesen, sie allmonatlich zu zahlen von dem, was die Versicherungsagentur abwarf. Deshalb habe er sich auf eine vielversprechende Immobiliengeschichte eingelassen, bei der er betrogen worden sei. Jetzt habe er einen Berg Schulden, und das Schlimmste sei, daß seine Frau von all dem keine Ahnung habe. So sei er schließlich auf die Idee gekommen, unter der Hand Kinder zu vermitteln. Das wolle er gar nicht leugnen. Er lehnte es aber rundweg ab, irgend etwas mit den Holländern oder gar mit den toten Babies zu tun zu haben. Sein einziger Kontakt sei ein Waisenhaus in Sofia – die Adresse habe er der Polizei schon gegeben – und die Kinder habe er, wie gesagt, persönlich am Flughafen in Empfang genommen.

Damit lehnte er sich zurück. Sein Anwalt hatte noch keinen Ton von sich gegeben. Er blätterte in Papieren und schien desinteressiert.

Van Appeldorn schob Lowenstijn einen Zettel rüber: Noch keine Antwort von Interpol zu Waisenhaus Sofia.

Lowenstijn nickte. »Da brauchst du nicht mehr drauf zu warten«, meinte er. »Wir kennen dieses ’Institut’. Unsere Organisation in Holland hat ein Großteil der Kinder von dort bezogen. Es ist ein katholisches Heim, das von Nonnen geleitet wird. Die vermitteln überhaupt keine Adoptionen ins Ausland. Allerdings sind die heiligen Schwestern bereit, ab und zu mal Kinder zeitweise in Pflege zu nehmen. Zum Beispiel Säuglinge, deren Mütter bei der Geburt gestorben sind und die auf eine Vermittlung in eine Pflegefamilie warten. Eine gelegentliche Spende für wohltätige Zwecke hat auch lange Zeit dafür gesorgt, daß die ehrwürdigen Damen dabei sehr verschwiegen waren. Es war nicht ganz einfach für uns, die Namen der Gynäkologen in Erfahrung zu bringen, in deren Kliniken so erstaunlich viele Frauen bei Geburten sterben.« Lowenstijn hatte ganz allgemein in die Runde gesprochen, aber jetzt sah er Maywald direkt ins Gesicht. »So, und jetzt wollen wir mal diese kleine Komödie beenden. Sie bereitet mir nämlich Übelkeit.«

Er holte eine rehbraune Brieftasche aus der Jacke und entnahm ihr zwei Fotos. Sie zeigten den toten Rob de Boer, nachdem man ihn aus der Amsterdamer Gracht gefischt hatte, und waren alles andere als appetitlich.

»Das ist Ihr Kontaktmann.«

Maywald starrte auf die Fotos und schüttelte heftig den Kopf. »Den Mann kenne ich nicht.« Seine Stimme klang gepreßt.

Lowenstijn machte ein betrübtes Gesicht. »Das ist schade«, sagte er leise, »schade für Sie, meine ich. Ich habe Sie tatsächlich für klüger gehalten. Aber offenbar kapieren Sie wirklich nicht, mit wem Sie es zu tun haben. Das ist eine internationale Organisation, Herr Maywald!«

Dann lächelte er sanft. »Haben Sie hier in Kleve nicht auch einen Kanal und sogar einen kleinen, romantischen Fluß?«

Maywald schaute den Anwalt an.

»Es reicht!« Van Appeldorn ließ seine Faust auf den Tisch fallen. »Jetzt beantworten Sie mir mal folgende Frage: was hatten Sie am 29. 7. gegen 19.30 Uhr am Kartenspielerweg verloren?«

»Am 29. 7.? Was war das denn für ein Tag?« stammelte Maywald.

Van Appeldorn blitzte ihn wütend an. »Hör endlich auf mit dieser Schau!« knurrte er. »Wir haben dich sowieso. Du warst nämlich so dämlich, dich bei dem Kollegen an der Absperrung auch noch zu erkundigen, was da eigentlich passiert sei. Und da stand der Laster mit den toten Kindern noch da, und Breiteneggers Leiche lag direkt daneben.«

Maywald verzog den Mund. »Ja.« Er sah aus, als würde er anfangen zu heulen.

Endlich, dachte Toppe. Der Mann hatte sich verdammt lange gehalten, dabei hatte er doch schon mürbe ausgesehen, als er kam.

»Ja, ich habe die bulgarischen Kinder über Holland bekommen, der Rothaarige hat sie mir gebracht. Seinen Namen kannte ich aber nicht.« Es klang trotzig.

»Dann schildern Sie uns jetzt einmal ganz genau, wie das am Freitag, dem 29. Juli gewesen ist«, forderte Toppe ihn bedächtig auf.

Maywald sprudelte nur so los. »Ich sollte die beiden Kinder um 17 Uhr in Empfang nehmen, und zwar auf dem Parkplatz an der Ecke Klever Ring/Uedemer Straße. Der Rothaarige sollte mich über sein Handy anrufen, wenn er in der Nähe von Kleve war, denn auf die Minute pünktlich war er selten, und keiner von uns wollte zu lange auf dem Parkplatz rumstehen. Dann sollte ich die Kinder zu ihren Adoptiveltern bringen. Ich war ziemlich knapp mit der Zeit, weil ich um 18.30 Uhr noch einen wichtigen Termin hatte.«

»Was für einen Termin?«

»Ein Kunde wollte eine Lebensversicherung abschließen, und die Provision konnte ich mir auf gar keinen Fall entgehen lassen. Außerdem mußte ich abends noch auf die Versammlung von der MEILE.«

»Weiter.«

»Ich habe also gewartet, aber der Rote meldete sich nicht. Erst gegen Viertel vor sechs. Er hätte eine Panne und läge auf dem Kartenspielerweg fest. Ich habe gesagt, okay, dann nehme ich die Kinder eben dort in Empfang. Er sollte warten, ich hätte noch einen Termin, aber es würde nicht lange dauern. Er war auch einverstanden. Ja, und als ich schließlich ankam, war die Straße gesperrt und … ach, das wissen Sie ja selbst.«

»Haben Sie den Versicherungsvertrag noch abgeschlossen?« fragte Toppe.

»Ja.«

»Name und Adresse.«

»Manfred Thelosen, Monte Bello. Die Hausnummer weiß ich nicht aus dem Kopf.«

»Das reicht auch so.« Toppe ging ins Büro hinüber, um die Angaben zu überprüfen.

Jetzt übernahm Lowenstijn wieder. »Was haben Sie gemacht, nachdem Sie vom Kartenspielerweg weggefahren sind? Haben Sie mit jemandem Kontakt aufgenommen?«

»Ja, ich habe sofort telefoniert«, nickte Maywald. »Ich hatte doch keine Ahnung, was eigentlich los war.«

»Mit wem?«

»Ich weiß nicht. Ich habe nur eine Telefonnummer, keine Namen.« Er zog seinen Taschenkalender hervor und schlug die Seiten mit den Adressen auf. »Hier.«

Lowenstijn sah zufrieden aus. »Amsterdamer Vorwahl, schön. Haben Sie jemanden erreicht?«

»Ja, die Frau, mit der ich auch sonst immer gesprochen habe. Ich habe ihr gesagt, was ich gesehen und gehört hatte, das bißchen, was ich wußte. Sie meinte, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich würde die Kinder so schnell wie möglich bekommen. Sie würde sich wieder melden.«

Lowenstijn schwieg, und Maywald sah ihn nervös an.

»Ach ja«, sagte er hastig, »ich habe später noch mal bei denen angerufen, weil ich nichts mehr gehört habe. Jeden Tag eigentlich, aber da ist keiner mehr ans Telefon gegangen.«

Toppe kam wieder rein, nickte van Appeldorn und Lowenstijn zu – Manfred Thelosen hatte Maywalds Angaben bestätigt.

»Ihre Geschichte hört sich wirklich rührend an, Herr Maywald«, meinte van Appeldorn, samtweiche Stimme. »Komisch, daß mir so häßliche Sachen einfallen wie unterlassene Hilfeleistung und fahrlässige Tötung. Den beiden Kindern ging es nämlich schon um 17 Uhr sehr schlecht, wenn sie nicht sogar schon tot waren. Und Sie wollen uns weismachen, daß de Boer Ihnen das am Telefon nicht gesagt hat?«

»Nein! Ja …« Maywald schwitzte. »Ich meine, er hat kein Wort von den Kindern gesagt.«

»Ach komm, Maywald, wer soll dir das wohl glauben?«

Der Anwalt hob kritisch die Augenbrauen, als van Appeldorn sich schon zum zweiten Mal im Ton vergriff.

Van Appeldorn registrierte es gelassen. »Haben Sie eigentlich einen Zeugen dafür, daß de Boer Sie tatsächlich um Viertel vor sechs angerufen hat? Vielleicht hat er ja schon viel früher angerufen, und Sie waren sogar dabei, als die Kinder starben.«

Natürlich war es Toppe klar, daß van Appeldorn ziemlich blind in die Gegend schoß – sie wußten ja, daß de Boer um 17.45 Uhr mit Kleve, vermutlich also Maywald, telefoniert hatte – aber auch er hatte die Nase voll von dem Kerl.

»Und als unser Kollege Breitenegger Sie und die Holländer dort beobachtet«, spann Toppe den Faden weiter, »die toten Kinder sieht, da überfahren Sie ihn kurzerhand.«

»Was?!« Maywald fiel nichts mehr ein.

Wieder wurde ein Zettel geschoben. Van Appeldorn schrieb: Er fährt einen blauen BMW.

Jetzt hatte Maywald seine Sprache wiedergefunden:

»Das ist doch alles Quatsch! Wenn ich gewußt hätte, daß die Kinder tot sind, oder wenn ich sogar Ihren Polizisten umgefahren hätte, warum sollte ich dann um halb acht noch mal wiederkommen?«

»Dafür gibt es ein paar durchaus einleuchtende Erklärungen«, lächelte van Appeldorn. »Soll ich die Ihnen vorkauen, oder kommen Sie von selbst drauf?«

Der Anwalt befand offensichtlich, jetzt sei der richtige Zeitpunkt gekommen, sich einzuschalten. »Meine Herren, Ihre Phantasie in allen Ehren, aber ich muß Sie doch wohl nicht darauf hinweisen, daß Sie damit keinen Haftrichter der zivilisierten Welt überzeugen können. Oder gibt es Fakten, die Sie mir bisher vorenthalten haben?«

»Nein«, entgegnete Toppe, so beherrscht wie möglich.

Lowenstijn wollte wissen, wie Maywald an den holländischen Kontakt gekommen war, mit wem er gesprochen, wen er getroffen hatte. Maywald gab sein Wissen nur bröckchenweise von sich, und es zog sich wie Kaugummi. Toppe und van Appeldorn sahen sich an und standen auf. Im Moment gab es für sie hier nichts mehr zu tun. Aus der Sache mit dem Kinderhandel waren sie wohl erst einmal raus.

Auf dem Flur hielt Toppe van Appeldorn am Ärmel fest.

»Was wird jetzt aus den Kindern?«

»Welche Kinder meinst du?«

»Die Zwillinge und den kleinen Jungen, bei dem du warst.

Wenn sich jetzt rausstellt, daß deren Papiere gefälscht sind, dann sind die doch illegal hier, oder?«

»Mensch, ja, die werden abgeschoben!«

»Eben.«